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3. In England

Meine zweite Weltreise, die ich, dreiundzwanzigjährig, als junger Doktor der Rechte im Frühling 1868 antrat, war keine Erholungsreise mehr, aber auch noch keine Kunst- oder Kunstwissenschaftsreise. Ich sollte mich in der herrschenden Welt umsehen, sollte mir das Rechts- und Verfassungsleben Englands, Amerikas und Frankreichs, das ich aus Schriften kennengelernt hatte oder doch kennengelernt haben sollte, durch einige, wenngleich naturgemäß nur flüchtige Einblicke in seine Handhabung veranschaulichen, sollte, soweit meine Empfehlungen und Neigungen reichten, am Gesellschaftsleben der großen Städte teilnehmen, durfte aber natürlich auch Natur und Kunst, auf die ich es innerlich mehr als je abgesehen hatte, in allen ihren Gestaltungen auf mich wirken lassen.

Eben weil diese Weltfahrt nicht als eigentliche Studienreise auf bestimmtem Gebiete gedacht war, aber fehlte ihr, wie mir in der Rückerinnerung an sie klar wird, ein fester Rückgrat. Ich taumelte etwas haltlos von einem Fache zum anderen, von einem Genuß zum anderen und von einer Sehnsucht zur anderen. Ich nippte von allem, ohne meinen Hunger und meinen Durst zu löschen. Erst während des letzten Teiles meiner Reise, erst in Paris, nahm die Kunstgeschichte mich vollends gefangen. Der Dichtkunst wurde ich beileibe nicht untreu; aber ich kam zu der Einsicht, daß ich weder zum Dramatiker, noch zum Epiker im großen geschaffen sei, daß ich mir meine eigentlichen Lebensaufgaben vielmehr auf wissenschaftlichem und zwar auf schönwissenschaftlichem Gebiete stellen müsse, mich daneben aber der Verskunst in Einzelgedichten mit all der Liebe hingeben dürfe, die mir für sie angeboren war. Ich hatte in der Beziehung auch keine Wahl. Innere und äußere Erlebnisse wurden mir unversehens zu Gedichten; und während dieser Reise entstanden die meisten der Gedichte, über deren Herausgabe in einem Sammelbande ich von Paris aus mit den damals weltbekannten Verlegern Hoffmann & Campe in Hamburg in Verbindung trat.

Ende April 1868 schiffte ich mich in Hamburg auf dem englischen Dampfschiff »Berlin« nach London ein. Keine Gelegenheit, eine Seefahrt, wenn auch nur eine kurze, zu machen, habe ich jemals vorübergehen lassen. Je stürmischer sie verlief, desto mehr fühlte ich mich in meinem Element; und auf dieser Überfahrt von Hamburg nach London erlebte ich wieder einmal einen der schwersten Nordseestürme, die sich denken lassen. Ein vornehmes Passagierschiff war die »Berlin« nicht. Wir hatten Hunderte von Schlachthammeln für den Londoner Viehmarkt an Bord; 150 von ihnen starben unterwegs. Außer dem Kapitän Joslin und mir war alles an Bord seekrank. Die Mahlzeiten nahmen wir bald nur zu zweien ein. Bei wieder ruhigem Wetter fuhren wir am 1. Mai in die Themsemündung hinein. Die vierstündige Fahrt stromaufwärts war mir neu. Geländereize fehlen dieser Flachlandschaft natürlich; und doch bildet der von Hunderten und aber Hunderten hinauf- und hinabgleitender Dampf- und Segelschiffe jeder Größe belebte gelbwellig auf- und abschwellende Strom unter dem rauchigen Himmel, an dem die Sonne wie eine rote Scheibe steht, ein Landschaftsganzes von höchst eigenartiger malerischer und selbst poetischer Anziehungskraft. Eine kurze Bahnfahrt von Blackwell nach Fenchurch Street Station – und der Riesenschlund der Weltstadt hatte mich eingesogen; eine längere Cabfahrt durch die City und das Westend und das vornehme Alexandra Hotel am Hyde Park Corner hatte sich mir gastlich aufgetan.

Daß ich es als selbstverständlich ansah, als dreiundzwanzigjähriger junger Mann überall in den ersten Gasthöfen »absteigen« zu müssen, erwähne ich nicht, um mich dessen zu rühmen, sondern um mich eines Irrtums zu zeihen. Ich verwöhnte mich auf diese Weise weit mehr, als es meinen späteren Verhältnissen entsprach. Mein Vater war freilich ein ausgesprochener Feind jeder Prunksucht und jeder Vornehmtuerei und er hatte in dieser Beziehung manchmal seine besonderen Anschauungen. Parkettfußböden in Bürgerwohnhäusern, wie sie heute in allen Mietvillen zu finden sind, hielt er z. B. für etwas so Prahlerisches, daß er trotz der Bitten seiner tanzenden Töchter nicht zu bewegen gewesen war, dem Saal unseres neuen Landhauses in Neumühlen einen Parkettfußboden zu gönnen. Andererseits aber hielt er ein völlig behagliches Leben und ein standesgemäßes Auftreten für selbstverständlich; und dazu rechnete er es eben auch, auf Reisen in den besten Gasthöfen zu wohnen. Jedenfalls hat er mich niemals darauf aufmerksam gemacht, weder während dieser Reise noch während meiner späteren Reisen, auch denen mit meiner jungen Frau nicht, daß es doch wohl richtiger wäre, uns mit guten einfachen Gasthöfen zu begnügen.

Während des einen Tages, den ich am Hyde Park Corner wohnte, gab ich mich, ohne Bekannte zu treffen oder aufzusuchen, absichtlich allein, die Einsamkeit in der Menge suchend, ganz den überwältigenden ersten Eindrücken der Riesenstadt hin, deren städtebaulichem Gesamteindruck ich beizukommen suchte. Das ungeheure, betäubende Gewühl von Wagen, Pferden und Menschen in den bis zum Rande gefüllten Straßen, an deren Übergängen schöne, schlanke Wächter der öffentlichen Sicherheit mit höflich gebieterischer Ruhe jedem Unfall vorzubeugen bemüht sind, hatte ich schon auf meiner Fahrt von den Docks zu meinem Gasthof auf mich wirken lassen. Vor sieben Jahren war mir das kaum so zum Bewußtsein gekommen. Die langen geraden Straßen, deren Häuserreihen, nur hier und da von Prachtbauten unterbrochen, die sich rasch vermehren, je weiter nach Westen man vordringt, sich einförmig, grau und endlos dehnen, waren, mich fast erdrückend, wieder an mir vorbeigezogen. Die weiten herrlichen Parkanlagen, die sich mitten in der Stadt vom Kensington Palast durch die Kensington-Gärten, Hyde Park, Green Park und Saint James' Park am Buckingham Palast vorüber, in dem die Königin Victoria wohnte, bis zu Westminster mit seiner prächtigen altgotischen Abteikirche und seinem breitgelagerten neugotischen Parlamentshause meilenlang hinabziehen, entfalteten ihre grüne, leicht vom Stadtdunst umflorte Herrlichkeit, in die nur an ihren Rändern vornehme, von hohen Bäumen umrauschte Paläste hineinragen, unmittelbar vor meiner Tür. Ich konnte nicht ausgehen, ohne sie zu durchwandern. Aber schließlich: Gärten sind Gärten. Ich erinnerte mich von meinem frühern Besuche Londons her, der gewaltigsten Gesamtblicke auf die Themsestadt von den Themsebrücken aus genossen zu haben. Zur Themse und ihren Brücken zog es mich gleich mächtig hinab.

London liegt nicht nur wirklich an der Themse, es wird von dem gerade innerhalb der Stadt sich rasch verbreiternden Strom in großen, malerischen Krümmungen durchflossen, die freilich keine Gesamtansicht der sich am linken Themseufer hinziehenden Hauptteile der Weltstadt aufkommen lassen, aber doch, vom rechten Ufer und von der Mitte der Hauptbrücken aus gesehen, eine Reihe von großen, in sich geschlossenen städtischen Ansichtsbildern zulassen. Westminster Bridge: wie mächtig vorn zur Linken die großzügig geschnittenen Massen des größten gotischen Bürgerbaus der Welt, zur Rechten in malerischer Gliederung die Gruppe der Regierungsgebäude vom Schatzamt bis zum Kriegsamt, die sich damals noch nicht, wie heute, von grünen Uferanlagen abhoben. Ein Sonnenblick beleuchtete das vornehme Stadtbild des Westens. Waterloo Bridge: das Parlamentshaus gibt dem Blick ganz links noch einen festen Abschluß; gerade vor uns liegt der breite Behördenbau des Somerset House, das zu den schönsten klassizistischen Säulenbauten Londons gehört; zur Rechten über den grauen Häusermassen aber ragt die mächtige Kuppel der Paulskirche herüber. Es ist die einzige Brücke, von der man die Westminster Abbey und die Paulskirche zu einem Bilde zusammengefaßt sieht. Blackfriars Bridge: schon stand ich der City gegenüber; die Paulskirche enthüllt sich, da sie von innen dunkel und niedrig wirkt und ihre Kuppel unten von der Straße gesehen nicht recht zur Geltung kommt, von keinem Standpunkt aus in ihrer ganzen hochkuppelüberragten Größe so majestätisch, wie von hier aus gesehen. Nur Rom und Florenz werden so von ihren Hauptkuppeln beherrscht, wie London hier von der seinen. Endlich London Bridge: die Kuppel der Paulskirche ist links zur Seite gerückt; dort zur Rechten spiegelt der von grausigen geschichtlichen Erinnerungen umwehte Tower seine schweren, breiten Massen in dem Strome, der oberhalb der London Bridge von Flußdampfschiffen, Fischer-, Segel- und Ruderbooten jeder Art in gedrängter Fülle belebt ist; unterhalb der Brücke beginnt die Seeschiffahrt, Tausende von Masten ragen aus den Docks herüber, Hunderte ziehen auf dem Strom dahin. Schwere, rauchige Nebelluft erschwert das Atmen.

Droben aus den Nebelschleiern
Strebt zum Licht der Paulusdom,
Drunten spiegelt, grau und bleiern,
Sich der »Turm« im fahlen Strom.

Durch der Wolken trübe Hülle
Blickt die Sonne, blind und rot,
Auf des Stroms bewegte Fülle:
Mast an Masten! Boot an Boot!

Aber hier auf breiter Brücke
Wälzt sich, schwarz, der Menschenschwarm:
Auf der Jagd nach Ruhm und Glücke
Eines Sinnes, reich und arm.

Wagen rasseln durchs Gedränge!
Alles schiebt sich, hastet, rennt.
Einsam steh' ich in der Menge:
Keiner, der mich kennt und nennt!

Ach! und in dem Weltgewühle,
Keiner auch, den ich versteh'.
Dem mit warmem Mitgefühle
Forschend ich ins Auge seh'!

Einsam, aber nicht verlassen,
Fühl' ich stolz mich unbelauscht.
Fühle mich als Teil der Massen,
Die des Lebens Drang durchrauscht.

Schaffenskraft und Freiheitswalten
Strahlen durch den Nebeldunst,
Und in lichten Prachtgestalten,
Shakespeare, deine Sonnenkunst.

Lange freilich hielt das Gefühl der Einsamkeit im Gewühl der Millionen nicht vor, das mich an meinem ersten Londoner Wandertag auf London Bridge beschlich. Schon am nächsten Tage war ich von Freunden umgeben. Verknüpfen doch tausend Fäden die Weltstadt an der Themse mit meiner Vaterstadt an der Elbe und fehlte es mir doch keineswegs an alten Bekanntschaften und neuen Empfehlungen in der englischen Hauptstadt. Daß Dr. Hermann Weber, der sich meiner hier vor acht Jahren so väterlich angenommen hatte, zu den ersten und zu den letzten gehörte, die ich in London besuchte, brauche ich nicht zu sagen. In der Familie des rasch zu hohem Ansehen gelangten Arztes fühlte ich mich auch jetzt rasch wieder geborgen. Aber auch sonst gab es überall alte Bekannte. Zwei junge Kaufleute aus Hamburg und Bremen, die gemeinsam ein feines Junggesellenheim im Vorort Forest Hill bewohnten, luden mich ein, zu ihnen zu ziehen, bis ich eine geeignete Wohnung gefunden haben würde. Ich verbrachte einen köstlichen Sonntag bei ihnen, der mir alle Reize des blütenduftigen und idyllischen, wenn auch leicht vom Dunst der Weltstadt umhauchten vorstädtischen Landhauslebens Londons erschloß, siedelte dann aber in eine ruhige Wohnung am St. James' Place, einer stillen Seitengasse der geräuschvollen St. James' Street, über, die, im Herzen des Westends, von Piccadilly zur Pall Mall hinabführt.

In den nächsten Tagen machte ich weitere Antrittsbesuche. In den Familien der großen deutsch-englischen und rein englischen Kaufleute, bei denen ich freundliche und gastfreie Aufnahme fand, lernte ich mich allmählich in die besonderen Formen der englischen Geselligkeit einleben.

Die Höhe der Londoner »Season«, die bekanntlich anfängt, wenn das städtische Gesellschaftsleben sich bei uns verläuft, hatte gerade begonnen. Mai und Juni sind ihre Hauptmonate. Im Juli ebbt sie allmählich ab. Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in London hatte ich Gelegenheit, einer jener Veranstaltungen beizuwohnen, die sich hier in jeder Season wiederholen. Am Abend des 5. Mai machte ich die öffentliche Jahresmahlzeit der Gesellschaft der Freunde notleidender Ausländer, der »Society of friends of foreigners in distress« mit und gewann dadurch den vollen Eindruck eines englischen Zweckessens. Einige hundert Bürger aus allen Ländern der Welt versammelten sich um halb sieben Uhr in den Willis' Rooms. An hohen und höchsten Personen fehlte es nicht: den Vorsitz führte der damals noch jugendliche Prinz von Wales, der nachmalige König Eduard VII., dem ich äußerlich so ähnlich gesehen haben soll, daß ich im Ausland wiederholt für ihn gehalten, auch im Adlon-Hotel in Berlin einmal von Engländern als solcher begrüßt worden bin. Stolz bin ich nicht darauf – in keiner Hinsicht; und damals, als wir beide noch jung waren, muß diese angebliche Ähnlichkeit noch nicht hervorgetreten sein.

Für das Eintrittsgeld von einer Guinea (21 Mark), von dem doch mehr als die Hälfte für die notleidenden Ausländer bestimmt war, erhielt man ein vollständiges, nach damaliger Sitte vielgängiges Essen einschließlich dem Weine. Gegen Ende der Tafel wurden die Reden gehalten, die alle vom Prinzen von Wales ausgingen, der frei und flüssig sprach und sich offenbar gern reden hörte. Sein erster Toast galt Ihrer Majestät der Königin, der zweite den fremden Souveränen, die den Verein in ihren Schutz genommen hatten, vor allem dem König von Preußen und seinem Gesandten Graf Bernstorff. Den dritten Toast brachte der Prinz auf das Gedeihen der Society of friends of foreigners in distress aus, wobei er einen Umblick über ihr Wirken seit den 62 Jahren ihres Bestehens gab. Sein viertes und letztes Hoch galt – bemerkenswert genug – der englischen Armee, die doch eigentlich nichts mit den Zwecken des Vereins zu tun hatte. Aber die » Foreigners« sollten wohl an die Bedeutung der Armee erinnert werden.

Alle Reden des Prinzen wurden von zuständigen Persönlichkeiten erwidert. In die Klemme geriet dadurch Graf Bernstorff, der, wenigstens in englischer Sprache, nicht redegewandt war. Doch sprach er so übel nicht und erregte Heiterkeit dadurch, daß er sich selbst, seine Verlegenheit eingestehend, als Foreigner in distress bezeichnete.

Höchst fremdartig mutete mich der Toastmeister an, der, hinter dem Stuhle des Präsidenten aufgestellt, nach jeder Rede, seine Serviette schwingend, die Hochrufe leitete.

Beim Beginn der Reden erschienen die Damen, die teils an den Wänden des Saales, teils auf einem Balkon Platz nahmen, der eine der Wände beherrschte. Musikalische Vorträge wechselten mit den Reden. Um 11 Uhr trennte man sich mit dem Bewußtsein, reichlich und gut gegessen und getrunken, anständige Musik und Reden gehört – und ein gutes Werk getan zu haben.

Von den bekannten Persönlichkeiten, zu denen ich in London in Beziehung trat, nahm sich zunächst mein engerer Landsmann, der hanseatische Ministerresident Friedrich Heinrich Geffcken meiner an, der mit der schon erwähnten schönen Tochter Karl Immermanns, der Stieftochter des Hamburger Eisenbahndirektors Wolff, verheiratet war. Der mittelgroße, blasse, schwarzäugige und schwarzhaarige Hamburger Pastorensohn war ein Mann von ungemein umfassender Bildung. Hat er gegen Ende seines Lebens doch sogar ein Trauerspiel veröffentlicht. Seine staatsrechtlichen Schriften sind nicht zu zählen. In den Jahren 1862 und 1863 hatte er, wie Ägidi, für das Recht der Augustenburger an Schleswig-Holstein gearbeitet; 1866 war er mit Ägidi zur Außenpolitik Bismarcks übergegangen. Sein Rat gab den Ausschlag für den Anschluß der Hansestädte an Preußen. Ungleich Ägidi aber befreundete Geffcken sich – vom Standpunkt der äußersten Rechten aus – nicht mit der Innenpolitik Bismarcks, der dann einen Feind in ihm sah und wegen der Veröffentlichung des kronprinzlichen Tagebuches Kaiser Friedrichs nach dessen Tode ein freilich erfolgloses Strafverfahren gegen ihn einleitete. Damals in London trafen wir öfter zusammen, und ich sah natürlich mit Bescheidenheit zu dem erfahrenen und damals bereits angesehenen Manne empor, von dem ich, wenn ich mich auch mit seinen religiösen und politischen Anschauungen nicht befreundete, Vieles lernen konnte.

Weitaus wichtiger wurden mir meine Beziehungen zu dem Right Honourable George Joachim Goschen (1831-1907), dem berühmten liberalen englischen Staatsmann, dessen Großvater der große Verleger aus Deutschlands klassischer Zeit, Georg Joachim Göschen in Leipzig (1752-1828) war. Sein Vater, der Sohn des Buchhändlers, hatte in der Bankfirma Frühling und Göschen in London ein großes Vermögen erworben. Er selbst, der Enkel, war als Engländer geboren und hatte sich, wie sein jüngerer Bruder, der, wenn ich nicht irre, Deutschland 1914 die englische Kriegserklärung aussprach, von Anfang an der staatsmännischen Laufbahn gewidmet. Einen Namen hatte George Joachim Goschen sich zunächst durch sein 1863 erschienenes Buch »Theory of foreign exchanges« gemacht. In demselben Jahre wurde er ins Parlament gewählt. Rasch stieg er zu den höchsten Ämtern empor. Schon 1866 war er Minister gewesen. Unter Gladstone war er Erster Lord of Admiralty, ging aber, da ihm dieser Staatsmann zu weit nach links schweifte, als englischer Botschafter nach Konstantinopel; als Viscount Goschen trat er 1900 ins Oberhaus ein, schrieb dann aber, sich seiner deutschen Herkunft liebevoll erinnernd, das feine zweibändige Werk über das Leben und die Zeit seines Großvaters, des deutschen Verlegers, das 1903 in London erschien.

Der vielgenannte englische Staatsmann, dessen hohe schlanke Gestalt mit den leuchtenden blauen Augen in dem vornehm oval geschnittenen Gesicht ungemein anziehend wirkte, nahm mich, da ich ihm von einem Senator meiner Vaterstadt empfohlen worden war, freundlicher auf, als ich erwartet hatte. Zunächst stellte er mir eine große Anzahl von Büchern und kleineren Schriften über englisches Recht und englisches Verfassungsleben zur Verfügung, die er mir durch einen Diener in meine Wohnung bringen ließ; und bald darauf wurde ich zu Tische in sein Haus gebeten. Es war das erste und auch wohl einzige Essen, das ich in der eigentlichen vornehmen englischen Gesellschaft mitgemacht habe. Der Diener, der dem Ankömmling die Flügeltüren des Empfangssaales öffnete, rief dessen Namen aus, wodurch er den Anwesenden als vorgestellt galt; die später Gekommenen hatten ihn freilich nicht gehört. Ich beging aber damals noch den Fehler, durch den ich mich nach englischer Anschauung als deutschen Barbaren zu erkennen gab, daß ich den Hausherrn bat, mich der Dame, die ich zu Tische führen sollte, vorzustellen. Wenn das erforderlich gewesen wäre und der Hausherr die Dame nicht vorher über mich unterrichtet gehabt hätte, hätte er es natürlich von selbst getan. Jedenfalls durfte ich ihn nicht darum bitten. So sehr das in Deutschland Sitte war, so wenig galt es in England als vornehm, die Eingeladenen, die sich unter dem Dache ihres Wirtes von selbst als vorgestellt fühlen und sich unter der Hand nach einander erkundigen mußten, einander formell vorzustellen. In Deutschland ging man damals in der Emporkömmlingsanschauung, mit keinem eine Unterhaltung anknüpfen zu dürfen, dem man nicht vorgestellt worden, so weit, daß man selbst im Eisenbahnabteil, wenn man Lust hatte, mit seinem Gegenüber zu sprechen, zunächst seinen Namen nannte oder gar seine Besuchskarte überreichte; und merkwürdigerweise meinte man damit eine englische Sitte nachzuahmen, obgleich gerade in England, wie ich mich bald überzeugte, diese Sitte als deutsche Albernheit verlacht wurde. Ein leises Lächeln sah ich bei der Vorstellung, die auf meine Bitte erfolgte, denn auch über die Lippen des Hausherrn und meiner Damen gleiten. Weiter entgelten ließ man es mich aber nicht.

Die Erreichung des nächsten eingestandenen Zweckes meines Aufenthalts in London, einige lebendige Anschauung von der englischen Rechtsprechung zu gewinnen, die ich namentlich aus den Schriften Rudolph Gneists kennengelernt hatte, aber erleichterte mir vor allem das damalige Haupt des großen deutschen Bankhauses John Henry Schröder zu London. Herr Schröder empfahl mich, der Doppelgestalt des englischen Rechtsanwaltstums entsprechend, einerseits dem Barrister Mr. Herschell, andererseits dem Solicitor Mr. Hollams. Den Barristers, die als die eigentlichen Rechtsgelehrten von höchster gesellschaftlicher Stellung galten, fielen die Vorträge in den Gerichtshöfen zu; die Solicitors hatten alles vorzubereiten und die kleineren Rechtsgeschäfte zu erledigen. Mit dem Barrister Herschell knüpfte ich nur gesellschaftliche Beziehungen an. Der Solicitor Hollams aber förderte tatsächlich meine nächsten Reisezwecke. Er gab mir einen Angestellten mit, der nach und nach die verschiedenen Gerichtshöfe Londons mit mir besuchen, mir ihr Äußeres und Inneres zeigen und mich auch belang- und lehrreicheren Prozessen zuhören lassen sollte. Tagelang wanderten wir so herum. Mit dem House of Lords, das gerade als Gerichtshof saß, wurde begonnen. Queens Bench in Westminster folgte am nächsten Tage. Einen interessanten Prozeß verfolgten wir eine Woche hindurch in der Guildhall. Die Courts of Chancery, die Gerichtshöfe am Temple Bar, der Gerichtshof der Admiralität: alle nacheinander wurden besucht und in ihrer Besonderheit gewürdigt. Mr. Gilzean, der liebenswürdige Angestellte des Solicitors Hollams, pflegte mir alles zu erläutern und dann zum Luncheon mein Gast zu sein. Es waren lehrreiche Tage. Die alten gotischen Säle, in denen viele der Gerichtssitzungen stattfanden, gaben ihnen einen feierlich würdigen Hintergrund, und die Perücken und altertümlichen Trachten der Richter und Rechtsanwälte verliehen den Prozessen in meinen Augen das Ansehen zurechtgemachter Bühnenschauspiele. Auch die Kreuzverhöre in Strafprozessen gaben den Verhandlungen einen dramatischen Anstrich.

Einen bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte des englischen Strafverfahrens brachte der 26. Mai, den ich in London verlebte. Meine Aufzeichnung darüber lautet: »Heute morgen hat die letzte öffentliche Hinrichtung in London stattgefunden: der Fenier Barrett (also ein irischer Märtyrer) wurde gehängt. Handelt es sich auf dem Festland längst nur noch um die Frage der Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe, so ist hier der Gesetzentwurf, der die öffentlichen Hinrichtungen abschafft, erst vor einigen Tagen von beiden Häusern des Parlaments angenommen worden. Noch heute Morgen ist mitten in der Londoner City ein politischer Armesünder öffentlich gehängt worden und seine Leiche hat eine Stunde lang im Morgenwinde am Galgen über den Köpfen der Menge gebaumelt. Ich bin nicht hingegangen, mir das Schauspiel anzusehen. Die Abendblätter aber nahmen aus der Haltung der Menge Anlaß, sich zu dem Ausschluß der Öffentlichkeit bei ferneren Hinrichtungen Glück zu wünschen. Wichtig, wie dieses Ereignis für die Geschichte der englischen Justiz ist, wird es in London doch kaum besprochen; denn morgen ist der Derby Day; und London hat kaum einen anderen Gedanken, als den, ob Lady Elizabeth oder Blue Gown oder welches andere Pferd den Preis des großen Rennens davonträgt.«

Der Derby-Tag, der zu den Hauptereignissen der Londoner Season gehört, brach still und heiß und so klar an, wie die dunstige, von Rauch und Staub geschwängerte Atmosphäre der Riesenstadt es zuläßt. Die anwesenden Zuschauermassen, die die weitgedehnten Epsom Downs an den Seiten der Rennbahn füllten, zählten nicht nach Tausenden, sondern nach Hunderttausenden. Die Reichen und die Armen waren von dem gleichen Taumel der Schaulust, dem Taumel der Circenses der alten Römer ergriffen, und die Armen und die Reichen, die einen zu Fuß, die anderen zu Wagen, suchten sich, alle in ihrer Art, zu behaupten.

Ich war von Freunden aufgefordert worden, in ihrem mit Prachtpferden bespannten Wagen dem Rennen beizuwohnen und an dem, wie üblich, üppigen mitgenommenen Frühstück teilzunehmen. An das Rennen als solches aber erinnere ich mich kaum. Daß nicht Lady Elizabeth, sondern Blue Gown den Sieg davontrug, war mir durchaus gleichgültig. Um so lebhafter sind mir das bunte Gewühl der Wagen, die aufgeregte Menschenmenge, die schwüle, von Staubwolken, die alles einhüllten, erfüllte Luft und die Champagnerströme, die auf den Wagen der Reichen flossen, im Gedächtnis geblieben. Arm und Reich wogten durcheinander; und nie wieder ist mir der Gegensatz zwischen arm und reich so erschütternd vor Augen getreten, wie hier. Zerlumpte Vagabunden mit bleichen, gierigen, hungrigen Gesichtern umkauerten und umlagerten überall die Wagen der Reichen. Diese warfen ihnen wie Hunden die Reste ihres Tellers zu; und wie Hunde nagten die Ärmsten die Knochen ab und verschlangen die Fettrinden, die ihnen zufielen. Ein Grauen beschlich mich. Aber erst wenige Führer der Menschheit hatten damals die Folgerungen aus diesen Zuständen zu Ende gedacht.

Weniger aufdringlich, ja völlig verschleiert, tritt der Gegensatz an schönen Mainachmittagen auf den weitgestreckten Fahr-, Reit- und Fußwegen des naturfrischen, in köstlichen alten Baumgruppen über weiten Wiesen- und Wasserflächen und farbenreichen Blumenanlagen prangenden Hyde Parks zutage, der mit den Kensington-Gärten den einen Lungenflügel nahe dem Herzen der Weltstadt bildet, als deren anderer Regents Park gelten mag. Ohne seine Parks wäre London nicht London, und ohne die Schaufahrten und Schauritte der Londoner Nobility und Gentry im Hyde Park hätte weder der Einheimische noch der Fremde Gelegenheit, die Prachtentfaltung und das Gebaren der vornehmen englischen Welt zusammengefaßt aus der Nähe zu betrachten. Das »Gesindel« wird hier von der wachsamen Polizei ferngehalten. An der Fahrstraße und dem Reitweg, der berühmten Rotten Row entlang sind, durch Gelände von ihnen getrennt, Stühle gestellt, auf denen man damals für 2 Pence Platz nehmen konnte, um dem Schauspiel zuzusehen. Hinter den Stühlen aber drängen sich die Fußgänger.

Zwischen 1 und 3 Uhr ist die Reitstraße am belebtesten. Im Schritt, im Trab, im Galopp wogen unabsehbare Reihen stattlicher Männer und schöner Frauen, in den modischsten Reittrachten auf auserlesenen Pferden den breiten Sandweg auf und ab, an den Zuschauern vorüber. Es ist wirklich eine Augenweide. Hier und da reitet eine Schöne allein, aber in einiger Entfernung folgt sittsam ihr Groom. Ein junger »Löwe« reitet Parade. Man weiß nicht, ob er die Aufmerksamkeit mehr auf sich oder auf sein Pferd lenken will. Hier und da ziehen ganze Familien, Vater, Mutter, Söhne und Töchter mit ihrer Dienerschaft hoch zu Rosse an uns vorüber. Aber auch schmucke junge Pärchen fehlen nicht, die der Zuschauer nicht achten und offensichtlich nur einander gefallen wollen.

Die Fahrstraße ist von 5 bis 7 Uhr am reichsten belebt. Mietwagen sind oder waren damals ausgeschlossen. Prachtwagen und Prachtpferde, Kutscher mit Perücken, Diener mit gepudertem Haar! In den Wagen vorzugsweise ältere Herren und ältere Damen – die jungen reiten lieber – in den prächtigsten Modegewändern. Die Wagen fahren nur im Schritt; in vier Reihen nebeneinander fahren sie, zwei aufwärts, zwei abwärts, hart hintereinander her. Von Zeit zu Zeit stockt der Zug. Zwei alte Damen begrüßen einander von Wagen zu Wagen; eine noch begehrenswerte Schöne hat einem ältlichen Herren auf dem Fußwege, der die Fahrstraße zu beiden Seiten begleitet, einige freundliche Worte zu sagen. Aber Polizisten zu Pferde bringen den stockenden Zug bald wieder in Bewegung. O wundervoller Mainachmittag im alten, ewig jungen Hyde Park!

Natürlich wurden auch die Theater und Konzerte besucht. Der große Stern von Her Majesty's Opera, die damals im Drury Lane-Theater spielte, war die Hamburgerin Frl. Therese Tietjens, die für die größte dramatische Sängerin und für die einzige galt, die man als Cherubinis Medea und als Beethovens Leonore hören und sehen konnte. Ich hörte und sah sie in beiden Rollen. Neben ihr aber leuchtete gerade damals die zwölf Jahre jüngere Schwedin Christine Nilsson am Londoner Opernhimmel auf. Wie jeder, lauschte auch ich ihr mit Entzücken.

So hoch aber die große Oper in jenem Jahre in London stand, so tief stand das Schauspiel. Ein Stück Shakespeares in irgendwie annehmbarer Form zu sehen, war damals nicht nur in London, sondern in ganz England unmöglich. Doch gewährten die Gesellschafts-, Unterhaltungs- und Schauerstücke, die ich in verschiedenen Theatern sah, immerhin lehrreiche Einblicke in die Geschmackskreise der englischen Öffentlichkeit. Am meisten genossen habe ich die Darstellungen der französischen Truppe, die im St. James' Theatre »Nos Intimes« von Sardou spielte.

Das eigentliche musikalische Ereignis des Londoner Frühlings 1868 aber war das Händelfest, das in der dritten Juniwoche im Sydenhamer Kristallpalast stattfand. Am ersten Tage wurde der »Messias«, am zweiten eine Auswahl von Meisternummern Händels, am dritten »Israel in Ägypten« gegeben. Die Riesenräume des Kristallpalastes waren bis in die fernsten Ecken gefüllt. Orchester und Chöre bestanden zusammen aus 4000 Personen. Die künstlerische Leitung hatte Herr Costa. Die Aufführung war fast vollendet. Einige der Einzelstimmen faßten ihre Sache vielleicht zu theatralisch auf; aber die wichtigsten Einzelgesänge, namentlich die von Frl. Tietjens gesungenen, für die manche Rollen Händels eigens geschrieben zu sein schienen, kamen vollendet zur Geltung. Der Gesamteindruck der Chöre war unbeschreiblich, in »Israel in Ägypten« geradezu überwältigend. Lebhaft empfand ich damals die Wahrheit einer Äußerung unseres Gervinus, eine eigentümliche Fügung des Schicksals habe es gewollt, daß die Engländer uns unseren größten Tonsetzer kennen lehren, während wir ihnen in der Kenntnis und Schätzung ihres größten Dichters voraus seien. Jeder Engländer von einigermaßen musikalischem Sinn, kennt seinen Händel. Bei dem Schlußchor des zweiten Teiles des »Messias« erhebt sich überlieferungsgemäß die ganze englische Zuhörerschaft, um durch stehendes Zuhören ihre Ehrfurcht vor der Gewalt der Töne zu bezeugen.

Entscheidende kunstgeschichtliche Eindrücke habe ich damals in London nicht erhalten. Ein großes Hindernis war, daß die National Gallery wegen Umordnungen in jenem Sommer vollständig geschlossen war; aber die National Portrait Gallery, die ich öfter besuchte, war zugänglich. An die großen berühmten Privatsammlungen Londons, die man mir als schwer zugänglich geschildert hatte, wagte ich mich damals noch nicht. Ich lernte sie erst später kennen. Nur die herrliche Gemäldesammlung der Königin im Buckingham Palace öffnete mir durch einen glücklichen Zufall schon damals bereitwillig ihre Pforten. Der schleswigsche, in Hamburg ansässige Maler Christian Magnussen, der, wie ich schon früher erwähnte, zu unserem weiteren Familienkreise gehörte, hielt sich während jenes Frühlings und Sommers in London auf, wo er die Königin Victoria eben in ihrem Buckingham Palace zu malen hatte, die Gelegenheit aber benutzte, um einige der Meisterwerke der großen Niederländer des 17. Jahrhunderts in der berühmten Sammlung für sich zu kopieren. Magnussen verschaffte mir die Erlaubnis, ihn jederzeit im Buckingham Palace zu besuchen; und ich habe natürlich oft genug von ihr Gebrauch gemacht. Rembrandts Christus als Gärtner, sein Schiffsbaumeister mit seiner Frau, seine Anbetung der Könige, sein Selbstbildnis mit Saskia! Rubens' Sohn mit dem Falken und sein Meierhof in Laeken! Frans Hals, Cuyp, Hobbema, Ruisdael! Die ganze Künstlerreihe der alten Holländer! Was ich damals London an Zuwachs meiner Kenntnis alter Bilder verdankte, stammt alles aus dem Buckingham Palace. Aber auch meine Gespräche mit Magnussen, die in den Gaststätten der Stadt, in denen wir uns manchmal trafen, fortgesetzt wurden, förderten mein künstlerisches Empfinden. Es war eine Freude, dem entzückend liebenswürdigen Manne mit dem feingeschnittenen, von kurzem braunen Lockenhaar umrahmten und durch hellblaue Augen belebten Künstlerkopfe zuzuhören.

Völlig zu Hause fühlte ich mich im British Museum. Hatte ich doch griechische Kunstgeschichte bereits auf dem akademischen Gymnasium in Hamburg und auf der Universität Heidelberg in aller Form gehört; und hatte ich mich in die griechische Bildnerei, einschließlich ihrer kalten Nachahmung durch Thorvaldsen, doch früher vertieft als in irgendein anderes Stück der Kunstgeschichte! Wie überzeugt pries ich damals Lord Elgin, daß er die Marmorbildwerke des Parthenon nach London versetzt und somit weiteren Kreisen zugänglich gemacht habe. Daß ich dieses Lob heute zu wiederholen zögern würde, brauche ich kaum hinzuzufügen.

 

Die tiefsten Eindrücke in das geistige Leben Englands und seiner Gelehrtenkreise aber eröffneten mir meine wiederholten Besuche Oxfords, wo ich durch eine glückliche Fügung herzliche Freundschaft und Gesinnungsgemeinschaft in einem kleinen Kreise jüngerer, fortschrittlich und freigeistig gerichteter Gelehrten fand, die sich den veralteten, inzwischen freilich großenteils überwundenen Einrichtungen der englischen Universitäten gegenüber offen als leidenschaftliche Anhänger des deutschen Universitätssystems mit seiner akademischen Freiheit bekannten.

Die besten Empfehlungen für Oxford und für Cambridge hatte Mr. Goschen mir mitgegeben; sein jüngerer Bruder, der dort studierte, erwies mir viele Freundlichkeiten, und in Cambridge wie in Oxford genoß ich weitgehende Gastfreundschaft. Aber nur Oxford ist ein Stück meiner selbst geworden und geblieben. Zunächst war ich vierzehn Tage dort und wohnte im altehrwürdigen Mitre Hotel, während ich zu den Mahlzeiten meist von den Fellows (Lehrern), manchmal aber auch von den Undergraduates (Studenten) der einzelnen Colleges eingeladen wurde. Vierzehn Tage später kehrte ich nochmals nach Oxford zurück, wo ich dieses Mal als Gast des Philologen Ingram Bywater, mit dem ich innige Freundschaft geschlossen hatte, im Exeter College wohnte. Die Oxforder Freunde besuchten mich dann aber auch in London; und der rege, geistige Verkehr mit ihnen hörte erst auf, als ich England verließ.

Ein gutes Stück des unnennbaren Zaubers, den das Oxforder Leben auf mich ausübte, wird durch den eigenartigen Reiz seiner alten Gebäudegruppen und ihres Zusammenschlusses zu einheitlichen, von keinen stilwidrigen Neubauten unterbrochenen Stadtbildern bedingt. Den Grundstock der Bauten Oxfords bilden seine 19 Colleges, in denen Lehrer und Lernende zusammen wohnen, und seine vier Halls, wie die kleineren Anstalten derselben Art genannt werden. Die meisten dieser Erziehungsanstalten, deren jede ihre besondere Kapelle, ihren Kreuzgang, ihre große, als Speisesaal benutzte Halle, ihr stattliches Treppenhaus und eine große Anzahl von Zimmern für den Rektor, die Fellows, die Scholars (die zu Fellows ausgebildet werden) und die Undergraduates (die Durchschnittsstudenten) besitzt, sind noch echt alte gotische Gebäude, an denen man die englische Gotik in allen ihren Entwicklungsstufen kennen lernt. Aber auch die Baukunst der englischen Renaissance und des englischen Klassizismus kann man in den Colleges und in den eigentlichen öffentlichen Universitätsgebäuden, wie der Radcliffs Library und den Taylor Buildings verfolgen. Wie in der leicht gewundenen, von dem feinen spätgotischen Turm von Magdalens College beherrschten High Street sich ein efeuumrankter gotischer Prachtbau an den anderen anschließt, das ist einzig in seiner Art. Hier und dort rauschen die hohen breiten Kronen uralter Bäume dazwischen. Eine romantischere Stimmung, als eine Mondscheinwanderung durch Oxford sie weckt, läßt sich kaum denken.

Der Zauber Oxfords beruhte für mich aber auch auf den neuen Eindrücken seines Universitätslebens, das, von dem unseren so grundverschieden, in wissenschaftlicher Beziehung damals wohl hinter diesem zurückstand, ihm an behaglicher Lebensführung und sportlich-ästhetischer Betätigung aber überlegen war.

Ich war gerade in die Gährung geraten, in der sich die Umwandlung der alten englischen Hochschulen in neuartigere, den deutschen Universitäten verwandtere Bildungsstätten vollzog. Aber das Neue war 1868 erst in wenigen Beziehungen erreicht. Es wurde erst besprochen und, wenigstens in dem Kreise, in dem ich verkehrte, erstrebt und durchgekämpft. Was ich sah und erlebte, war noch das Oxforder Universitätsleben der guten alten Zeit. Wie es sich mir darstellte, könnte ich heute nicht besser schildern, als ich es damals in einem Aufsatze getan, den ich im Frühling 1870 im »Hamburgischen Correspondenten« veröffentlichte.

 

»Punch und andere englische Blätter pflegen von Zeit zu Zeit über das deutsche Studentenleben Bilder und Lieder zu bringen, aus denen hervorgeht, daß das Treiben auf unseren Hochschulen unseren Nachbarn jenseits der Nordsee fremdartig und humoristisch erscheint. In der Tat würden englische und deutsche Studenten, außer im edlen Rebensaft, sehr wenig Anknüpfungspunkte miteinander finden. So sehen wir denn, daß die vereinzelten Oxforder oder Cambridger Studenten, die sich einen Teil des Jahres in Bonn oder in Heidelberg aufhalten, in der Regel eine etwas unglückliche Rolle unter ihren deutschen Kommilitonen spielen; und umgekehrt würde der Bonner, Heidelberger und Göttinger Student in Oxford oder Cambridge sich zuerst nichts weniger als heimisch fühlen und bei seinen angelsächsischen Standesgenossen ebensooft anstoßen, wie diese bei uns. Der Grund hierfür liegt in dem grundverschiedenen Aufbau der Universitäten hüben und drüben. Es sind eigentlich Bildungsstätten ganz verschiedener Art, die man in Deutschland und die man in England als Universitäten bezeichnet.«

»Döllinger charakterisiert in seiner Schrift ›Die Universitäten sonst und jetzt‹ die englischen Hochschulen nur als verlängerte Gymnasien, »verbunden mit geistlichen Kollegien und einer Beigabe von etwas Theologie«. Ernest Renan sagt in seinen »Questions temporaires« wörtlich: »Une université allemande de dernier ordre, Gießen ou Greifswald, avec ses petites habitudes étroites, ses pauvres professeurs à la mine gauche et effarée, ses privatdocents hâves es faméliques, fait plus pour l'esprit humain que l'aristocratique université d'Oxford avec ses millions de revenu, ses collèges splendides, ses riches traitements, ses fellows paresseux,« und, um nicht nur »foreigners« reden zu lassen, der Engländer Rev. G. H. D. Matthews weist in seiner Schrift »English Bachelors of Art and Prussian freshmen« nach, daß die Reifeprüfung, mit der die jungen Leute in Preußen die Universität beziehen, bedeutend schwerer ist, als das abschließende, angeblich unseren Doktorprüfungen entsprechende englische Bachelor-Examen, mit dem die Mehrzahl der englischen Studenten die Universität verläßt. Daß diese Auffassung nicht übertrieben ist, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich war in Oxford Zeuge einer solchen öffentlichen Prüfung und konnte feststellen, daß die Jünglinge, die hier »graduiert« wurden, auf irgendeinem deutschen Gymnasium beim Abiturientenexamen wahrscheinlich durchgefallen wären. Am merkwürdigsten war dabei, daß den Kandidaten vorher der lateinische oder griechische Schriftsteller, ja der Abschnitt eines Werkes desselben angegeben worden, in dem sie sich vorbereiten sollten, eine Methode, bei der wir von einem Tertianer dasselbe verlangen würden.«

»Folgt aber hieraus, daß die Wissenschaft in England überhaupt so viel niedriger steht als bei uns? Gewiß nicht. Die Wissenschaft ist nur nicht an die Universitäten gebunden, wie bei uns; und die englischen Universitäten verfolgen ganz andere Ziele als die unseren. Sie sind mehr noch Erziehungs- als Unterrichtsanstalten. Der Unterricht beschränkt sich in den meisten Fällen auf Mathematik und das altklassische Schrifttum. Juristische, medizinische und theologische Fachstudien werden auf diesen englischen Universitäten nur getrieben, soweit sie für einen Gentleman von allgemeiner Bildung in Betracht kommen. Wenn Ärzte oder Juristen die Universitäten Oxford oder Cambridge besucht haben, so ist das ein Luxus, den sie sich leisten gekonnt, weil sie vermögend waren. Die Jugend der breiten, weniger vermögenden Volksschichten zu bilden, sind diese Universitäten überhaupt nicht da. Ihre Berufsstudien machen die Ärzte auf den Fachschulen zu London und Edinburg; und die Advokaten, aus denen, wie in unseren Hansestädten, die Richter gewählt werden, bilden sich praktisch und theoretisch zugleich in den Advokaten-Innungen zu London. Die Theologie spielt neben den griechischen und römischen Klassikern noch die größte Rolle in Oxford, wie ja auch die sittlich-religiöse Erziehung der jungen Leute, freilich im einseitigsten anglikanischen Sinne, eine Hauptaufgabe der Universitäten sein will.«

»Der deutsche Student wird als geistig mündig angesehen. Sobald er die Universität bezogen hat, hat er für seine weitere ethische und wissenschaftliche Bildung selbst zu sorgen. Die englischen Studenten dagegen werden, obgleich sie durchschnittlich in demselben Alter stehen wie die unseren, als Knaben behandelt und wollen so behandelt sein. Von unserer gepriesenen ›akademischen Freiheit‹ herrscht in Oxford das gerade Gegenteil. In ihrem Studium sind die englischen Studenten an die Leitung ihrer ›Tutors‹ gebunden; und ihr Lebenswandel steht unter strenger Aufsicht. In den Colleges herrscht eine fast klösterliche Zucht. Zweimal am Tage ist Gottesdienst in der Kapelle des College. Bis vor kurzem waren alle Scholars und Undergraduates gezwungen, dem Gottesdienst ihres College wenigstens einmal an allen Werktagen und zweimal Sonntags beizuwohnen. Erst neuerdings sind einige Colleges mit dem guten Beispiel vorangegangen, diesen Gewissenszwang abzuschaffen. Eine strenge geschlechtliche Enthaltsamkeit wird als selbstverständlich angesehen. Verfehlungen dagegen werden mit Ausstoßung bestraft. Ebenso bestraft wird auch – risum teneatis amici – das Kartenspiel am Sonntag. Ich würde dieses nicht geglaubt haben, wenn es mir nicht von einem der Fellows, die diesen Beschluß gefaßt hatten – er selbst hatte angeblich dagegengestimmt – feierlichst versichert worden wäre. Der junge Freshman (Fuchs), den es betroffen, wurde mir später in London sogar vorgestellt.«

»Diese Zustände konnten sich natürlich nur infolge des College-Zwanges der alten englischen Universitäten ausbilden. Die Colleges waren ursprünglich reiche Stiftungen von Fürsten oder ihresgleichen, denen ihr weltlich-geistlicher Charakter durch die Reformation um so weniger genommen worden war, als der englische Protestantismus sich in seinen Formen und Einrichtungen überhaupt weniger von der römischen Kirche entfernte als der deutsche.«

»Die Vermögensträger der College-Körperschaften sind ihre Fellows, ihre Mitglieder, welche, unter der Bedingung der Ehelosigkeit und der Bekennung zur anglikanischen Kirche aus der Zahl der Bachelors gewählt werden. Sie erhalten Wohnung und Kost nebst einem hübschen Jahresgehalt gegen die allgemeine Verpflichtung, sich den Wissenschaften zu widmen, der in den meisten Fällen aber die besondere Verpflichtung anhängt, im Collegegebäude zu wohnen und die Studenten zu unterrichten. In ihrer Eigenschaft als Lehrer werden sie Tutors genannt. Die Fellowschaften sind an sich lebenslänglich; doch erlöschen sie durch Verheiratung oder durch den Erwerb eines gewissen Vermögens.«

»Die Fellows selbst wählen ihren Rektor, der in den verschiedenen Colleges als Master, als Warden, als Prevost oder als President bezeichnet wird. Dieser darf verheiratet sein. Außerordentliche Mitglieder der Stiftung sind die ›Scholars‹, d. h. die Studenten, die aus dem Stiftungsvermögen oder aus den zu diesem Zwecke errichteten Sonderstiftungen Stipendien empfangen. Solche Stipendien erhält der einzelne stets nur auf fünf Jahre. Aus den Reihen dieser Scholaren gehen aber meist die Fellows hervor, denn wie diesen Scholaren in der Regel nur durch ihre Stipendien ermöglicht ist, das teure Universitätsleben mitzumachen, so sind sie eben wegen ihrer Mittellosigkeit in der Regel auch die einzigen, die sich zu den Lehrerstellen der Colleges hergeben. Die übrigen Studenten, die eigentlichen »Undergraduates«, die meist der »Nobility« oder der »Gentry« des Landes angehören, und keinen anderen Ehrgeiz haben, als zu » perfect gentlemen« ausgebildet, die Universität als Bachelors of Art zu verlassen, müssen für Wohnung, Kost und Unterricht in den Colleges ihre teuren Preise bezahlen, leben dafür aber auch mit einer Bequemlichkeit, von der auch die reichsten Studenten unserer Universitäten kaum einen Begriff haben. Die Ausstattung ihrer Zimmer müssen sie selbst besorgen; aber ohne kostbare Teppiche, schwere Vorhänge, bequeme Lehnsessel und Luxusmöbel jeder Art habe ich so eine englische Studenteneinrichtung nie gesehen.«

»Das Mittagessen wird in der großen Speisehalle des College von Rektor, Fellows und Undergraduates gemeinsam eingenommen. Die Fellows sitzen an einer besonderen Tafel auf etwas erhöhtem Estrich. An ihrem Tische kreist an jedem Tage die Weinflasche, während die Studenten sich an den Wochentagen beim Mittagessen mit Bier begnügen müssen. Nach der Mahlzeit ziehen die Fellows sich in ein besonderes Nachtischgemach zurück. Es ist in der Regel ein kühles, auf Hof oder Garten gehendes, altertümlich getäfeltes Zimmer mit Aussicht auf die Kreuzgänge oder das frische Grün der Gartenhöfe. Durchs offene gotische Fenster rankt der Efeu herein. Auf der Tafel winken die köstlichsten Früchte des Gartens und die seltensten Weine des Kellers. Hier wird bei geistig angeregten Gesprächen die schönste Stunde des Tages gefeiert; hier wird der Fremde aufs Gastfreieste bewirtet und belehrt; hier kann er sich eines gelinden Neides kaum erwehren, wenn er an die äußere Armseligkeit des deutschen Dozententums denkt.«

»Auch die Undergraduates pflegen sich für den bei Tisch entbehrten Wein nachmittags und abends in ihren behaglichen Zimmern reichlich zu entschädigen. Da sind die Freunde aus benachbarten Colleges zu Besuch; da dauern Lärm und Lachen bis in die Nacht hinein. Erst um Mitternacht wird das Tor geschlossen; hinausgelassen wird nach dieser Zeit kein Angehöriger des College mehr; und wer später zurückkehrt, wird vom Pförtner aufgeschrieben und erhält in den Listen, die über sein Betragen geführt werden, einen »schlechten Strich« mehr.«

»In ihren »Buden«, wie wir sagen würden, genießen die Studenten übrigens eine ziemlich unbeschränkte Freiheit. Die gegenseitigen Einladungen, die einen Hauptreiz des englischen Studentenlebens ausmachen, beginnen schon mit dem ersten Frühstück, das, wie überhaupt in England, auch hier eine Hauptmahlzeit ist. Der Fremde wird mit Vorliebe zu diesen Morgengesellschaften eingeladen; und das englische Klima hilft ihm sogar über die Erdbeerbowle (in starkem Rotwein) hinweg, die sich gleich in der Frühe daran anschließt. Die äußeren Formen bleiben bei den Gelagen in der Regel gewählt und beherrscht; doch geht es nichts weniger als philiströs zu. Man möchte es einen Jammer nennen, wenn diese efeuumrankte Gemütlichkeit, diese rebensaft-getränkte Wissenschaftlichkeit mit der Durchbrechung des College-Systems, wie es angebahnt wird, aufhören sollte.«

»Alle Colleges gemeinsam umfaßt die Universität als solche, zu der eine Reihe der öffentlichen Institute, wie Museen, Bibliotheken, Examenshallen usw. gehören. Ihre Träger sind zunächst die Professoren, die aber, wohlgemerkt, ihrer Mehrzahl nach ebensowenig wie die Fellows der Colleges ihre Besoldung vom Staat empfangen, sondern auf bestimmte Sonderstiftungen angewiesen sind. Die Professoren erscheinen hier mehr als freie Vertreter der Wissenschaft, als daß sie durch Vortrag und Lehre methodisch unterrichteten. Ihre Vorlesungen, die gering an Zahl und rhetorisch in der Aufmachung sind, können nur allgemeine Anregungen geben. Daß der Schwerpunkt des Universitätsunterrichts auch in den Colleges liegt, trat bis vor kurzem, wenigstens in Oxford, schon äußerlich dadurch zutage, daß es keinen Studenten der Universität als solcher gab. Jeder war gezwungen, einem College oder einer Hall anzugehören. Doch zählt gerade diese Beschränkung zu den alten Einrichtungen, die in diesen Tagen aufgehoben worden sind.«

»Auch ein wesentlicher und wichtiger Zweig des englischen Studentenlebens, das Sportwesen, dem der Engländer die leibliche Frische und schmucke Kraft seiner jungen Gentlemen verdankt, ist nicht an die Colleges gebunden, sondern in Oxford wie in Cambridge gemeinsame Universitätssache. Der einzige Sport unserer deutschen Universitäten, das »Pauken« und das »Kneipen«, d. h. das Fechten und das Trinken nach hergebrachten »ritterlichen« Regeln, ist in England, wo die »Mensuren« unserer Studentenverbindungen in der Regel mit den in England längst verpönten Duellen verwechselt werden, ebenso unbekannt, wie das ästhetisch und hygienisch fördersame englische Sportswesen in Deutschland. Selbst der Rudersport, der in einigen deutschen Städten anfängt – ich schrieb dies 1868 – aufzukommen, wird in unseren Studentenkreisen leider noch völlig verschmäht, und selbst das deutsche Turnen gilt hier leider, wenigstens in Korpskreisen, als anrüchig und nicht »kommentmäßig«. An den englischen Universitäten bestehen für das Sportwesen besondere Klubs, die sich aus Mitgliedern verschiedener Colleges zusammensetzen und dadurch ein willkommenes und ersprießliches Vereinigungsmittel der sonst durch Collegemauern getrennten Kommilitonen bilden. Neben dem deutschen Turnen, das neuerdings anfängt Eingang zu finden, geben gymnastische Übungen nach englischem Schnitt und ästhetische Spiele mehr antiker Art Anlaß zu regem Wettbewerb verschiedener Sonderverbindungen. Die beiden Hauptsporte der englischen Studenten aber sind das berühmte Kricketspiel und das Wettrudern. An den alljährlichen großen Kricket-Matches und den alljährlichen großen Boat-Races, die zwischen Oxford und Cambridge ausgefochten werden, nimmt ganz England teil. Jeder Engländer kennt die Namen der letzten Oxforder Sieger im Wettrudern – Oxford siegt seit einer Reihe von Jahren immer – und beteiligt sich mit Kopf und Herz durch Wetten oder stille Anteilnahme an dem Ausgang der Kämpfe; und wie keck und bunt beleben die enganschließenden, edle Gestalten enthüllenden Trachten der Ruderer mit ihren farbigen Kappen die malerischen Straßen Oxfords und Cambridges; und wie hübsch und freundlich belebt erscheinen die Themse und der Cam mit ihren Hunderten von schlanken Booten und deren geschmeidigen Insassen.«

»Daß vom künstlerischen und gesundheitlichen Standpunkt aus betrachtet die englischen Studentensports unseren deutschen Mensuren und Kneip-Tournieren überlegen sind, bedarf keines weiteren Beweises. Wenn die Engländer neuerdings mit großer Aufrichtigkeit und Bescheidenheit die geistige Überlegenheit unserer Universitäten anerkennen, so geziemt es uns, auch unsererseits einzuräumen, wie viel wir in bezug auf die Leibesübungen von den Engländern lernen können.«

»Außer diesen Klubs für körperliche Übungen gibt es an den englischen Universitäten aber auch wissenschaftliche Vereine, die aus Studenten verschiedener Colleges bestehen. In diesen lernen die angehenden Members of Parliament jene Schlagfertigkeit und jene Treffsicherheit im Ausdruck, die im englischen Staatsleben erfordert wird. In einem solchen Studentenverein in Oxford hatte ein Mitglied, während ich als Gast zugegen war, angezeigt, er würde in der nächsten Sitzung den Satz aufstellen und verteidigen, »daß eine absolute Monarchie in England die auswärtige Politik, die einheimische Gesetzgebung, die Kunst, die Literatur und die Sittlichkeit des Landes heben würde«. Ob ihm das Ernst gewesen, weiß ich nicht; aber darauf kommt es auch nicht an. Die jungen Leute lernen in solchen Debatten doch reden; und die vielen Gegner, die gegen seine Behauptung aufgestanden sein werden, sind doch gezwungen gewesen, längst Gewußtes und Empfundenes in klare Worte zu fassen und in parlamentarischer Ausdrucksweise zur Geltung zu bringen.«

»Jedenfalls erfüllen die englischen Universitäten, wie sie sind, vollständig ihren Zweck, geistig und leiblich gleichmäßig ausgebildete Männer der besten Gesellschaft zu erziehen, die vielleicht etwas einseitig in ihren Anschauungen, aber mit warmer Teilnahme und vollem Verständnis für die geistigen Bewegungen ihrer Zeit und ihres Landes ausgerüstet und vorbereitet sind, tätigen Anteil an dem Leben und Treiben eines mächtigen Gemeinwesens zu nehmen. Oxford und Cambridge ohne weiteres als ganz veraltete, Englands unwürdige Institute hinzustellen, wäre unzweifelhaft verkehrt. Aber ebenso unzweifelhaft werden wir die Bestrebungen, diesen alten englischen »Geistesaugen« durch zeitgemäße Reformen, zunächst im deutschen Sinne, einen erweiterten, unseren Universitäten ähnlicheren Wirkungskreis zu schaffen, durchaus anerkennen müssen. Da das Parlament Miene machte, einzugreifen, haben die Universitätsbehörden, die auf ihre Autonomie stolz sind, sich in den letzten Jahren herbeigelassen, manche Reformen aus freien Stücken durchzuführen, zu denen der englische Volkswille sie durch seinen befugten Träger sonst über kurz oder lang gezwungen haben könnte.«

 

Alles dies schrieb ich 1868. Seitdem hat sich hüben und drüben viel verändert; aber diese Veränderungen zu schildern, ist hier nicht meine Aufgabe. In dem kleinen Gelehrtenkreise, dem ich meinen raschen Einblick in die Oxforder Verhältnisse verdankte, wurden damals namentlich zwei Forderungen der »akademischen« Freiheit als noch unerfüllt erörtert: die deutsche »Lehr- und Lernfreiheit«, von der auch in englisch geführter Unterhaltung immer in dieser deutschen Sprachform die Rede war, und die »Gewissensfreiheit«, deren Beeinträchtigung die »Religious Test Question« hervorrief. Die Fellowships waren eben in ganz Oxford noch an das anglikanische Glaubensbekenntnis gebunden. Aber es wurde allgemein zugegeben, daß die Beseitigung dieses Mißstandes manchem Fellow eine notgedrungene Heuchelei ersparen, manchem die Augurenmaske vom Gesicht reißen und manche religionsphilosophische Erörterungen zulassen würde, die sich damals in Oxford noch in geheime Freidenkerbünde verkriechen mußten.

Besonders lebhaft sind mir zwei meiner Oxforder Freunde, die mich später auch in Deutschland besucht haben, in der Erinnerung geblieben: Ingram Bywater, ein mittelgroßer, blonder und grauäugiger Angelsachse mit feingeschnittenem Gesicht, der sich später mit einer bekannten englischen Kunstschriftstellerin verheiratete, und Charles Appleton, ein kleiner, keltisch dunkler, beweglicher Fanatiker, der schwindsüchtig dreinblickte und jung gestorben ist. Bywater war damals ein humoristisch und sarkastisch veranlagter Skeptiker, der eigentlich immer über den Dingen stand und in seiner Art ein Lebenskünstler war. Appleton war überzeugter Anhänger jedes politischen und religiösen Umsturzes.

Appleton gab mir, da ich noch einen Blick auf die Südküste Englands werfen wollte, eine Empfehlung an den bekannten achtzehnhundertachtundvierziger deutschen Flüchtling Arnold Ruge (1803 bis 1880), der damals in Brighton, dem englischen Seebad, lebte, das mit seinen durchaus städtischen Straßen eigentlich nur ein an den Meeresstrand versetztes Stück Londons ist. Ruge, der sich als Schriftsteller und Herausgeber auf allen Gebieten des Schrifttums getummelt hatte, und schon als neunzehnjähriger Burschenschafter zu Haftstrafen verurteilt worden war, hatte sich, seit 1832 Privatdozent in Halle, durch die Herausgabe der Hallischen Jahrbücher einen Namen gemacht, war 1848 von Breslau zur Frankfurter Nationalversammlung gewählt worden, wo er sich der äußersten Linken anschloß, aber nach den Leipziger Maitagen, an denen er sich beteiligt hatte, 1850 nach England geflüchtet. Ich lernte einen liebenswürdigen, gesprächigen, bebrillten alten Herrn in ihm kennen, der mich im voraus für die beiden Tage, die ich in Brighton zubrachte, zu allen Mahlzeiten einlud. Ruge erzählte mir viele Einzelheiten aus seinem unruhigen Leben, von dem ich natürlich nur die Hauptereignisse kannte, namentlich von seinen Verschwörungen mit dem französischen Flüchtling Ledru-Rollin und dem italienischen Revolutionär Mazzini, die sich, wie er, in Brighton niedergelassen hatten, aber auch von seiner Bekehrung durch die Ereignisse von 1866 zu dem preußisch-deutschen Einheitsstaat Bismarcks. Wegen seiner Verdienste um Deutschlands Einheit erhielt der alte Umstürzler später, seit 1877, vom Reiche einen Ehrensold, der ihm wohl zu gönnen war.

Damals trat Ruge mir als Idealist vom reinsten Wasser entgegen. Heraklit, Plato und Hegel waren ihm die einzigen Philosophen. Von Feuerbach wollte er nichts wissen. Schiller schien ihm noch immer der einzige Dichter zu sein. Shakespeare war ihm zu derb, Goethe zu sinnlich, Heine zu launisch, Rückert zu hausbacken. Da wir beide für Deutschlands Einheit und Freiheit schwärmten, wie ich sie in meinen norddeutschen Sonetten verteidigt hatte, verstanden wir uns ausnehmend gut. Es tat meiner deutschen Seele nach all den englischen Gesprächen in Oxford wohl, wieder einmal in geistvoller deutscher Unterhaltung zu schwelgen.

Als Gegengabe gegen meine Sonette gab er mir einige seiner Dramen, namentlich ein Lustspiel, mit auf den Weg, über das er meine Meinung zu hören wünschte. Sein Brief über meine Sonette, den ich noch in Brighton vor meiner Abreise erhielt, schloß mit den Worten: »In Versen sind Sie ja auch politisch ganz korrekt, während sie eher eine kleine religiöse Konzession machen.«

Auf mein Schreiben über sein Lustspiel erhielt ich seine Antwort, der einige Empfehlungen an seine Freunde in Amerika beigelegt waren, erst zwei Monate später in Neuyork. Sie ist zu charakteristisch für Ruge, als daß ich sie verschweigen möchte. »Namentlich freut mich, daß sich das Lustspiel Ihrer Gunst erfreut. Ich dachte, es ließe sich aufführen und bildete mir ein, da die Lustspiele, die man so nennt, wenn ich den Dänen ausnehme, alle miteinander ohne Komik sind, so würden die Deutschen etwas wirklich Komisches als etwas Neues begrüßen und darüber lachen. Darin habe ich mich aber geschnitten. Sie haben darum keine Lustspiele, weil sie zu dumm sind, um Spaß zu verstehen. Auch machen sie sich den Teufel was aus Form und Schönheit. Die sogenannte klassische Periode war ein aristokratischer Schwindel, den das Rhinozeros fallen ließ, sobald die hohen Protektoren sich zurückzogen. Am meisten muß man sich jedoch wundern, daß dem Deutschen ganz und gar die komische Ader fehlt, die in England überall sprudelt.«

»Amerika ist darin, wie in allen Dingen, noch der Superlativ von England. Ich denke, Sie müssen sich prächtig unterhalten, wenn Sie darauf achten wollen. Die politische Bewegung der Präsidentenwahl wird Stoff zur Volkskritik geben. Ich wünsche Ihnen viel Glück zur Reise.«

 

Ehe ich meine Fahrt über den Ozean antrat, suchte ich den Einblick, den ich in die Verhältnisse des keltisch-angelsächsisch-normannischen Königreichs gewonnen hatte, auf einer zweimonatigen Reise durch Mittel- und Nordengland, durch Schottland, Wales und einen Teil von Irland zu erweitern. Für meine anerkannten Reisezwecke kam wenig dabei heraus. Ich hatte vortreffliche Empfehlungen nach Schottland. Aber in Edinburg und den übrigen schottischen Haupt- und Hochschulstädten hatten die Gerichts- und Schulferien gerade begonnen. Alle Welt war ausgeflogen. Ich klopfte überall an verschlossenen Türen. So reiste ich denn, auf mich selbst angewiesen, nur als »Tourist«, gewann aber doch neue und bleibende Eindrücke auf den Gebieten der Baukunst, des landschaftlichen Naturgenusses und der vergleichenden Menschenkenntnis; und an den länger werdenden Abenden vertiefte ich mich in die Schöpfungen der englischen, schottischen und irischen Lyriker von Scott und Byron zu Burns und Moore, und von diesen zu den einander so entgegengesetzten lebenden Größen wie Alfred Tennyson, dem glatten, reinen Poeta laureatus des offiziellen Englands, und zu Charles Algernon Swinburne, dem Lieblingsdichter der jungen Oxforder Gelehrten, die mich auf ihn hingewiesen hatten. Auch mir tat Swinburne es an. Seine schwüle Sinnlichkeit schien mir durch eine volle, warme, anschauliche Ausdrucksweise und eine weiche, geschmeidige Verskunst geadelt zu werden. Auf seinen Schultern stand Oscar Wilde, der in weiteren Kreisen Europas bekannt wurde als er.

In den englischen Städten, die ich besuchte, warb jetzt zunächst die geistesmächtige Welt der mittelalterlichen Kathedralenbaukunst, in die ich schon vor sieben Jahren einen empfänglichen Blick getan hatte, in ihrer ganzen romanisch-normannischen und gotischen Herrlichkeit um meine Liebe. Doch ließ ich mich halb widerwillig von ihr gefangen nehmen. Ich hatte mich inzwischen fast ausschließlich auf die Klassik, die Renaissance und den Klassizismus eingestellt. Im Kreise meiner Oxforder Freunde galt ich als Verächter der Gotik, und wirklich schrieb ich damals

»Denn in häßlichen Gebäuden,
Gotisch, dunkel, spitz und kalt,
Wohnen Götter ohne Freuden,
Ohne Schönheit und Gestalt.«

Es war eine Art Trotz in mir, mich keinen mittelalterlichen Eindrücken gefangen geben zu wollen. Aber ich hätte keine empfänglichen Sinne haben müssen, wenn jetzt auf dieser Fahrt in den großartigen romanisch-normannischen Domen von Ely und von Peterborough, deren gotische Anbauten ihnen ein so warmes Eigenleben verliehen, und in dem berühmten, von farbigem Lichte erfüllten Münster von York, an dem mir freilich der gerade abgeschnittene Chor und die gerade abgeschnittenen Türme der englischen Gotik mißfielen, mein Trotz nicht allmählich gebrochen worden wäre und besserem Verständnis Platz gemacht hätte.

Auf der Weiterreise freilich kämpfte der Klassizismus noch einmal mit aller Macht um die Vorherrschaft in meinem Innern. Wie vornehm die Parthenonsäulen auf Calton Hill in Edinburg, auf dem eine genaue Nachbildung des Haupttempels der Akropolis von Athen erstehen sollte, nun aber, unvollendet, als eindrucksvolle Ruine die Stadt beherrschte! Wie fein Thomas Hamiltons (1785 bis 1850), des griechischsten der britischen Griechen, High School in Edinburg, die am meisten von allen Schöpfungen dieser Art in England denen unseres Schinkel gleicht! Und dann, etwas später, wie mächtig zusammengeschlossen Saint Georges Hall in Liverpool, der Wunderbau des jungverstorbenen Meisters Harvey Lonsdale Elmes (1813-47), in dem der Klassizismus wieder klassisch wird! »Das schönste Gebäude Englands« nannte ich sie, als ich vor ihr stand.

Aber als ich, im späteren Verlauf dieser Reise, dann an den gotischen Urdomen Nordfrankreichs emporsah, die von aller Klarheit und aller Mystik echt gotischen Empfindens umflossen waren, verflogen alle meine einseitig klassizistischen Anwandlungen vor der Erkenntnis der Vorzüge einer ursprünglichen, aus eigensten Wollen und Können emporgewachsenen vor einer angelernten, im besten Falle anempfundenen Kunstweise.

In Edinburg, dessen felsiges Berggelände sich wie das Athens über dem Küstenstreifen erhebt, an dem die Hafenstadt – hier Leith, dort der Piräus – sich dem Meere zuwendet, wirkt der Klassizismus so ursprünglich, wie in keiner anderen nordischen Stadt der Welt. Gerade als Schöpfung der Städtebaukunst im Anschluß an eine gegebene, reizvolle Landschaft, war Edinburg, das man auch als die »Königin« der Städte bezeichnen hört, mir eine neue Offenbarung. Jedenfalls sind, von einigen Stadtteilen Londons abgesehen, Bath, das ich schon vor acht Jahren kennen gelernt hatte, und Edinburg, in dem ich jetzt vierzehn Tage verweilte, die baukünstlerisch bedeutsamsten Städte des Inselkönigreichs, und jedenfalls hat Edinburg schon seine freie hohe Lage zwischen den Berggipfeln des Arthurs Seat und des Calton Hill, von denen der Blick weit über Land und Meer hinaus schweift, vor allen Großstädten Nordeuropas voraus. Einsichtige Baumeister aber haben gerade in Edinburg auch das ihre dazu getan, das malerisch reiche Naturbild durch zweckmäßige Straßen- und Plätzeanlagen zu einem Städtebild sondergleichen zu gestalten. Schon 1767 hatte James Craig die großartig einheitlichen Pläne zur Bebauung der Oberstadt mit ihren vornehmen, von sieben Querstraßen durchschnittenen Parallelstraßen geschaffen, von denen die nur an einer Seite bebaute Princeß Street vielleicht die malerischste Großstadtstraße der Welt ist, die mittlere Georges Street aber an beiden Enden in grüne Viereckplätze mündet. Auch die Terrassen- und Halbkreisstraßen am Abhang von Calton Hill und der Royal Circus genannte Platz, die William Henry Playfair seit 1815 hinzufügte, gaben der schottischen Hauptstadt schon damals den vornehmen baulichen Charakter, der inzwischen immer weiter ausgebaut worden ist. Ich kenne noch heute keine andere Großstadt, in der Natur und Baukunst so innig verbunden wirken wie in Edinburg.

Mit voller Inbrunst vertiefte ich mich dann in die Schönheiten der schottischen Hochlandsnatur, in der mich Burns und Scotts Gedichte begleiteten und begeisterten; im grünen Herzen des Landes die Waldgebirge bei Perth und Blair Athole und die vielbesungenen schwarzen Landseen Loch Lomond und Loch Katrine, die sich mir, wie so vielen, freilich in einen grauen Regenmantel hüllten; weiter im Norden die Durchfahrt von Inverneß an der Ostküste zu Oban an der Westküste durch die von steilen, rotblühenden Heidebergen eingefaßten dunklen Seen, den Kaledonischen Kanal und die klargrüne westliche Meerbucht, zu deren Linken der Ben Nevis, der höchste Berg Schottlands, ragt; ganz im Westen Schottlands aber die wilde Felsenküste mit ihren Buchten und Inseln, von denen Jona durch eines der ältesten christlichen Heiligtümer im Norden Europas, Staffa aber durch seine von natürlichen Basaltsäulen gebildete Fingalshöhle berühmt ist, in die auch bei ruhigem Wetter die Dünung donnernd hereinschwillt. Wohlgebaute Dampfschiffe, der Stolz Glasgows, führten mich, wie von Inverneß nach Oban, so auch zu diesen und anderen Inseln. In das Innere der Fingalshöhle, die von dem Geist Ossianischer Gesänge erfüllt ist, führt ein schmaler schlüpfriger Pfad an der Basaltwand über der schwellenden Flut entlang. Drinnen erweitert der Pfad sich zu einem Hallenboden. Wie Orgelbrausen erklang das dumpfe Tosen der Brandung. Die englischen Herren, in deren Begleitung ich die Fahrt unternommen hatte, aber entblößten ihre Häupter und stimmten das Lied » God save the Queen« an.

Hatte ich vor acht Jahren Südwales bereist, so lernte ich, weiterfahrend, jetzt Nordwales, das meerumrauschte, felsige, an stillen Badeorten und kühlen Sommerfrischen reiche Keltenland kennen, in dessen Mitte sich, steil zugespitzt, der höchste Berg Englands, der Snowdon, fast bis zur Höhe unseres Brockens erhebt.

Den Schluß aber bildeten die Killarney Lakes im Südwesten Irlands, des »Esmerald Island«, der Smaragdeninsel, die mir damals mit ihrem saftig-üppigeren Pflanzenwuchs und ihrer südlich-heiteren Bevölkerung nach der Rauheit Schottlands und Wales' wie eine andere, beinahe wie eine schönere Welt erschien. Ich verstand die Liebe der Iren zu ihrer Heimat, verstand aber nicht, weshalb die Engländer, die sich über die Unterdrückung anderer Völker durch andere Reiche immer so aufregten, es als selbstverständlich ansahen, hier selbst ein Schulbeispiel der Unterdrückung eines fremden Volkes aufzustellen. Der Gegensatz des kindlich natürlichen, gutmütigen, feurigen, immer zu Scherzen aufgelegten irischen Volkes zu dem harten, herberen, trockeneren, aber biederen schottischen Geschlecht kam mir schon im Verkehr mit Schiffern, Kutschern, Aufwärtern und Hausdienern, auf die der Fremde angewiesen zu sein pflegt, lebhaft zum Bewußtsein.

Übrigens war ich während der zwei Monate dieser Reise, auf der ich teils keine Empfehlungen abzugeben hatte, teils, wie schon bemerkt, keine abgeben konnte, äußerst selten auf mich allein und auf einsame Betrachtungen angewiesen. Ich habe nirgends in der Welt auf Reisen so leicht Anschluß gefunden wie in England, Schottland und Irland. Die Engländer sehen beim ersten Blick, ob man zueinander paßt, und finden es dann selbstverständlich, daß man ohne weiteres miteinander verkehrt, als habe man sich schon lange gekannt. Weitaus am liebsten aber war mir mein Reisegefährte in Wales.

Zwölf Tage reiste ich hier in Gesellschaft meines Bruders Adolph, des nachmaligen Reichstagsabgeordneten und »königlichen Kaufmanns«, wie Bismarck ihn nannte. Damals hatte er, zwanzigjährig, seine Lehrzeit in Hamburg beendet und trat seine kaufmännischen Wanderjahre an. Wie ich vor acht Jahren, wollte er mit einem Segelschiff meines Vaters, das in Cardiff seine Kohlenladung einnahm, nach Singapore und von dort zu Dampfschiff nach Batavia weiterfahren, wo er ein Jahr blieb, ehe er nach Afrika ging.

Wir trafen uns in Chester, der mittelenglischen Stadt, die nicht nur durch ihren Käse, sondern auch durch die altertümliche Bauart ihrer Giebelhäuser berühmt ist. In einigen ihrer Straßen führen, wie in Münster, Laubengänge, die den vorderen Teil der Erdgeschosse der Häuser unterhöhlen, an den Seiten entlang; und der Spazierweg auf den alten Stadtmauern erinnert an den in Nördlingen. Nachdem wir uns in Chester ausgesprochen und umgesehen, fuhren wir zunächst nach Liverpool, wo ich meinen alten Freund, den Great Eastern, noch einmal wiedersah, und traten dann die Reise nach Wales an. Von Llanberis aus bestiegen wir den Snowdon. Wir ritten auf Ponys hinauf. Der Berg ist kahl und schroff. Durch Nebelgewölk ging es an steilen Abhängen vorbei. Oben war eine herrliche Aussicht über Berge und Buchten, über Küsten und Meeresflächen. Im Seebad Aberystwith, in dem wir einige Tage badeten, trennten wir uns. Es waren schöne Tage, die wir, wie immer, in herzlicher Brüderlichkeit genossen. Verschiedenere Naturen als die unseren konnte es kaum geben. Vielleicht verstanden wir uns aber gerade wegen dieser Verschiedenheit so gut. Die meisten meiner nächsten Freunde haben andere Berufe gehabt als ich.

Mein Bruder fuhr von Aberystwith geradeswegs nach Cardiff. Ich fuhr über Chester und Holyhead nach Kingstown, dem Hafen von Dublin, um mich, nachdem ich mich in Irland umgesehen, in Queenstown, dem Hafen von Cork, auf dem Cunard-Dampfer »Java« nach Neuyork einzuschiffen.

Als die britische Küste meinen Blicken entschwand, war mir, als hätte ich einem guten Freunde die Hand zum Abschied geschüttelt und als sei meinen Lippen dabei ein herzliches »Auf Wiedersehen« entflohen.


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