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Erstes Buch

Werden und Wachsen

 

1. Wurzelboden und Stammbaum

Heilige rote Erde, bergumkränzte westfälische Ebene, Land rastloser Arbeit und zähen Willens, Heimat meiner Vorfahren, seit meiner Kindheit habe ich dich als Wurzelboden meines Wesens empfunden; in allen Jahrzehnten meines Lebens bin ich, Freundschaft suchend und findend, zu dir zurückgekehrt; heute noch fühle ich mich mit dir kaum minder verwachsen als mit den Gestaden des ab- und aufflutenden Stromes, an dem ich geboren bin.

Wir Hamburger lieben unsere prächtige, weithin blickende und handelnde Vaterstadt, die sich schaffensfroh und genießensfreudig so lockend an der Elbe und der Alster ausbreitet, wie alle guten Menschen die ihre lieben; und wir haben auch alle Ursache, mindestens so stolz auf sie zu sein, wie andere auf die ihre. Wehen um ihre schlanken hohen Türme nicht die Wolken des Himmels? Dehnt sich an ihrer Seite nicht der mastenreichste Hafen des Festlandes? Rauschen ihr die zu ihren Füßen bei steigender Flut zurückrollenden Wellen nicht Grüße vom Weltmeer zu? Und hat Hamburg nicht redlich mit geschaffen an der Gestaltung des Geisteslebens, in dem wir heute noch atmen? Ist es nicht die Stadt Klopstocks, Matthias Claudius' und zum Teil auch Lessings, die der deutschen Sprache die Zunge gelöst haben? Ist es nicht die Stadt Konrad Ekhofs und Ludwig Schröders, die dem deutschen Theater Natur und Weihe verliehen? Ist es nicht die Stadt Philipp Otto Runges, der der deutschen Malerei neue Wege gewiesen, nicht die Vaterstadt Johannes Brahms', der die große Kunst Beethovens und Schumanns in unser Jahrhundert herübergerettet hat?

In der guten alten Zeit sollen meine lieben Landsleute sich sogar für etwas Besseres gehalten haben als alle anderen Menschen. Jedenfalls berichtet schon ein scharfbeobachtender binnendeutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, daß sie alle Menschen in Hamburger und in »Butenminschen«, in Einheimische und in Außenmenschen – foreigners sagen die Engländer – einzuteilen und die »Butenminschen« das auch merken zu lassen pflegten.

Zu solchen »Außenmenschen« haben meine nächsten Vorfahren in Hamburg ursprünglich auch gehört. Mütterlicherseits sind meine Großeltern erst als junges Ehepaar, väterlicherseits ist erst mein Vater selbst als fünfzehnjähriger Junge aus Westfalen in Hamburg eingewandert. Als Westfalen haben sie sich, so früh sie zu guten Hamburgern wurden und so rasch ihre Nachkommenschaft sich in ihrer neuen Heimat ausbreitete, ihr Leben lang gefühlt. Zu ihrem westfälischen Verwandtenkreise, aus dem nicht nur Handels- und Fabrikherren, sondern auch angesehene Gelehrte und hohe und höchste Staatsbeamte hervorgegangen, haben sie sich immer wieder zurückgefunden. In den stillen Wäldern und Heiden ihres Heimatbodens haben sie sich immer wieder erfrischt und gestählt.

Ich habe, so sehr mein Herz an meiner stolzen Vaterstadt hängt, die Liebe zu meiner westfälischen Vorheimat mit der Muttermilch eingesogen; überzeugt davon, daß alles, was in uns wirkt und webt, von unseren Voreltern ererbt und von deren Umwelt miterworben ist, glaube ich mindestens soviel westfälisches wie hamburgisches Blut in meinen Adern kreisen zu fühlen; und ich empfinde das durchaus nicht als Zwiespalt, der die Selbsterkenntnis erschweren könnte; denn niedersächsischen Stammes sind die Hamburger wie die Westfalen; und niedersächsisches Blut bleibt niedersächsisches Blut; aber freilich: deutsche Herzen bleiben auch deutsche Herzen. Wenn wir ohne die Liebe zu dem Boden, dem wir entstammen, uns selbst nicht verstehen können, so ist die Heimatliebe doch nur das Gefäß, aus dem die Liebe zum größeren Vaterlande emporblüht, ohne die unser Wollen und Sollen zu unfruchtbarer Selbstbefriedigung verurteilt wäre.

Wenn ich von Westfalen als meiner Vorheimat rede, so meine ich die Gegend des Teutoburger Waldes, dessen kahle, aussichtsreiche Sandsteinkämme und dessen grün belaubte scharf umrissene Kreiderippen sich hundert Kilometer lang, von Nordwesten nach Südosten streichend, in grauer Urzeit als Schutzwall den von Südwestwinden gepeitschten Wogen der großen westfälischen Bucht entgegengedämmt haben. Von schmalen Längstälern und von tiefen Quertälern durchschnitten, deren Boden von alten Dünensandwehen überhöht worden, wirkt der Teutoburger Wald, wenn er unter den deutschen Mittelgebirgen auch nicht zu den höchsten zählt, durch die Kühnheit seiner Umrisse, von Westen gesehen, doch als großzügige Bergkette; und es fehlt ihm weder an lauschigen Einblicken in grüne Wälder und Täler, noch an köstlichen Fernblicken von der Höhe seiner Kämme in das fruchtbare Hügelland, das sich im Osten bis zum Weserdurchbruch an der Porta Westphalica hinzieht, und über das weite Heideland der Senne, das sich im Westen in blauen Fernen verliert.

Heilig ist der von uralten Erinnerungen geweihte Boden jedem Deutschen. Haben wir uns für die Schlacht am Teutoburger Walde doch schon auf der Schulbank begeistert; haben wir die »Hermannsschlacht« seit den Dramen Klopstocks und Kleists doch unzählige Male an uns vorüberbrausen sehen; ragt auf der sturmumwehten Grotenburg in dem hochstämmigen Teile des Teutoburger Waldes, der als Lippescher Wald bezeichnet wird, doch das nach langem Harren im Hochgefühl der deutschen Siege von 1870 vollendete Denkmal des Cheruskers, dessen eherne Hünengestalt mit dem steil erhobenen Schwert in der Rechten sich weithin sichtbar vom Himmel abhebt. Heilig war schon im grauen Mittelalter auch die Stätte der Externsteine am südöstlichen Fuße des Teutoburger Waldes. Als Natur- und Kunstdenkmäler zugleich erheben sich hier die senkrechten Felsen, deren mittelalterlich naturfernes, aber tief empfundenes Flachbildwerk der Kreuzesabnahme, dem lebendigen Stein enthauen, das älteste lebensgroße Kunstwerk dieser Art auf deutschem Boden und in all seiner Herbheit eine Meisterschöpfung mittelalterlicher Ausdrucksweise ist.

An den nordwestlichen Ausläufern unseres Gebirges grüßt uns die alte, kunstreiche Hansa- und Bischofsstadt Osnabrück, die Stadt des westfälischen Friedens, aber auch die Stätte, in deren Nähe einst Karl der Große den trutzigen Sachsenfürsten Wittekind zur Unterwerfung und zur Taufe zwang. Die eigentliche Wittekindstadt aber, Enger, in dessen hochgelegener Kirche das mittelalterliche Liegebild des gekrönten Führers der Sachsen noch heute auf seinem oft erneuerten Grabmal ruht, liegt etwas landeinwärts östlich vom Teutoburger Walde; und diese kleine Landstadt, die malerische Wittekindstadt Enger, die mitten zwischen den berühmten Edelbauerhöfen der »Sattelmeier« träumt, ist die Stadt meiner Vorfahren gewesen.

Von Enger wanderte mein Urururgroßvater, der Bürgermeisterssohn Jobst Woermann (1666-1744), der sich nach alter Überlieferung in jungen Jahren im holländischen Ostindien einiges Vermögen erworben hatte, um 1688 nach Bielefeld ein, um sich in der stattlichen, mitten in einem Quertal des hier von alters her als Osning bezeichneten Gebirges anmutig hingegossenen Bergstadt an dem in ihr seit dem 16. Jahrhundert blühenden Leinenhandel zu beteiligen. Jobst Woermann heiratete in erster Ehe die Tochter eines angesehenen Bielefelder Bürgers, in zweiter Ehe, aus der meine näheren Vorfahren stammen, eine Pfarrerstochter; und er wird hier zu Anfang des 18. Jahrhunderts unter den »Ratsverwandten« genannt.

Etwas später taucht in demselben Bielefelder Bürgerkreise mein achtzehn Jahre jüngerer Urururgroßvater mütterlicherseits David Weber auf, von dem wir hören, daß er in Bielefeld zum Kirchenvorstand seines Kirchspiels gehörte, was auf die kirchliche Gesinnung schließen läßt, die sich wenigstens in einem Hauptzweige der Weberschen Familie weiter vererbte.

Bielefeld, die Stadt meiner Väter, verdankte seinen Handelsverkehr, außer der Rührigkeit seiner Bewohner, vor allem seiner günstigen Lage in dem tiefen, paßartigen Einschnitt, durch den die natürliche Straße einerseits zum Rhein hinab, anderseits durch das »Westfälische Tor« über die Weser hinaus nach Osten und nach Norden führt. Die Webestühle der Handwerker, die für die Bielefelder Leinenausfuhr arbeiteten, standen teils in den Häusern der Stadt, teils in ihrer freundlichen Umgebung. Die Bleichen, auf denen die langen Leinenstreifen ihr schneeiges Ansehen erhielten, lagen vornehmlich diesseits und jenseits der Bergkette in den angrenzenden Ebenen. Die Großhändler, die das Bielefelder Leinen in den Welthandel brachten, aber bildeten schon im 17. Jahrhundert einen Kreis wohlhabender Bürger, der, wie die Bildnisse zeigen, die sie von sich und ihren reich gekleideten Frauen malen ließen, etwas auf sich hielten und, wie die Verwandtenehen verraten, die sie bevorzugten, ihre Rasse rein zu erhalten suchten.

Aus den Ehen und Verschwägerungen der Nachkommen meiner genannten Urahnen, auf deren Bildern man den Wandel der künstlichen Haartrachten von der schon verkürzten Allongeperücke bis zum Haarbeutel und Zopf verfolgen kann, gingen, nachdem die große Revolution die Perücken von den Köpfen der Menschheit hinweggefegt hatte, meine Großväter Gottlieb Woermann (1780-1839) und David Friedrich Weber (1786-1868) als rechte Vettern hervor, die nicht nur im Familien-, sondern auch im Geschäftsleben freundschaftlich miteinander verbunden blieben. Ohne ihre Lebensgeschichte, die schon eng mit der meinen verknüpft ist, könnte ich mein eigenes Werden und Wachsen nicht verstehen.

Freilich ging mein Großvater Woermann, ein Mann von feinen, festen Zügen und geistvollen, ernsten, auf seinem Bilde schon leidend dreinblickenden Augen, insofern seine eigenen Wege, als er sich seine Lebensgefährtin nicht in dem ehrsamen Bielefelder Bürgerkreise suchte, sondern aus der Ferne holte. Eine Geschäftsreise führte ihn in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts nach Dänemark. Durch die Straßen Kopenhagens schlendernd, sah er die bildschöne Wandsbecker Pastorentochter Nikoline Milow, deren Mutter der angesehenen Hamburger Familie Hudtwalcker entstammte, am Fenster des Hauses sitzen, in dem sie bei Verwandten zum Besuche weilte. Der plötzlich entbrannten Liebe folgte eine rasche Heirat. Um 1806 traf das junge Paar in Bielefeld ein. Es scheint aber, daß meines Großvaters Eltern, kaum befragt, ihre Einwilligung zu der Ehe, die ihnen von ihrem kleinstädtischen Standpunkt aus abenteuerlich erscheinen mochte, nicht gegeben hatten. Vielleicht hatten sie ihrem schmucken und begabten Sohne auch bereits eine andere Gattin in Bielefeld ausgesucht gehabt. Jedenfalls fand die ebenso ehren- und liebenswerte wie hübsche Wandsbeckerin keine liebevolle Aufnahme im Hause ihrer Schwiegereltern; und es heißt, der Kummer darüber habe ihr ein Herzleiden eingetragen, das sich von Jahr zu Jahr verschlimmerte. Aber auch ihr Gatte, mein Großvater, war seit einem Sturz vom Pferde, den er in seinem vierzigsten Lebensjahre erlitt, gebrechlich. Heitere Lebensfreude scheint in seinem schönen Hause an der Hagebruchstraße, in dem heute eine Bürgerschule eingerichtet ist, nicht geherrscht zu haben.

Ich erinnere mich, dem »Woermannschen Hofe« in meiner Kindheit, als er schon in andere Hände übergegangen war, einen Besuch abgestattet zu haben; und von außen habe ich ihn noch vor kurzem wiedergesehen. Es war seiner Anlage und seiner Ausschmückung nach das Muster eines behäbigen westfälischen Bürgerhauses. An der einen Seite des Langhauses, in dem sich die Geschäftsräume befanden, sprang ein baukünstlerisch gestalteter Giebelflügel vor, dessen Außenfachwerk mit dem fächer- oder muschelförmigen Schnitzwerk verziert ist, das der westfälischen Baukunst des 17. Jahrhunderts eigentümlich ist. Heute wieder in den alten lebhaften, aber feinen Farben bemalt, gibt es dem Hause ein heitereres Ansehen, als es in meiner Kindheit hatte. Neben dem geräumigen Wohn- und Geschäftshause enthielt das Grundstück eine Dienerwohnung mit Stall, eine Reitbahn und in dem hübschen, durch sein Obst berühmten Garten ein Lusthäuschen und einen Springbrunnen. Im Innern war das Haus behaglich und nicht ohne Kunstsinn ausgestattet. Gute große Kupferstiche, wie Raphael Morgens Stich nach Leonardos Abendmahl und Tofanellis Stiche nach Claude Lorrains schönen Landschaften im Palazzo Rospigliosi in Rom schmückten die Wände.

In diesem Hause wurde mein Vater Carl Woermann am 11. März 1813, also in großer, verheißungsvoller Zeit, geboren, deren Licht wie ein Sonnenblitz durch Hütten und Paläste eilte. Nur wenige Tage nach seiner Geburt erschien der Aufruf des Königs von Preußen an sein Volk. Mein Vater hat sein Leben lang zu dem Stern, der über seiner Wiege gestanden, emporgeschaut. Im übrigen sprach er, so sehr er seine Eltern verehrte, nicht gern von seinem Elternhause und war sich, wie er gestand, auch bewußt, keine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Ein neues Leben aber begann für ihn, als er, zehn Jahre alt, von seinem Vater der berühmten, herrlich in Waldesfrische gebetteten Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal in Thüringen übergeben wurde, die eine so große Rolle in der Geschichte des deutschen Erziehungswesens spielt. Die Hauptgrundsätze ihres Stifters Christian Gotthelf Salzmann (1744-1811), der die Gedanken Rousseaus und die Erfahrungen Basedows selbständig weiterbildete, waren damals noch keineswegs Gemeingut der Schulen. Daß die Ausbildung des Geistes ohne gleichzeitige Körperpflege verlorene Liebesmühe sei, daß der Unterricht vom Nächstgelegenen in der Natur und Geschichte auszugehen habe, um allmählich zu dem zeitlich und örtlich Entfernteren fortzuschreiten, und daß die Jugend angehalten werde, wie ihre Leibes-, so auch ihre Geisteskräfte selbsttätig zu entwickeln, verstand sich damals noch durchaus nicht von selbst. Die Leitung Schnepfenthals im Sinne dieser Grundsätze, die damals erfrischend neuartig erschienen, führten der Anstalt Scharen von Zöglingen aus ganz Deutschland und aus dem Auslande zu. Als mein Vater in sie eintrat, war an die Stelle ihres berühmten, 1811 gestorbenen Gründers längst dessen dritter Sohn Johann Christian Salzmann (1789-1870) getreten, der außer vielen anderen Schriften 1826, als mein Vater sein Zögling war, die »Lieder zur Beförderung geselliger Vergnügungen« herausgab.

Mein Vater erinnerte sich gern seines fünfjährigen Aufenthaltes in Schnepfenthal, erzählte oft, daß sie im Winter wie im Sommer ohne Kopfbedeckung in roten Jacken herumgelaufen seien und sich im Freien gewaschen haben, und sprach mit Achtung von dem »jungen Salzmann«, mit hoher Bewunderung aber von dem »alten Salzmann«, unter dem die Anstalt in jeder Hinsicht noch großzügiger bestellt gewesen sei als zu seiner Zeit. Von gleichaltrigen Schulkameraden meines Vaters aber habe ich gehört, daß er in allen Stücken zu den Tüchtigsten in körperlicher und geistiger Gewandtheit zählte, aber auch wegen seiner Kunst im Bratenschneiden und Geflügelzerlegen, die dem Vorsitzenden jeder Schülertafel oblag, bewundert wurde. Jedenfalls hat die Erziehung meines Vaters in Schnepfenthal das ihre dazu beigetragen, ihn zu dem klar und groß denkenden, streng rechtlichen, schaffensfreudigen, charakterfesten und trotz zornigen Aufbrausens bei Anlässen, die ihn erregten, menschlich milden und warmherzigen Manne zu machen, den alle liebten, die ihn kannten.

Während der ganzen fünf Jahre, die mein Vater in Schnepfenthal zubrachte, war ihm kein Besuch seiner Eltern in Bielefeld gestattet worden. Auch nach Beendigung seiner Schulzeit hielt er sich nur kurz im Elternhause auf, um so rasch wie möglich in Hamburg als Lehrling bei der dort von meinem Großvater Weber geleiteten, als Zweigfirma des Bielefelder Leinenhauses Woermann & Co. entstandenen Firma Woermann & Weber einzutreten, die später in die Firma D. F. Weber & Co. verwandelt wurde.

Meine Großeltern Woermann, über deren Leben trotz der großbürgerlichen Behaglichkeit, die sie umgab, ein Hauch von Tragik lag, erreichten kein hohes Alter. Als ich geboren wurde, weilten beide nicht mehr unter den Lebenden; aber alles, was ich von ihnen gehört und im Bilde von ihnen gesehen habe, hat sie mir so nahe gebracht, als hätte ich sie gekannt. Namentlich das geistvolle Bildnis meines Großvaters, das einen Ehrenplatz in unserem Hause einnahm, hatte es mir von klein auf angetan. Mit heiliger Scheu standen wir Kinder vor dem ernsten Manne, dessen strenger, durchdringender und doch fast wehmütiger Blick uns in alle Ecken des Zimmers folgte. Das Bild vermittelte ein persönliches Verhältnis zwischen mir und meinem Großvater Woermann, von dem ich den Wissensdrang und die Neigung, Natur und Leben zu beobachten, geerbt zu haben glaube.

Ganz anders geartet waren meine Großeltern Weber, mit denen ich während meiner ganzen Kindheit in unmittelbarstem, fast täglichem Verkehr stand. Ihr glänzendes, doch fein durchgeistigtes, von idealer Lebensauffassung getragenes Hauswesen in Hamburg ist aufs innigste mit der Entwicklung meiner eigenen Wesensart verknüpft. Ihrem Hause verdanke ich zum großen, vielleicht zum größten Teil die Liebe zu allen Künsten, die sich schon früh in mir regte, und den Trieb, mich mit ihnen zu beschäftigen, der mir durchs Leben gefolgt ist.

Anders als mein Großvater Woermann freite sein Vetter, mein Großvater Weber, in der nächsten Nachbarschaft von Bielefeld, auf dem » Kupferhammer«, der bei dem Dorfe Brackwede am Eingang in die weite, von Heide- und Kiefernduft erfüllte »Senne« liegt. Wenn ich an Bielefeld denke, so tritt mir zunächst der »Kupferhammer« vor Augen, das mir von klein auf vertraute, mit großzügigem Tun und stillen ländlichen Reizen ausgestattete Fabrikgut, das ich als zweijähriger Knabe mit meiner Mutter zum ersten Male, später, da seine Besitzer nicht nur nahe Verwandte meiner Mutter, sondern auch die nächsten, ja die einzigen nahen Verwandten meines Vaters waren, unzählige Male besucht habe.

Das Gelände des Kupferhammers, der längst einer großen Kesselschmiede, Maschinen- und Lederfabrik Platz gemacht hat, war in einer Zeit, die noch keine Dampfmaschinen kannte, des Gefälles des kleinen Lutterbaches wegen, das durch ein Wasserrad in treibende Kraft umgesetzt wurde, zu einem Hammerwerk im Sinne des 18. Jahrhunderts ausersehen worden. Sach- und fachkundige Geschäftsleute ließen hier weit hergeholte Kupferblöcke in Glühhitze hart und flach hämmern. Bald trat eine Gerberei hinzu, und Großhandelsgeschäfte jeder Art schlossen sich an. Größere Strecken des sandigen Sennebodens wurden, preiswert erworben, in Felder und Wiesen verwandelt. Die Kieferngehölze, die stehenblieben, und die Teiche, die hier heimisch waren, vollendeten den parkartigen Eindruck des Geländes, in dessen Mitte sich das stattliche, mit Schieferplatten belegte alte Herrenhaus erhob.

Der Tag und Nacht ununterbrochen dröhnende, dumpf aufschlagende Hammer ließ in meiner Jugend das ganze Anwesen unter der Wucht seiner Schläge erzittern, die dennoch durch den Rhythmus ihrer regelmäßigen Wiederholung seinen Bewohnern und ihren Gästen in Sommer- und Winternächten zu traulichem Schlummerlied wurden.

Auf Streifzügen durch die weite einsame Heide der Umgebung des Kupferhammers, in der man hier und da auf eines jener altniedersächsischen Bauernhäuser stieß, die als Muster ihrer Art galten, lernte ich Zwiesprache mit der Natur halten. Wie reizvoll der Zusammenklang des dunklen Grüns der Kiefernhäupter, des zarten Rots der blühenden Heide, des hellen Grüns der weiten Wiesenflächen und des matten, weißlichen oder bräunlichen Gelbs der hervorblickenden Sandflecken! Dazwischen blitzende dunkle Teiche. Vor allem aber wie großzügig die nahe, langgestreckte Kette des scharf umrissenen Teutoburger Waldes mit der Hünenburg zur Linken, den waldigen Höhen zur Rechten des Bielefelder Einschnittes, der den Eindruck von zwei getrennten Bergketten hervorruft! Unwillkürlich trat mir hier später, als ich die Weiten der Erde durchwandert hatte, der Blick aus der römischen Campagna auf Sabiner- und Albanergebirge in die Erinnerung.

Auf dem Kupferhammer herrschten seit dem Siebenjährigen Kriege die nah miteinander verwandten Familien Möller und Nottebohm, ein kerniges, arbeitsstarkes Geschlecht, das zu den alten reformierten Familien Westfalens gehörte, die sich, wie die Hollands, im Gegensatz zu den Heiligennamen der Katholiken, gern mit alttestamentlichen Namen schmückten. Mein Urgroßvater Abraham Nottebohm, der sich jenes Herrenhaus auf dem Kupferhammer errichtet hatte, war schon ein Handelsherr großen Stils, dessen Geschäfte von der westfälischen Senne bis zu den niederländischen Hafenplätzen der Nordsee und darüber hinaus reichten. Nach seinem Tode fiel der Kupferhammer der Möllerschen Familie zu, der er bis heute verblieb. Abraham Nottebohms vielumworbene jüngste Tochter Henriette, die, 1792 auf dem Kupferhammer geboren, in Kassel, der damals von buntem Leben erfüllten Hauptstadt des »Königreichs Westfalen«, erzogen worden war und hier ein gutes Stück der besten Bildung ihrer Zeit in sich aufgenommen hatte, wurde die Braut meines Großvaters Weber, als dieser gerade im Begriff war, sich in Hamburg niederzulassen. Abraham Nottebohms Enkel Friedrich Möller aber, der während der preußischen Konfliktszeit als liberaler Landtagsabgeordneter hervortrat, heiratete eine Schwester meines Vaters und wurde dadurch mein Oheim.

Hamburg hatte, wie unsere Geschichtsbücher berichten, am meisten von allen deutschen Städten unter der französischen Herrschaft zu leiden gehabt. Die Kontinentalsperre hatte seinem Handel die Adern unterbunden; seine Schiffahrt war lahm gelegt; vor allem aber hatte der Marschall Davoust, der mit der Besetzung Hamburgs betraut war, hier eine Schreckensherrschaft eingeführt, wie sie sonst in jenen, im Vergleich mit der unseren, menschlichen Zeiten nicht vorzukommen pflegte. Wie atmete man gerade in Hamburg auf, als das große Jahr 1813 eine Fessel nach der anderen sprengte, als schon am 18. März der General Tettenborn Hamburg als erste aller deutschen Städte von den feindlichen Truppen befreite, als die Kontinentalsperre fiel und die Hamburger Flagge wieder stolz, wie die eines Großstaats, von hundert Masten ins Meer hinausgetragen wurde! Ein Freudenrausch ging durch das ganze deutsche Volk. Herzen, die sich gefunden hatten, beeilten sich, sich fürs Leben zu vereinigen. Die Hochzeit meines Großvaters Weber mit Henriette Nottebohm fand am 12. Juni 1814 auf dem Kupferhammer statt. Das junge Paar vertauschte gleich nach seiner Vermählung seine äußerlich stille, innerlich lebendige Heimat am Teutoburger Walde mit der geräuschvollen, vor dem großen Brande von 1842 noch altertümlich malerischen Stadt an der Elbe und an der Alster, dem stillen, sich gerade vor, jetzt in der Stadt seeartig verbreiternden Fluß, dem Hamburgs Dichter Friedrich Hagedorn das berühmte Lied gesungen hatte, das mit den Worten beginnt:

»Befördrer vieler Lustbarkeiten,
Du angenehmer Alsterfluß«.

Rasch sammelte sich in Hamburg ein geistig angeregter Freundeskreis um meine Großeltern. Mein Großvater Weber war ein schlanker blonder Mann mit hellen Augen und behaglichem Gesicht. Als Handelsherr vom Glück begünstigt, war er ein Lebenskünstler, der den Genuß aller Schönheiten und Freuden dieser Erde mit reinem Herzen und aufrichtiger kirchlicher Frömmigkeit zu vereinen verstand. Meine Großmutter Weber aber war eine ebenso wohltätige wie fromme, ebenso geistvolle wie unterrichtete, ebenso gemütvolle wie weltkluge Frau, die aller Herzen im Sturm gewann. Sie hatte die seltene Gabe, jedem ihrer zahlreichen Kinder, Enkel und Urenkel, ja jedem, der ihr begegnete, das zu sein und zu geben, was er von ihr verlangte, und wurde daher von allen ihren Angehörigen, aber auch von vielen Fremden, die mit ihr in Berührung kamen, schwärmerisch verehrt und geliebt. Auf meine ganze frühe Entwicklung hat sie, zumal sie mich in den Zaubergarten der Dichtkunst einführte, einen großen Einfluß gehabt. Wohltuend aber wirkte auf alle, die das Haus meiner Großeltern betraten, der Geist nie getrübter Liebe und Eintracht, der es durchwehte und ihre goldene Hochzeit überdauerte. Im Herzen der Altstadt, am Grimm, erwarb mein Großvater eines jener altertümlichen, echt hamburgischen Kaufmannshäuser, deren Erdgeschoß fast ganz von der mächtigen Diele eingenommen wurde. Neben der Haustür lag das Geschäftszimmer, in der Mitte der Diele erhob sich die Pförtnerglaslaube, die »Zibürken« genannt wurde, weiter hinten führte ein hölzernes Treppenhaus mit reich geschnitzten Deckenstützen und oft barock geschwungenen Geländern zu den oberen Geschossen der schmalen und tiefen Häuser hinauf, in denen ein langes Durchgangszimmer von den vorderen Stuben zu den hinteren, dem Hof und dem Warenspeicher zugewandten Räumen führte, die im ersten Geschoß durch den großen Festsaal eingenommen wurden.

In diesem etwas düsteren, aber geräumigen und gemütlichen Hause, dessen ich mich, da meine Großeltern es während der Wintermonate bis zu meinem siebenten Lebensjahr bewohnten, mit allen seinen geheimnisvollen Ecken und würzigen Gerüchen noch deutlich erinnere, wurden die meisten ihrer elf Kinder geboren, von denen acht am Leben blieben. Das Zweitälteste von ihnen war meine Mutter Eleonore, die 1818 geboren wurde und frisch und lieblich zwischen stattlichen Brüdern erblühte. Als sie zehn Jahre alt war, trat mein Vater als fünfzehnjähriger Lehrling in das Geschäft meiner Großväter in Hamburg ein. Er wohnte während seiner ganzen Lehrzeit im Hause seiner Verwandten am Grimm, fühlte sich hier anfangs aber, wie er mir erzählt hat, durchaus nicht behaglich. Nach den Grundsätzen jener Zeit wurden die Lehrlinge außerhalb der Geschäftsstunden im Hause ihrer Lehrherren, auch wenn sie ihnen verwandt waren, als Luft behandelt. Wie fror meinen Vater im Winter in seinem unheizbaren Dachstübchen! Aber unaufgefordert in den gemeinsamen warmen Wohnstuben zu erscheinen, wäre unerhört gewesen. Wie sehnte er sich nach herzenswarmer Ansprache! Aber sie dem Lehrling gleich anfangs zuteil werden zu lassen, wäre nicht in der Ordnung gewesen. Erst allmählich änderte sich das; und meine Großmutter gewann bald auch sein ganzes Herz. Daß er sich mit meiner Mutter, die fünf Jahre jünger war als er, bald herzlich befreundete, versteht sich von selbst. Morgens pflegte er ihr auf dem Wege zur Schule die Mappe zu tragen, nachmittags ihre Spiele zu fördern.

Als meine Mutter zwölf Jahre alt geworden war, kam sie in eine bewährte Töchtererziehungsanstalt in der alten, herrlichen Hansastadt Lübeck, deren stille, hier und da grasdurchwachsene Straßen vom Geiste ihrer einstigen Größe durchhaucht waren. Während der drei Jahre, die meine liebe Mutter in Lübeck erzogen wurde, erklomm mein Vater in dem Weberschen Geschäft eine Staffel nach der anderen. Als er einundzwanzig Jahre alt geworden war, rief ihn seine preußische Dienstpflicht nach seiner Vaterstadt am Teutoburger Walde zurück. Während seiner einjährigen Dienstzeit wohnte er dort im Hause seiner Eltern, wanderte aber, seine geliebte Schwester zu besuchen, täglich nach dem Kupferhammer hinaus, den auch er seit dieser Zeit als seine Herzensheimat ansah.

Als mein Vater, neu gestählt und geschult, nach Hamburg zurückkehrte, verwandelte die Freundschaft mit meiner Mutter sich unversehens in Liebe. Die Hochzeit fand am Johannistage des Jahres 1837 statt; und in diesem Jahr, zu dessen Anfang meines Vaters Mutter in Bielefeld gestorben war, überließ sein Vater, der seine Gattin nur zwei Jahre überlebte, dem Vierundzwanzigjährigen eine größere Summe Geldes zur Begründung eines eigenen Handelshauses in Hamburg. Sein Vater schrieb ihm damals, die Leineweber Bielefelds, die seit mehreren Menschenaltern für Woermanns gearbeitet hätten, würden nicht verstehen, daß der Stammhalter des Hauses seiner Vaterstadt den Rücken kehren wolle, aber, da er die Gründe, die für die Verlegung des Geschäfts nach Hamburg sprächen, anerkenne, wolle er ihm nicht entgegen sein.

Die Umsicht und Einsicht meines Vaters brachten die 1837 gegründete Firma C. Woermann, die von der Leinenausfuhr nach Mittel- und Südamerika ausgegangen war, sich im Wandel der Zeiten aber den wechselnden Verhältnissen großzügig anzupassen verstand, bald auf eine solche Höhe, daß sie zu den gediegensten und zuverlässigsten der Hamburger Börse gerechnet wurde. Um die Mitte des Jahrhunderts erkannte mein Vater als einer der ersten in Deutschland, ohne selbst jemals Europa zu verlassen, die Notwendigkeit eines Warenaustausches mit dem Schwarzen Erdteil, der seine Rohstoffe gegen die Erzeugnisse Europas hinzugeben hatte. Anfangs bildete nach dieser Zeit der Handels- und Schiffahrtsverkehr mit Westafrika, der sich jahrelang auf die Negerrepublik Liberia beschränkte, nur einen Teil der Handelsbeziehungen, die mein Vater mit allen Weltteilen unterhielt. Später wurden alle anderen Unternehmungen zugunsten der afrikanischen, deren Erweiterung die ganzen Kräfte eines Hauses erheischten, aufgegeben; und wenn die Warengeschäfte, die Pflanzungssiedelungen und die rasch wachsende Reederei des Hauses, das 1887 sein fünfzigjähriges Bestehen feierte, auch erst nach dem Tode meines Vaters – er starb 1880 – einen Umfang annahmen, der sie auf aller Lippen brachte, so hatte mein Vater selbst, weitblickend, wie er war, doch schon zu seinen Lebzeiten alles in die Wege geleitet, was, da ich aus der Art schlug, mein jüngerer Bruder Adolph, mein Schwager Eduard Bohlen und später mein Halbbruder Eduard Woermann und ihre Mitarbeiter nach dem Grundsatz zur Vollendung brachten:

»Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.«

Das Woermannsche Geschäfts- und Wohnhaus, das mein Vater in der Großen Reichenstraße erwarb, lag in einer jener Urstraßen Hamburgs, deren tiefe, schmale Grundstücke auf die hinter ihnen aus- und einströmenden Wasserarme der »Fleete« zugeschnitten sind. In der Flucht stattlich gegiebelter Renaissance- und Barockhäuser der Südseite der Straße nahm sich das neue Haus, das erst einige Jahre, ehe mein Vater es kaufte, von dem angesehenen klassizistischen Hamburger Baumeister Franz Gustav Joachim Forsmann (1795 bis 1878) an Stelle eines jener alten Giebelhäuser erbaut worden war, von außen gesehen, fast erschreckend nüchtern aus. Der Geschmack von 1830 tat sich auf diese Nüchternheit noch etwas zugute. Aber sein Inneres, das jenen althamburgischen Wohn- und Geschäftshausstil in eigenartiger Weise dem neuzeitlichen Empfinden anpaßte, wirkte bei aller Schlichtheit durchaus vornehm und anheimelnd. Die Verbindungsgänge zwischen den vorderen und den hinteren Räumen schwebten, von weißlackierten, dorischen Säulen angeglichenen Holzpfeilern getragen und von weißen Dockengeländern mit Mahagonihandleisten eingefaßt, brückenartig zwischen den geraden, ebenso eingefaßten Treppen und dem langgestreckten Oberlicht, an dessen anderer Seite das Durchgangszimmer durch eine ebenso lange Glaswand erhellt wurde. Mit doppelter Wasserleitung versehen, besaß das Haus alle modernsten Einrichtungen, die damals auf dem Festlande noch eine Seltenheit waren; und die Einzelformen an Treppen, Türen und Fenstern verrieten, daß ein Künstler es gebaut habe. Aus seinen vorderen, sonnenlosen Zimmern blickte man auf die später abgebrochene, keineswegs stattliche, gegenüber gelegene Häuserreihe der damals noch engen und von lärmendem Frachtverkehr erfüllten Straße. An der sonnigen Rückseite fiel der Blick über den schmalen, von stattlichen Linden beschatteten Hof, an den Geschäftshäusern meines Vaters zur Linken entlang auf den Warenspeicher, der unmittelbar am »Fleet« lag, zur Rechten aber an den Linden vorüber und über den Nachbarhof hinweg auf den hübsch gegliederten, kupfergrünen, an der schlanken Spitze von goldener Krone umfaßten Frühbarockturm der nahen Katharinenkirche. Als ich als Zwölfjähriger die Schönheit dieses Turms, der mir ans Herz gewachsen war, vor Kunstkennern rühmte, wurde ich als unwissender Junge mit den Worten zurechtgewiesen, das sei doch greuliches Barock. Wie freute ich mich später, als ich ihn, nachdem der Geschmack zum Barock zurückgekehrt war, wieder schön finden durfte!

Beherrschte der klassizistische Geschmack die Zeit, in der ich aufwuchs, so beeinflußte er in besonderem Maße die Umwelt, die mich von klein auf im Kreise meiner Großeltern Weber umgab. Geistig und künstlerisch veranlagt wie sie waren und von Goethes »Italienischer Reise« erfüllt wie alle gebildeten Deutschen, glaubten sie, ihrem Leben nur durch einen längeren Aufenthalt in dem schönen Lande, wo

»Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht«

seinen vollen Erdenwert geben zu können. Im Jahre 1839 übergab mein Großvater die Leitung seines Geschäftes seinem ältesten Sohne und zog mit der Frau seiner Liebe, seinen beiden jüngsten Kindern, einem Diener und einem Kinderfräulein über die Alpen in das Land der Sehnsucht so vieler guten Deutschen. Zwei Jahre blieben meine Großeltern in Italien, hauptsächlich in Rom, wo sie alle Schönheiten der Natur und der Kunst in sich einsogen und im Kreise der deutschen Künstler und Gelehrten, die damals in der ewigen Stadt weilten, alle die mannigfaltigen Anregungen in sich aufnahmen, die ihr ganzes späteres Leben bestimmten und auf ihre Kinder und auf ihre Enkel, auf keinen mehr als auf mich, zurückwirkten. Als sich 1841 aber noch ein Sprößling (mein späterer Schwager Johannes) meldete, traten sie die Heimreise in ihrem großen, mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Reisewagen an, mit dem sie zwei Jahre vorher von Hamburg abgefahren waren. So reisten wohlhabende Leute damals. Der Wagen wurde käuflich erworben. Die Kutscher und die Pferde wurden von Ort zu Ort bestellt und gewechselt. Der gelbe, langgestreckte Reisewagen erregte, als er in einem Schuppen meines großelterlichen Gartens von seiner Arbeit ausruhte, noch lange die Bewunderung von uns Kindern. Er bildet ein Stück meiner Kindheitserinnerungen und hat das seine dazu beigetragen, in mir die Sehnsucht nach fernen Ländern und ihren Wundern zu wecken.

Inzwischen hatten meine Großeltern sich auf ihrem Grundstück am hohen Elbufer zu Oevelgönne von dem schon genannten feinfühligen Architekten Forsmann, zu dessen schlichten Jugendwerken mein elterliches Stadthaus, zu dessen Meisterwerken aber, außer einer Reihe vornehmer größerer Hamburger Bürgerhäuser, der Edelbau des neuen, wie durch ein Wunder vom großen Brande des Jahres 1842 verschonten Börsengebäudes gehörte, ein neues, geräumiges, in klassischem Stile gehaltenes Landhaus bauen lassen, wie es dem Geschmack verwöhnter Italienfahrer entsprach. Nach vorn öffnete es sich in beiden Geschossen in wohlgestalteten, auf rotem Grunde pompejanisch bemalten Veranden mit je zwei ionischen Säulen reinster perikleischer Art nach der köstlichen Aussicht auf den von stolzen Schiffen belebten Strom und die im Hintergrunde von waldigen Höhenzügen begrenzten grünen Inseln des jenseitigen Ufers.

Schön wie das Haus, dessen Kunstwerke, wie wir sehen werden, mitbestimmend auf mein Leben eingewirkt haben, war auch der von italienischen Erinnerungen und Anklängen durchhauchte Garten. Auf der Höhe des Hauses, vor dem zwei stattliche Kastanien standen, krönte ein Balustradengeländer den Aussichtsstand über dem steilen Abhang; drei Terrassen, deren senkrechte Mauern mit Wein bewachsen waren, der hier, dem Süden zugewandt, nicht selten reifte, lösten den Mittelteil des Gartens in Riesenstufen auf. Seitlich wurden die Terrassen von zypressenförmigen italienischen Pappeln eingerahmt, deren Stämme von Brombeeren umrankt waren. Links und rechts von diesen Terrassenanlagen aber zogen sich Schlängelwege durch Baumgruppen, in denen die Edelkastanie und die Walnuß nicht fehlten, in allmählicher Senkung zu der unteren Gartenfläche hinab.

Unter dem unteren Saumweg dieses Gartens aber, hart am Elbestrand, lag das schlichte, efeuumrankte Landhaus, das meine Eltern während meiner früheren Knabenjahre im Sommer bewohnten.

Welchen Eindruck die – wie oft! – hinauf und hinab in hellem Tageslicht und in herbstlichem Abenddunkel

»wo Finsternis aus dem Gesträuche
mit hundert schwarzen Augen sah«,

von mir durchwanderten, immerhin nicht sonderlich umfänglichen Anlagen meines großelterlichen Gartens auf mein jugendliches Gemüt machten, spricht sich deutlich in den nächtlichen Träumen aus, die mir im Schlafe ab und zu bis zum heutigen Tage dieselbe Anlage ins Gewaltige, Alpenhafte, ja manchmal Überalpenhafte gesteigert vorgaukeln. Unten, zu Füßen der Riesenlandschaft dehnt statt der gelben Elbe sich dann das blaue schäumende Meer in endlose Weite.

Waren meine Großeltern von Rom nach Hamburg zurückgeeilt, um dort in dem alten trauten Hause am Grimm ihrem jüngsten Sohne, der im Januar 1842 geboren wurde, einen behaglichen Empfang zu bereiten, so wurden ihnen in demselben Jahre auch ihre ersten Enkelkinder geschenkt. Ein heller Sonnenstrahl fiel in das feine dunkle Stadthaus meiner Eltern, als ihnen im November dieses Jahres nach fünfjährigem Hangen und Bangen ihr erstes Kind, meine Schwester Henriette, geboren wurde, mit der ich, solange sie lebte, in inniger Liebe verbunden blieb. Dreimal waren die Hoffnungen meiner Mutter, wie sie mir selbst erzählt hat, fehlgeschlagen. Von 1842 bis 1860, ihrem frühen Todesjahr, aber hat sie zehn Kindern, von denen neun sie überlebten, das Leben geschenkt, selbst genährt und mit mütterlicher Liebe gehegt und gepflegt. In der treuen Erfüllung ihrer Mutterpflichten, die die Keime reichen geistigen Lebens, die in ihr lagen, nicht recht zur Entfaltung kommen ließen, hat sie sich vorzeitig verzehrt.

Im Sommer 1844 waren meine Eltern, da meine Mutter sich angegriffen fühlte, nicht aufs Land gezogen. Ich sollte erst im Herbste erscheinen. Aber ich konnte die Zeit, das Sonnenlicht zu schauen, nicht erwarten. Schwach und zart stellte ich mich schon am 4. Juli dieses Jahres ein. Es heißt, ich sei nur durch Baden in Fleischbrühe und in Rotwein am Leben erhalten worden. Die Körperschwäche, die ich mit auf die Welt gebracht hatte, ging mir bis weit in meine Jünglings- und frühen Mannesjahre hinein nach. In meinen Knabenjahren bildete die Tatsache, daß ich nicht so stark war wie meine Schulkameraden und geschont werden mußte, einen festen Kern meines erwachenden Bewußtseins. Aber diese Wahrnehmung bedrückte mich, da ich es nicht anders kannte, nicht in dem Maße, wie man annehmen könnte. Fühlte ich mich doch auch geistig keinem unterlegen, und taten meine Eltern doch auch von Anfang an alles, was in ihrer Macht stand, mich zu kräftigen. Ich habe das Gefühl, eine schöne, reiche, von Liebe umgebene Kindheit genossen zu haben.

Daß die Luft in der engen, wenn auch erst in einiger Entfernung von ihren Vorderhäusern von den Ausdünstungen der Fleete berührten Großen Reichenstraße der leiblichen Entwicklung zarter Kinder besonders zuträglich gewesen sei, wird man nicht behaupten können; aber im Sommer zogen wir ja aufs Land; und von unserer Landwohnung aus ging es jeden Sommer wochenlang noch weiter hinaus in reinere und reinste Lüfte, ans Meer, in Wald und Heide oder in die Berge. Im Sommer 1846 nahmen meine Eltern mich mit in ihre Heimat am Teutoburger Walde und zur See nach Helgoland, der steilen roten Felseninsel, über der damals noch die englische Flagge wehte. Zum ersten Male küßten die würzigen Kiefernnadeldüfte der westfälischen Senne meine Kindersinne, zum ersten Male sogen meine kleinen Lippen die reinen Hauche des ewigen Meeres ein, sprachen sie aber auch die ersten Worte, von denen berichtet wird, die für mein Empfinden belangreichen Worte, die meine Mutter der ihren in einem erhaltenen Briefe aus Helgoland mitteilte. Es war auf dem kleinen Schaufelraddampfschiff »Patriot«, das damals den Verkehr zwischen Hamburg und Helgoland vermittelte. Meine Mutter hatte mich auf dem Sofa der Sonderkajüte gebettet, die mein Vater gemietet hatte. Kein Sturm wehte an dem Tage. Nur eine frisch schwellende Dünung bewegte die Fläche des Meeres. Weich wurde das Schiff von wallenden Wellen gewiegt. Als ich, aus erquickendem Schlummer erwachend, die Augen aufschlug, sagte ich: »Bin in Eiawiwi«, schloß die Augen wieder und schlummerte ruhig weiter.

Von des Meeres Mutterschoß gewiegt, habe ich mich mein Leben lang geborgen gefühlt, wie das Kind in der Wiege. Das Meer ist meine erste Jünglingsliebe gewesen. Kurze und lange Seefahrten durch Binnenmeere und Ozeane ziehen sich durch alle meine Lebenserinnerungen hindurch. Auf den Weiten des Meeres hat meine Seele sich als Teil der Weltenseele fühlen gelernt.


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