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Das Haupterlebnis, das einen deutlichen Strich zwischen meinen früheren und meinen späteren Knabenjahren zog, war die Harzreise, die meine Eltern im Juli des Jahres 1854, nachdem ich die Knabenschule verlassen, mit meiner ältesten Schwester und mir unternahmen. Die erste Nacht schliefen wir in Braunschweig. Wie ähnlich und doch wie anders blickten die alten Kirchen und Häuser hier drein als in der guten Hansastadt Lübeck, die uns von unseren häufigen Badeaufenthalten in Travemünde her heimatlich vertraut war! Die zweite Nacht schliefen wir in Goslar. Wie köstlich in dem alten Hotel Kaisersworth, dem ehemaligen Schneidergildenhaus, mit seinen acht lebensgroßen Kaiserstandbildern zu wohnen! Von da ging es nach Harzburg. Auf Pferden wurde der Burgberg erklommen. Das war doch einmal ein wirklicher Berg. Und wie herrlich die weite Aussicht von oben über das fruchtbare Hügel- und Flachland, das sich nach Norden ausbreitete! Dann bei Rübeland die Baumannshöhle mit ihren unterirdischen Tropfsteinwundern. War das Wirklichkeit oder eine Märchenwelt? Dann das Bodetal, die Roßttappe, der Hexentanzplatz! Wie wild und romantisch! Und im Gegensatz dazu das liebliche Selketal. Mein Vater hatte ja so recht, wenn er das Bodetal mit einem wilden Knaben, das Selketal mit einem sanften Mädchen verglich! Den Schluß machte Quedlinburg. Was gab es dort nicht wieder alles an feierlich Altem zu sehen! Das Rathaus mit dem steinernen Roland! Das kleine Geburtshaus Klopstocks, an dessen Grab auf dem Ottenser Kirchhof wir täglich vorübergingen! Vor allem aber – in der Schloßkirche – die wohlerhaltene Mumie der schönen Gräfin Aurora von Königsmark. Sie war schon achtzig Jahre tot und sah doch so aus, als schlummerte sie nur. Das war doch wohl das Interessanteste der ganzen Reise.
Im Herbste dieses Jahres übergab mein Vater mich einer großen Knabenerziehungsanstalt in der Nähe Hamburgs. Hatte er die Erziehung, die er seit seinem zehnten Lebensjahr in Schnepfenthal genossen, in bester Erinnerung, so hatte er die Entfremdung von seinem Elternhause, die während seiner fünfjährigen Abwesenheit eingetreten war, doch schmerzlich empfunden. Er wollte mir die Vorteile einer ähnlichen Erziehung verschaffen, mich aber zugleich dem Elternhause erhalten. Jeden Sonnabendnachmittag sollte ich nach Hause kommen, jeden Montagmorgen in die Schule zurückkehren.
Die Andresensche Knabenerziehungsanstalt in Eimsbüttel, die fünf Jahre lang mein zweites Heim sein sollte, vertrat in der Tat ähnliche Erziehungsgrundsätze wie Schnepfenthal. Als Lehranstalt stand sie auf dem Boden unserer Realschulen mit lateinischem Unterricht. Den Leibesübungen wurde ein weiterer Spielraum gegönnt, als es in unseren Schulen damals üblich war. Das durchaus ländliche Gelände unserer Anstalt, das heute von dem festen Straßennetz der Großstadt zugedeckt ist, bestand aus zwei ineinander übergehenden Grundstücken. Das vordere lag an der Fahrstraße nach Eppendorf. Es enthielt eine ältere Villa in schönem baumreichen, mit großen Teichen und einer von hohen Linden beschatteten Anhöhe ausgestatteten Garten. Von der Straße trennte den Garten ein fischreicher Bach, über den eine Brücke zum Eingang führte. Das Villenhaus diente den Lehrern der Anstalt als Wohnung. Auf den Teichen wurde im Winter Schlittschuh gelaufen. Das hintere, für die Zwecke der Anstalt hinzuerworbene Grundstück war nur an seinen Grenzen von Bäumen und Sträuchern umzogen. In ihm stand das geräumige Haupthaus mit den Schlaf- und Speisesälen der Zöglinge und der eigenen Wohnung der Familie Andresen. In zwei einstöckigen Nebenhäusern befanden sich die Schulsäle. An diese grenzte der ungewöhnlich große, auch dem englischen Kricket genügende Spiel- und Turnplatz, hinter dem das freie Feld begann. Sobald man die kleine Anhöhe, über die der Fußweg nach Eppendorf führte, erstiegen hatte, tauchte der schlichte spitze Kirchturm dieses Dorfes hinter den Kornfeldern auf. Da wir in der Alster bei Eppendorf schwimmen lernten, war dieser Fußpfad, der ungefähr vierzig Minuten lang war, im Sommer unser täglicher Weg. Doch wurde der Hinweg, um uns nicht erhitzt ins Wasser gehen zu lassen, in der Regel in großen »Stuhlwagen« auf der Landstraße zurückgelegt. Der Eigentümer und Leiter der Anstalt, Herr Andresen, dessen Vornamen ich vergessen habe, stammte aus Schleswig. Er selbst unterrichtete in Latein und in den unteren Klassen auch in den neueren Sprachen. Damals bereits ein hoher Sechziger, war er offenbar ein verständiger und wohlwollender Mann, der aber zu sehr mit sich selbst und seinem Alter beschäftigt war, um sich einer besonderen Beliebtheit bei seinen Zöglingen zu erfreuen. Die Seele der Anstalt war seine Frau, eine geborene Henriette Grädener aus Rostock in Mecklenburg. Sie war mütterlich besorgt um jeden ihrer Zöglinge, wußte jedem bei Gelegenheit ein warmes, herzliches Wort zu sagen, war eine gute Hausfrau, die die Wirtschaft umsichtig im Gange hielt, und vertrat, da sie durch und durch musikalisch veranlagt war, das künstlerische Element in der Anstalt. Sie stammte aber auch aus einer bekannten Musikerfamilie. Ihr Bruder Karl Grädener (1812-1883), der seinerzeit angesehene Tonsetzer und Spielleiter der romantischen, an Schumann anknüpfenden Schule, spielte im Hamburger Musikleben eine hervorragende Rolle. War er doch Gründer und Leiter der Akademie von 1851, die bis 1864 bestand! Hatte sein Oratorium »Johannes der Täufer« doch den Beifall aller fortschrittlich gesinnten Musiker gefunden, wurden seine feinen kleinen Klavierstücke in der Art derer Robert Schumanns doch in allen Häusern gespielt! Ja, als sich 1862 der Hamburger Tonkünstlerverein auftat, wurde Grädener dessen erster Vorsitzender. In der Erziehungsanstalt seines Schwagers erteilte er selbst den Gesangunterricht und prüfte alle Zöglinge auf ihre musikalische Begabung hin.
Die eigentliche geistige Leitung der Anstalt fiel dem jeweiligen Kandidaten der Theologie zu, der nicht nur den Religions-, sondern auch den Geschichts- und den Literaturunterricht erteilte. Als ich die Anstalt bezog, vertrat ein etwas weinerlicher, streng rechtgläubiger Herr, dessen Namen ich nicht nennen will, diese Fächer. Mit den Jungens, die ihm allerlei Schabernack antaten, wußte er gar nicht fertig zu werden. Er weinte gar über ihre Ungezogenheiten. An meiner Art, Gedichte zu sprechen, aber fand er solches Gefallen, daß er mir einredete, ich dürfe nicht Kaufmann, sondern müsse Pastor oder Professor werden. Es war das erstemal, daß der Gedanke an mich herantrat, zur Teilnahme am geistigen Leben meines Vaterlandes berufen zu sein; und wie dieser Gedanke in mir wuchs und reifte, um schließlich zu siegen, bildet den Hauptinhalt meiner Erinnerungen an die fünf Jahre, die ich in Eimsbüttel zubrachte.
Auf den streng rechtgläubigen folgte im nächsten Jahre ein durchaus freidenkender Vertreter der geistigen Lehrfächer an unserer Schule. Dieser, ein Hannoveraner namens Schüler, dessen blasses, von rotbraunem Vollbart umrahmtes Gesicht durch lebhafte braune Augen bestach, nahm sich aller Angelegenheiten der Anstalt an und verlieh ihr bald das Gepräge seiner eigenen Anschauung und Lebensauffassung. Auf religiösem Gebiete war er Rationalist reinsten Wassers. In politischer Beziehung vertrat er den Durchschnittsfreisinn jener Tage. Unser vaterländisches Empfinden aber wußte er durch warme Schilderungen der Freiheitskriege von 1813 und durch begeistertes Eingehen auf unsere großen Dichter zu wecken. Begeistert führte er uns sogar, was damals noch eine Seltenheit war, in die Musikdramenwelt Richard Wagners ein, deren Texte und deren Tonsprache er unserem Verständnis näher zu bringen suchte. Von den bildenden Künsten war in seinem Unterricht, wie in allen Schulen, noch nicht die Rede; und doch wußte er unsere Teilnahme wenigstens für eine deutsche Kunstschöpfung zu wecken. Als Hannoveraner lag ihm die Kunst des Ansbacher, vielfach in Hannover tätig gewesenen Bildhauers Ernst von Bandel und die Vollendung des Hermannsdenkmals dieses Meisters im Teutoburger Walde am Herzen. Das Denkmal, dessen Rundtempel-Unterbau seit 1846 vergebens seines Recken harrte, schien damals verurteilt, aus Mangel an Mitteln unausgeführt zu bleiben. Alle Enttäuschungen Bandels und alle seine Hoffnungen, daß das deutsche Volk das Denkmal seines Befreiers doch noch einmal vollenden helfen werde, ließ Herr Schüler uns leidenschaftlich mitempfinden. Alles in allem habe ich mannigfache und gesunde Anregungen von ihm erhalten.
Nur seine Bibelumdeutungen wollten mir nicht in den Kopf. Dazu stand ich damals noch zu sehr unter dem Banne der rechtgläubigen religiösen Anschauungen, die, wenn auch nicht gerade in meinem elterlichen, so doch in meinem großelterlichen Hause herrschten und mit freudigem, aber niemals eiferndem Bewußtsein gepflegt wurden. Ich erinnere mich, Herrn Schüler einmal nach der Religionsstunde auf dem Spielplatz gefragt zu haben, ob er denn wirklich nicht glaube, daß Christus gen Himmel gefahren sei, worauf er mir, wie er mußte, antwortete, davon verstünde ich nichts.
Von den übrigen in der Anstalt wohnenden Lehrern ist nichts Besonderes zu berichten. Von den nicht dauernd im Hause weilenden Herren aber waren der französische und der englische Lehrer der höheren Klassen Charakterköpfe. Besonderer Art war der Franzose, Monsieur Lerot, der einen echt französischen Kopf mit rotem Spitzbart hatte. Er war ein innerlich feiner Mensch, der als Liederkomponist einige Erfolge gehabt hatte, auch gutes Französisch lehrte, sich aber in der Schule jedesmal aufregte, wenn einer der Schüler, sich wirklich oder absichtlich versprechend, ihn Monsieur Leroux nannte. Je zorniger er darüber wurde, desto öfter kam es natürlich vor. Der Engländer, Mister Watson, aber war ein Musterbeispiel des Briten, wie er im Buche steht. Es war die Zeit des Krimkrieges. Alle Welt war gespannt, wie lange Sebastopol der Belagerung durch die vereinigten Westarmeen standhalten werde. Da Mister Watson die Eroberung als eine Kleinigkeit hingestellt hatte, rief die ganze Klasse, wie auf Verabredung, wenn er eintrat, ihm die Frage entgegen: » Is Sebastopol taken?« Mister Watson geriet jedesmal in helle Wut darüber. Erst als die Festung am 8. September 1855 wirklich gefallen war, trat allseitige Beruhigung ein.
Die Zöglinge der Anstalt, die, früher auf dänisch-holsteinischem Gebiete bei Altona betrieben, erst kurz vor 1854 ihr weitläufiges Gelände im hamburgischen Eimsbüttel bezogen hatte, standen im Alter von zehn bis siebzehn Jahren und waren in verschiedenen Ländern zu Hause. Die Deutschen stammten meist aus Schleswig-Holstein, einschließlich Altonas, und aus Mecklenburg. Die Altonaer Krämer- und Bäckersöhne spielten eine gewisse, aber keine wohltätige Rolle unter den deutschen Knaben. Hamburger waren anfangs äußerst spärlich gesät, erschienen in meinen letzten Eimsbütteler Jahren aber häufiger. Die Deutschen bildeten jedoch nur etwa den dritten Teil der Zöglinge der Andresenschen Anstalt. Ein zweites Drittel bestand aus Engländern, die fast alle aus Yorkshire, aus Hull und seiner Umgebung, stammten, das dritte Drittel aus Spaniern, die jedoch nicht aus dem Mutterlande, sondern aus den mittel- und südamerikanischen Freistaaten kamen. Mexiko, Peru und Chile waren die Heimat der meisten von ihnen, und gerade unter ihnen befanden sich Jünglinge, die über sechzehn Jahre alt waren und abends mit den Lehrern zu Abend aßen, wenn wir jüngeren nach reichlicher Milch- und Brotkost schon im Bette lagen.
Daß diese heißblütigen jungen Südländer eine gewisse sittliche Gefahr für die jüngeren Zöglinge der Anstalt bildeten, ist eigentlich zu selbstverständlich, um ein Wort darüber zu verlieren. Bekannt gewordene Verfehlungen endeten mehr als einmal mit plötzlichem Abreisen. Aber die »Aufklärung« über das heilige Werden des Menschen, über deren Form und Zeitpunkt in der Erziehung der Kinder heute so viel verhandelt wird, wurde mir nicht von den älteren Spaniern und Engländern, sondern von den gleichaltrigen Altonaern und zwar in so widerwärtiger Weise zuteil, daß ich lange nicht an die Richtigkeit ihrer Mitteilungen geglaubt habe.
Anderseits traten mir gerade unter meinen spanisch-amerikanischen Mitschülern, die den besterzogenen Klassen ihrer Heimat angehörten, begeisterte und begeisternde Bekenner zu allen Idealen der Menschheit entgegen. Die besten äußeren Manieren aber hatten unzweifelhaft meine jungen englischen Kameraden. Es ist eine einfache Tatsache, daß meine Wahl, wenn ich von meinen Eltern aufgefordert wurde, mir von Sonnabend bis Montag einen Schulkameraden mit nach Hause zu bringen, ausnahmslos auf Engländer fiel.
Im ganzen brachte diese Vorherrschaft der Ausländer unter den Zöglingen der Andresenschen Anstalt uns Deutschen doch wohl mehr Vorteile als Nachteile. Zunächst lernten wir spielend Spanisch und Englisch sprechen, sodann lernten wir fremde Sitten und Anschauungen als selbstverständlich und gleichberechtigt hinnehmen. Es war sogar die Gefahr vorhanden, daß wir die Bedeutung unseres Vaterlandes, das damals politisch eine der kläglichsten Rollen spielte, unterschätzen lernten; denn daß die jungen Engländer, namentlich diese, von der Überlegenheit ihres Staatswesens und ihrer Gesittung felsenfest überzeugt waren und dieser Überzeugung bei jeder Gelegenheit Ausdruck gaben, läßt sich denken. Am meisten ärgerte ich mich, daß ich mir in all das Gefühl der freiwilligen Ohnmacht Deutschlands gegenüber der Vergewaltigung Schleswig-Holsteins durch das kleine Dänemark von einem meiner englischen Freunde sagen lassen mußte: »If you don't leave Denmark alone, we will give you a good licking.« Zum Glück nahm Herr Schüler in solchen Fällen den Ausländern gegenüber kein Blatt vor den Mund; und die Wirkung aller ähnlichen Erörterungen auf mich war doch, daß ich um so früher und überzeugter für alle Bestrebungen einer staatlichen Erneuerung unseres »Landes der Dichter und Denker«, wie man es damals nennen hörte, mit einzutreten suchte.
Persönlich hatte ich Gelegenheit genug, mich von der angeborenen oder anerzogenen Ritterlichkeit der Engländer gegenüber dem Schwächeren zu überzeugen. Daß meine Körperkräfte damals noch geringer waren als die meiner meisten, sogar der jüngeren Schulkameraden, zeigte sich nicht nur auf dem Turnplatz, sondern auch bei den Prügelproben, denen jeder neu eingetretene Schüler sich unterziehen mußte. Während meine deutschen Mitschüler mich deswegen hänselten, fanden sich von Anfang an ältere englische Knaben, die mich gerade deswegen unter ihre besondere Obhut nahmen, was ich ihnen natürlich mit schwärmerischer Anhänglichkeit vergalt.
Übrigens hatte ich das Gefühl, beim Tanzen und Schwimmen wett zu machen, was ich mir beim Turnen und bei den Prügeleien vergeben hatte; mein angeborenes rhythmisches Empfinden kam mir bei diesem wie bei jenem zu Hilfe, auch beim Rudern, bei dem meine Schulkameraden mich freilich kaum beobachten konnten. Mein Vater hatte mir, als ich dreizehn Jahre alt geworden war, ein Ruderboot für die Elbe angeschafft, das ich Sonntags in Neumühlen fleißig benutzte; und wenigstens seit meinem vierzehnten Jahre lernte ich mich auf dem reich belebten Strome allein in meinem Boot zwischen den großen Dampfbooten und Segelschiffen geschickt und furchtlos zu den stilleren Wasserarmen und seligen Inseln jenseits des Hauptstromes hindurchzuwinden. Fürs Wasser schien ich geboren zu sein.
Meine Kräfte auch in anderen Dingen als den Schulfächern zu erproben, ließ mein Vater sich übrigens nicht nur daheim, sondern auch in Eimsbüttel angelegen sein. Er war der Ansicht, daß Knaben sich auch handwerklich betätigen lernen müßten. Buchbinderunterricht hatten wir Sonnabend abends in Hamburg. In Eimsbüttel aber wurde eine Drehbank für mich angeschafft und in einer Bodenkammer des Haupthauses aufgestellt. Ein Drechslermeister erteilte mir und einigen Kameraden, die ich wählen durfte, Unterricht, ohne daß viel dabei herausgekommen wäre. Als ich mich, wie alle Knaben, für den ersten Chemieunterricht begeisterte, wurde mir ein besonderes kleines Zimmer der vorderen Villa als »Laboratorium« eingerichtet, in dem ich Versuche jeder Art machen durfte. Es blieb aber eine Spielerei, die von selbst aufhörte, als bald darauf das ganze vordere Grundstück abgegeben wurde. Weit über meine Eimsbütteler Zeit hinaus aber blieb ich dem Musikunterricht treu, den ich leidenschaftlich erstrebt hatte. Professor Grädener hatte mich, da ich die Töne zwar richtig hörte, aber in meiner Kehle nicht wiederzugeben verstand, vom Gesangunterricht ausgeschlossen, mich aber für musikalisch genug veranlagt erklärt, durch Klavierunterricht gefördert zu werden; und fleißig genug glaube ich für die Klavierstunden geübt zu haben, die eine andere Schwester Grädeners mir erteilte. Mit Vorliebe schloß ich mich den musikalisch begabteren und fortgeschritteneren Schülern an, von denen ein siebzehnjähriger feuriger Peruaner namens Palacios schon ein geübter und leidenschaftlicher Beethovenspieler war, der mir, er, der Spanier, verständnisvoll die Tonwelt des großen Deutschen erschloß. Ich selbst aber habe es im Klavierspiel nie so weit gebracht, mich in Kennerkreisen hören lassen zu können.
Das Jahr 1857, in dem das Gelände der Andresenschen Erziehungsanstalt um die Hälfte verkleinert wurde, bildet auch in anderen Beziehungen einen Einschnitt nicht nur in meinem Eimsbütteler Leben, sondern auch in dem meines Elternhauses. Im Frühling dieses Jahres bezogen meine Eltern ihr neues großes Landhaus oben in Neumühlen auf der Höhe der Flottbecker Landstraße. Das Haus war baukünstlerisch nur ein Meisterwerk, insofern es seinem Zwecke völlig entsprach und allen Bedürfnissen und Wünschen meiner Eltern restlos Rechnung trug. Seine Schmucklosigkeit gehörte zu diesen Wünschen, da der Grund und Boden, auf dem es sich erhob, nur auf dreißig Jahre gepachtet werden konnte. Das Gartengelände als solches aber, das heute zu den öffentlichen Parkanlagen Altona-Ottensens gehört, war eines der allerschönsten an der Elbchaussee. An zwei Seiten von tiefen Schluchten begrenzt, nach der Elbe in breitem, wild mit Waldbäumen und Gesträuch bewachsenem Abhang steil abfallend, an der Straßenseite seiner ganzen Länge nach von einer prachtvollen alten Kastanienallee eingefaßt, nahm es eine vorgebirgartige Höhe ein, von der man nach drei Seiten die herrlichsten Fernblicke auf den unten vorüberrauschenden, immer belebten Fluß und dessen Verzweigungen hatte, die aufwärts bis nach Harburg, abwärts bis nach Buxtehude reichten. Geradeaus aber fiel der Blick auf Finkenwerder und die anderen Inseln an der Südseite des Flusses und auf die weichen blauen Höhenzüge der »Harburger Berge«. Die Gärtnerwohnung, der Hühnerhof und die Treibhäuser lagen in der Nordwestecke des Grundstücks, die Kutscherwohnung, der Pferde- und der Kuhstall jenseits der Landstraße. Vor unserem neuen, immer gastfreien Sommerleben in diesem herrlichen Stück Erde verblaßten in jedem Frühling rasch alle Eindrücke unseres Winterlebens in der Großen Reichenstraße und unseres früheren Landlebens unten in Övelgönne. Hier oben in Neumühlen fühlten wir uns von nun an am meisten zu Hause. In diesem Hause und in diesem Garten habe ich dreißig Jahre lang meine Herzensheimat gehabt, die, als Schleswig-Holstein 1864 deutsch wurde, von doppeltem Heimatlicht umwoben strahlte.
Von Jahr zu Jahr waren die Schiffe meines Vaters, die nun unten an uns vorüberglitten, zahlreicher und größer geworden. »Bielefeld« hatte er eines seiner neuesten dreimastigen Barkschiffe getauft, »Neumühlen« und »D. F. Weber senior« hießen die anderen großen Vollschiffe, die für ihn gebaut wurden. Aber auch die Schar meiner Geschwister, die alle Freuden mit mir teilten, war gewachsen und größer geworden; und das Jahr 1857 brachte mir, sozusagen, noch einen vier Jahre älteren Bruder ins Haus, der seitdem mit allen meinen Lebenserinnerungen verwachsen ist und durch die ruhige Festigkeit, die klare Ehrenhaftigkeit und die fruchtbare Tatkraft seines Wesens von großem Einfluß auf meine Charakterbildung geworden ist: mein Vetter Theodor Möller vom Kupferhammer, der »lange Möller«, wie er noch heute in Berlin genannt wird, trat als Gehilfe in meines Vaters Geschäft und bezog ein Zimmer in unserem Hause. Mein Vater schätzte sein Urteil hoch und sagte, vorausblickend wie er war, er habe das Zeug dazu, einmal Handelsminister zu werden; und in der Tat ist er später langjähriger Reichstagsabgeordneter und einige Jahre lang preußischer Handelsminister gewesen.
Mein vier Jahre jüngerer Bruder Adolph aber, der später ebenfalls jahrelang Reichstagsabgeordneter war, kam in diesem Jahre, freudig von mir begrüßt, zu mir in die Andresensche Erziehungsanstalt. Auch dieses Ereignis ließ mich reifen. Ich trat aus der Zahl derer, die von älteren Freunden betreut wurden, in die Reihe derer, die sich selbst jüngerer anzunehmen hatten.
In Eimsbüttel wie in Hamburg aber war im Herbst 1857 von nichts anderem die Rede, als von der schweren Handelskrisis, von der damals die ganze Welt betroffen wurde. In Amerika, in Europa und in Australien brachen altbewährte Banken zusammen. Ein großes Handelshaus nach dem anderen sank in den Abgrund, der sich überall auftat. Auch in Hamburg ging es nicht ohne Unglücksfälle ab; aber umsichtig eingreifende Staatshilfe verhütete hier das Schlimmste.
Unter unseren Mitschülern befand sich ein junger Mann namens Perabó aus Chicago, der Musiker werden wollte. Dieser setzte den großen Weltbankbruch in Musik. Das »Charakterstück für Klavier« wurde uns auch gedruckt überreicht. Besonders ausdrucksvoll war geschildert, wie die Silberdollars klingend aus den Banken in den Abgrund hinunterrollten, immer rascher, immer rasender, mit immer dunklerem Klang, bis plötzlich das bodenlose Nichts sich auftat.
Verständig erklärte mein Vater mir den Verlauf der Krisis, wenn ich Sonntags zu Hause war. Vierzehn Tage hatte auch er schwere Sorgen. Ich höre noch heute meine Mutter sagen, ihr sei es einerlei. Wenn sie nur ihren Mann und ihre Kinder gesund um sich sehen dürfte, wolle sie gern in die kleinste Hütte ziehen. So schlimm kam es nicht. Als die Krisis vorüber war, sagte mein Vater mir, jetzt habe er wieder so viel, wie sein Vater ihm hinterlassen habe.
Gerade aus dem Jahre 1857 haben sich Briefe meines Vaters erhalten, die ein helles Licht auf seine menschlich verstehende Gesinnung werfen. Sie sind an meine Schwester Henriette gerichtet, die sich damals in derselben Erziehungsanstalt in Lübeck befand, in der auch meine Mutter erzogen worden war. In dem dunklen Hause der Glockengießerstraße hatte sie Heimweh nach unserem sonnigen Garten in Neumühlen. Mein Vater schrieb ihr: »Ich war auch in Pension, und wenn ich selbst weniger von Heimweh empfunden habe, weil ich im elterlichen Hause eine weniger glückliche Jugend hinter mir hatte, so habe ich doch mehrfach Ähnliches empfinden sehen, wie Du jetzt empfindest. Da sagte unser Lehrer ein wahres Wort, das ich auch Dir ans Herz legen möchte: Werdet ihr besser, gleich wird's besser werden.« Einige Wochen später schreibt er: »Adolph ist nun auch nach Eimsbüttel gekommen, und ich muß sagen, ich fühle nun ordentlich, daß es bei uns im Hause leer geworden ist. Sonntags sollen die beiden Jungens freilich immer kommen. So wird man sich wenigstens nicht fremd.« Im November aber antwortete mein Vater ihr auf eine ängstliche Frage nach der Handelskrisis: »Was in aller Welt gehen euch Mädchen in der Pension die schlechten Zeiten an? Freut euch, daß die Sorgen euch nicht treffen und ihr dort ruhig schlafen könnt. Eine solch ernste Zeit ist allerdings lange nicht dagewesen; aber sie ist wohl eine natürliche Folge aller Übertreibungen im Handel und in den industriellen Unternehmungen während der letzten Jahre. Es sind noch immer auf fette Jahre die mageren gefolgt. In Amerika haben alle Banken die Zahlung eingestellt, und eine Reihe von Kaufleuten sind bankerott gegangen. Auch in England sind eine Menge Banken insolvent geworden. Hier hält sich alles gut ... Auch ich verliere große Summen auf meine bedeutenden Warenlager. Das ist alles, was ich Dir, ohne weitläufig zu sein, über diese Handelskrise mitteilen kann.«
Schon zu Weihnachten hatte man die schlechten Zeiten vergessen.
Die zwei Jahre, die ich bis im Herbst 1859 noch in der Andresenschen Schule zubrachte, reiften die Entscheidung über meine Zukunft. Daß ich nicht, wie bisher stillschweigend vorausgesetzt worden war, zum Kaufmann geboren sei, wurde mir mit jedem Jahre klarer; nicht, daß ich dem Berufe, in dem ich meinen Vater so großzügig wirken sah, nicht die ihm gebührende Achtung entgegengebracht hätte. Im Gegenteil: ich verehrte meinen Vater fast wie ein höheres Wesen und hatte, wie er selbst, den höchsten Begriff von der wirtschaftlichen und sittlichen Bedeutung des Welthandels. Der Aufgabe, es ihm auf diesem Gebiete gleich zu tun, aber fühlte ich mich in keiner Weise gewachsen. Ich empfand deutlich, daß meine Begabung auf ganz anderen Gebieten liege.
Den bildenden Künsten freilich, deren geschichtliche Deutung sich später als mein Hauptberuf herausstellte, stand ich damals noch nur als ahnungsvoll und bescheiden empfangender Knabe gegenüber. In den Domen von Köln, von Lübeck und von Braunschweig, in denen ich damals schon mit meinen Eltern gestanden, hatte ich nichts als beklemmende Ehrfurcht vor unergründbarer, übermächtiger Größe empfunden. Zu den Kunstwerken in den Häusern meiner Großeltern sah ich mit fast scheuer Andacht empor. Greifbarer schon trat mir die Malerei entgegen, als mein Vater sich bei dem hervorragenden Maler Louis Gurlitt, der seinerzeit zu den Begründern einer naturwahren Landschaftsmalerei gezählt wurde, ein großes Ölgemälde für unser neues Haus in Neumühlen bestellte, und der Meister, der uns, wenn er nach Hamburg kam, wiederholt besuchte, mir das schöne Bild des Nemi-Sees mit der mächtigen Zypresse im Vordergrund und dem schimmernden Meere am fernsten Horizonte selbst erklärte.
Ich fühlte mich, ohne recht zu wissen warum, zu den Künstlern und ihren Werken lebhaft hingezogen; aber es ihnen gleichtun zu wollen, kam mir niemals in den Sinn; und von einer »Kunstgeschichte« war damals, wenigstens in den Schulen, noch nicht die Rede.
Ganz anders wirkten die Werke der Dichter auf mich ein, die mein ganzes Sein ergriffen und mitrissen. Teils lernte ich sie durch unsere Schulbücher bei Andresens, teils aus den Bücherschränken meines elterlichen Hauses kennen. Die Herrigschen Lehrbücher der englischen und der französischen Literatur, in denen die eingehenden Lebensbeschreibungen aller Schriftsteller meine brennende Anteilnahme weckten, lernte ich in Eimsbüttel beinahe auswendig. Die Werke von Klopstock, Claudius, Lessing, Goethe, Schiller und Körner verschlang ich Sonntags zu Hause. Aber auch die Romane und Märchen des dänischen Dichters Hans Christian Andersen, die ich in unserem Bücherschrank fand, gehörten zu den ersten Werken dieser Art, die ich kennenlernte. Ruhiger und inniger befaßte ich mich mit den Gedichten Uhlands, Rückerts, Geibels, Lenaus und Chamissos, die zu den ersten gehörten, die ich nach und nach auf meinem Weihnachtstische fand.
Seit dem Sommer 1857 fing ich selbst an, was ich innerlich erlebte – wozu natürlich Geßlers Tod durch Tells Geschoß gehörte – in Versen auszusprechen und eins meiner Gedichte nach dem anderen in Reinschrifthefte einzutragen. Als mein Bruder Adolph mich einmal beim »Dichten« überraschte, fragte er mich: »Warum tust du das?« Ich antwortete: »Weil ich nicht anders kann.« Ein Glück für die Zukunft des Handelshauses meines Vaters war es jedenfalls, daß mein Bruder Adolph, mit dem mich bis zu seinem viel zu frühen Tode herzliche Liebe verband, kein Verständnis für diese Art von Tätigkeit hatte. Auch verstand er es nicht, daß ich es schmerzlich empfand, zwar die neueren Sprachen und Lateinisch, aber kein Griechisch zu lernen. Von wem ich es hatte, weiß ich nicht; aber die Überzeugung, daß die griechische Sprache der Schlüssel zu aller höheren geistigen Bildung sei, war mir längst ins Blut übergegangen. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir eine griechische Grammatik und begann für mich die schöne Sprache des alten Hellas zu lernen. Daß meine Begabung und Neigung auf philologischem Gebiete im weiteren Sinne des Wortes lag, war ja klar; aber gerade das erschwerte mir, die Zustimmung meines Vaters dazu zu erhalten, daß ich studiere. Zu den nächsten Freunden meines elterlichen Hauses gehörte die Familie Professor Dr. Karl Wiebels, der, wie seine Frau, unsere »Tante Wiebel«, Süddeutscher von Geburt war. Er war als Professor der Chemie am »Akademischen Gymnasium« in Hamburg angestellt, das, wie man auch sagen könnte, als ein Stück einer philosophischen Fakultät von der Handelsstadt Hamburg unterhalten wurde. Als ich an Sonntagen in Hamburg oder in Neumühlen meinen Eltern erklärte, was ich werden möchte, brachen die zur Hilfe gerufenen Wiebels in den Ruf aus: Es scheine ja gar, als ob ich Philologe werden wolle: nein, das sei aber wirklich nichts für einen Sohn meines Vaters! Philologe! Schrecklicher Gedanke! Vielleicht verdanke ich es dem Einfluß Wiebels auf meinen Vater, daß mir, erfolglos genug, jenes chemische Laboratorium in der Eimsbütteler Villa eingerichtet wurde; und vielleicht verdanke ich es auch ähnlichen Einflüssen, daß die Losung ausgegeben wurde, mein Hang zur Poesie solle nicht gefördert werden. In der oberen zweiten Klasse unserer Schule lasen wir das klassischste aller klassizistischen englischen Dramen, Addisons Trauerspiel »Cato«. Heimlich, in den Abendstunden, übersetzte ich es vom ersten bis zum letzten Verse in deutsche fünffüßige Jamben. Das Stück beginnt mit den Worten:
»The dawn is overcast, the morning lowers
And, heavily in clouds, brings on the day,
The great, th' important day, big with the fate
Of Cato and of Rome.«
Meine blassere Übersetzung begann:
»Die Dämmerung weicht, trüb' bricht der Morgen an,
In Wolken ist der junge Tag gehüllt,
Der große, der bedeutungsvolle Tag,
Der Catos, Roms Geschick entscheiden soll.«
Ich kam bei der Kürze der englischen Worte nicht mit derselben Anzahl von Verszeilen aus, die das englische Stück enthält. Meine Übersetzung wurde erheblich länger. Als Herr Schüler dahinter kam, daß ich diese Übersetzung gemacht hatte, bat er sich die Hefte aus. Er behielt sie ein volles halbes Jahr, ohne von ihnen zu sprechen. Als ich sie mir darauf zurückerbat, gab er sie mir mit den Worten wieder, er habe keine Zeit gehabt, sie zu lesen. Also kein Wort des Tadels oder der Anerkennung. Ich empfand das gleich damals als Absicht. Meine Bestrebungen dieser Art sollten nicht gefördert werden.
Das änderte sich nun freilich im Winter 1858-59 in unerwarteter Weise: Wir erhielten einen neuen Lehrer der spanischen Sprache, der zweimal in der Woche herauskam, in der ersten Klasse Unterricht zu erteilen. Er hieß Ernst Reinstorff und war, wie wir alle gleich an seinem Blick beim Eintritt merkten, eine eigenartige und eigenwillige, aber der Jugend freundlich gesinnte Persönlichkeit. Nicht groß, aber sehnig von Gestalt, nicht eben schön mit seinen starken Backenknochen, aber durch sein willenskräftiges stahlblaues Auge doch angenehm von Angesicht, blondhaarig und blondbärtig, trat er uns selbstbewußt, aber nicht selbstgefällig entgegen. Widerspruch ertrug er und forderte ihn sogar heraus, um ihn zu widerlegen. Eine werbende Kraft ging von ihm aus. Spanischen Unterricht sollte er uns geben und gab er uns; als er aber sah, daß wir uns auf der Unterrichtsstufe, die er zu vertreten hatte, bereits sicher bewegten, hielt er es, allem Hergebrachten feind, für seine erzieherische Pflicht, uns wenigstens in der Hälfte der Stunden auch anderweit zu fördern. Als er hörte, daß wir das Nibelungenlied noch nicht »gehabt hatten«, führte er uns in dessen deutsche Reckenwelt ein und begeisterte uns durch Vorlesen seiner Hauptgesänge. Als er merkte, daß Katholiken und Protestanten, freisinnig geschult, nebeneinander auf der Schulbank saßen, hielt er es – kühn genug – für angebracht, uns den religiösen Bekenntnissen überhaupt zu entfremden und in die Grundzüge der Schopenhauerschen Philosophie, auf die er damals schwor, einzuweihen. Uns 14-15jährige Jungens! Daß er uns beizubringen suchte, einen persönlichen Gott gebe es nicht, war unter diesen Umständen nur folgerichtig, die ganze Welt sollte ja Wille und Vorstellung sein. Überzeugt hat er mit diesen uns unverständlichen Lehren damals noch keinen von uns; aber wir lehnten uns dieser Abschweifungen wegen auch nicht gegen ihn auf, fühlten uns vielmehr durch sein Vertrauen geehrt und nahmen inneren Anteil an seinen uns fremdartigen Überzeugungen. Ganz neu waren mir Überzeugungen dieser Art auch nicht, da auch unsere Hausfreunde Wiebels, wie mir meine Schwester Henny einmal weinend erzählte, »nicht an Gott glaubten«.
Ernst Reinstorff nahm sich dann aber auch in besonderer Art persönlich meiner an. Als meine Mitschüler ihm verrieten, daß ich Gedichte machte und schon ganze Hefte voll geschrieben hätte, ließ er sich diese geben, las Gedichte, die er dessen für würdig hielt, vor der ganzen Klasse vor, besprach sie eingehend, tadelte, was er an ihnen zu tadeln fand, lobte aber auch, was ihm an ihnen lobenswert erschien. Wenn ich jetzt selbst wieder in diesen Heften blättere, in denen natürlich noch kein druckreifes Gedicht steht, wundere ich mich über die Sicherheit, mit der ich als Vierzehn- und Fünfzehnjähriger bereits alle Versmaße und alle Strophenformen, Terzinen, Sonette und Oktavreime, aber auch Hexameter und Pentameter handhabte, deren Kenntnis mir aus den Werken, die ich gelesen hatte, angeflogen war. Auch beruhigt mich, daß ich schon damals nur Erlebtes und Erschautes in Reimen und Rhythmen aussprach; nicht für andere, sondern für mich selbst waren diese Gedichte gemacht.
Mit vollerem Bewußtsein als den bildenden Künsten, aber stand ich, wenigstens genießend und empfangend, auch den Schöpfungen der Tonkunst gegenüber. Daß die Andresensche Anstalt ein musikalisches Haus war, sprach sich in einem Ereignis aus, das mir unvergeßlich geblieben ist. An einem Abend des Winters 1858 oder 1859 erhielten etwa ein Dutzend von uns Schülern eine Einladung zu einem musikalischen Tee im Familiensaal, der sich uns nur bei den seltensten Gelegenheiten öffnete. Uns wurde im voraus mit einer gewissen Feierlichkeit, die uns auf Großes vorbereiten sollte, erklärt, ein junger Hamburger Komponist, den Robert Schumann für den großen neuen am deutschen Musikhimmel emporsteigenden Stern erklärt habe, Johannes Brahms, werde kommen, Eigenes und Fremdes vorzutragen. In höchster Erwartung saßen wir da, als Grädener mit dem sympathischen, damals noch schlanken Fünfundzwanzigjährigen erschien, der uns zuerst durch seine Persönlichkeit, dann durch sein Spiel aufs tiefste ergriff und mitriß. Es war ein unvergeßlicher Abend, der mir später immer wieder einfiel, sooft ich von Brahms' steigendem Ruhme hörte. Als ich nach vielen Jahren bei einem Festmahl in Dresden neben meinem berühmten, nunmehr wohlbeleibten Landsmann saß und ihm von dem Eindruck erzählte, den jener Abend auf mich gemacht hatte, erinnerte er sich dessen, wie natürlich, durchaus nicht und meinte, in Abrede stellen zu müssen, daß er jener Jüngling gewesen sei. Sicher wäre es ihm eingefallen, wenn ich ihn daran erinnert hätte, daß sein Freund Karl Grädener ihn bei Andresens eingeführt habe.
Mein Verhältnis zur Dichtkunst und zur Musik sprach sich übrigens nicht eben geistvoll, aber unzweideutig in einem Doppeldistichon aus, das ich noch als Vierzehnjähriger schrieb:
Wenn die erhabenen Reize der Dichtkunst staunend ich schaue,
Fühl' ich den mächtigen Trieb, selber ein Dichter zu sein.
Aber den himmlischen Klängen nur immer und ewig zu lauschen,
Treibt mich mein innres Gefühl selbst bei der schönsten Musik.
Ob ich es erreicht habe, »ein Dichter zu sein«? Ich weiß nur, daß meine Gedichte, ihrer Form und Ausdrucksweise nach, dem »eklektischen Epigonentum« jener Jahrzehnte angehören; aber ich weiß auch, daß mir mein Leben lang alles, was mich wirklich innerlich bewegte, von selbst zum Gedicht geworden ist, das in der Regel erst einige Zeit nach dem Erlebnis Form und Gestalt gewann; und wenn auch keiner der Bände, die ich veröffentlicht habe, obgleich einige von ihnen eine zweite Auflage erlebten, einen buchhändlerischen Erfolg gehabt hat: an anerkennenden öffentlichen Beurteilungen hat es keinem von ihnen gefehlt; und wenn ich heute als Lyriker, außer von den Dichterlexiken, so gut wie vergessen bin, so kannte mich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts doch jeder als Dichter, der sich mit der zeitgenössischen Lyrik befaßte; und an poetischen Aufträgen für Zeitschriften, Feste, Almanache und Sammelbücher fehlte es mir nicht. Also ein Dichter, wenn auch keiner der großen, glaube ich wirklich geworden zu sein; und mein Verhältnis zur Dichtkunst aus der Geschichte meines Werdens und Wollens auszuschalten, wäre einfach eine Unehrlichkeit.
Nachdem ich mir klar darüber geworden, daß ich für den Kaufmannsstand nicht geschaffen sei, machte ich auch meinem Vater gegenüber kein Hehl daraus. Daß dieser sich nur schwer an den Gedanken gewöhnte, seinen ältesten Sohn seinem Lebenswerk den Rücken kehren zu sehen, ist begreiflich genug; aber er war ein viel zu klar und wohldenkender Mann, als daß er, besonders nachdem er von der griechischen Grammatik gehört, die ich heimlich studierte, sich um diese Zeit nicht selbst zu meiner Überzeugung, daß ich kein guter Kaufmann werden werde, bekehrt haben sollte. Daß mein jüngerer Bruder Adolph mit Leib und Seele für schaffende und handelnde Betätigung bestimmt schien, erleichterte ihm den Entschluß, mich studieren zu lassen.
Die Andresensche Schule, die ich vollständig durchgemacht hatte, verließ ich im Herbst 1859. Ein arbeitsamer Winter in meinem Elternhause folgte. Galt es doch, einerseits zum Besuche der Gelehrtenschule, anderseits zur Konfirmation vorbereitet zu werden. Griechischen Unterricht erteilte mir mein zukünftiger Schwager Kandidat Gustav Ritter, der Hauslehrer bei dem jüngsten Sohn meiner Großeltern war. Lateinisch las ich mit keinem Geringeren als Ernst Reinstorff, den ich mir nicht nehmen ließ. In Mathematik und Geschichte sollte ich selbst nachholen, was mir fehlte. Meine Vorbereitung zur Konfirmation lag in den Händen Pastor Johns an der Petrikirche, eines feurigen, herzenswarmen Christen der Richtung, die in unserem Hamburger Kreise herrschte. Heiliger Ernst wie mit dem Griechischen und Lateinischen wurde es mir auch mit dem Christentum. Pastor John lobte meine Aufsätze, fügte aber hinzu, ich möchte sie schlichter, weniger überschwenglich halten. Das christliche Mysterium hatte mir vollends die Zunge gelöst. Meine Gedichte dieses Winters waren fast ausschließlich religiöser Natur; aber sie waren auch zum erstenmal von Schwung und Weihe durchströmt. Ich erinnere mich, in den Augen meiner Mutter, die uns im November dieses Jahres noch ein Brüderchen geschenkt hatte, Tränen gesehen zu haben, als ich ihr meinen langen Weihegesang vorlas, der mit den Worten begann:
Brauset Psalmen, brauset Harfenklänge,
Braust zum Thron des Ewigen empor,
Stimmt mit ein, ihr heiligen Gesänge,
In des Weltalls hehren Jubelchor.
Liebe, Liebe, wer kann dich ergründen,
Liebe, Liebe, wer kann dich verstehn:
Für der tiefgefallnen Menschheit Sünden
Haben wir den Heiland bluten sehn.
Herr Reinstorff, den ich liebte, obgleich ich seine völlig ketzerischen Ansichten kannte, machte nur ganz gelegentlich einmal leicht spöttische Bemerkungen, ermutigte mich aber nach wie vor, meine Verskunst weiter zu entwickeln, und ließ mich im übrigen gewähren.
Ich arbeitete rastlos an mir und an den mir gestellten Aufgaben. Oft saß ich, ohne daß meine Eltern gewagt hätten, mich daran zu hindern, bis Mitternacht über meinen Büchern. Die Konfirmation und das erste Abendmahl waren Ereignisse, die mich tief ergriffen. Als wir am Karfreitag das Grab unseres früh verstorbenen Schwesterchens Klara besuchten, war meine Mutter schon schwer leidend. Ich hörte sie mit leiser Stimme sagen: »Die Nächste, die hier liegt, bin ich.« Kurz vor der stillen Woche hatte auch meine Aufnahmeprüfung in die Gelehrtenschule stattgefunden. Ich wurde, »da ich erst fünfzehn Jahre alt sei«, der Obersekunda überwiesen. Als ich nach den Ferien die Klasse bezog, mich unter lauter gleichstrebenden Jünglingen sah und nun wirklich vorläufig mein ganzes Leben der köstlichen Dichtkunst der alten Griechen und Römer widmen durfte, glaubte ich im Paradiese zu sein.
Die Gelehrtenschule des hamburgischen Johanneums, die 1529 von Johannes Bugenhagen, dem Reformator Hamburgs, gegründet war, bezeichnete sich nicht, wie ihre meisten Schwestern in Deutschland, als Gymnasium, weil neben oder über ihr schon seit 1613 jenes »Akademische Gymasium« des Johanneums stand, das der philosophischen Fakultät einer Universität glich. Daß die Zeit um 1860 gerade eine Glanzzeit der hamburgischen Gelehrtenschule gewesen sei, läßt sich nicht sagen. An ihrer Spitze stand der alte Friedrich Karl Kraft, der gelehrte, aus Thüringen stammende Verfasser eines lateinischen Wörterbuches und vieler anderer Schriften, der schon 1827, nach dem Tode seines berühmten Vorgängers Joh. Gottfried Gurlitt, zur Leitung des Johanneums nach Hamburg berufen worden war. Dreiunddreißig Dienstjahre hatte er damals also schon hinter sich. Er war jetzt zum Gespött der Schüler geworden, die in seinen Stunden alles andere trieben als was sie sollten. Neben ihm, immerhin neun Jahre jünger als er, stand der berühmte Thukydidesforscher Franz Wolf Adam Ullrich, der Privatdozent an der Berliner Universität gewesen war, als er 1823 zum Professor an der Gelehrtenschule in Hamburg ernannt wurde. Mit den vornehmsten Familien Hamburg-Altonas, aus denen er sich seine Lebensgefährtin geholt hatte, verwandt und verschwägert, fühlte der stattliche und gelehrte Pfarrersohn aus Remlingen bei Würzburg sich durchaus als großbürgerlichen Aristokraten, was sich auch darin äußerte, daß er sich die Schülerhefte gelegentlich durch einen Livreediener in die Klasse nachtragen ließ. Daß sein griechischer Unterricht früher geistvoll und anregend gewesen sein mußte, spürte man seinen Stunden noch an; aber auch er war 1860 doch eben schon völlig verbraucht. Am besten gefiel mir der damals erst dreißigjährige Lektor der englischen Sprache, Carl Ferdinand Lüders, der uns in die gewaltige Kunst Shakespeares einführte. In seinen Jugenderinnerungen, die 1906 unter dem Titel »Bilder aus Alt-Hamburg« erschienen, urteilt er über das damalige Lehrerkollegium der Gelehrtenschule so abfällig, daß ich nicht alles wiederholen möchte, was er erzählt.
Was gingen mich schließlich auch die Lehrer an, wenn der Inhalt ihrer Darstellungen mich ganz erfüllte und auf der Schulbank neben mir junge Männer saßen, die von demselben Streben erfüllt waren wie ich? Die Freundschaften mit Gleichgestimmten, nach denen ich mich seit Jahren gesehnt, ergaben sich hier von selbst. Die meisten meiner damaligen Freunde wurden später hervorragende Juristen und Verwaltungsbeamte. Justus Brinckmann, der nachmalige weltberühmte Direktor des hamburgischen Kunstgewerbemuseums, saß zwar nicht mit mir in derselben Klasse, tauchte aber schon damals in unserem Freundeskreise auf.
Lange sollte ich mich der goldenen Obersekundanerherrlichkeit nicht erfreuen. Wie ich im vorhergehenden Winter dort zu oft bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte, so nahm ich auch jetzt im Feuereifer des Weiterarbeitens keine Rücksicht auf meine Kräfte. Mich tief erschütternde Ereignisse traten hinzu. Am 6. Mai starb meine liebe Mutter. Bald darauf zogen wir aufs Land. Meine siebzehnjährige älteste Schwester, Henny, sollte an der ganzen Kinderschar Mutterstelle vertreten, was natürlich auch ihre Kräfte überstieg. Der kleine Johannes, unser jüngstes Brüderchen, siechte sichtbar dahin. Unter der Last jener geistigen Arbeit und dieser seelischen Erschütterungen brachen meine Kräfte zusammen. Ich wurde aus der Schule genommen und zu einem Jahr »Vegetierens« – ich erinnere mich dieses ärztlichen Ausspruches – verurteilt.
Nun begann eine anderthalbjährige Reisezeit für mich, während der ich vom Knaben zum Jüngling wurde, meine seelischen Beziehungen zur landschaftlichen Natur mächtig erweiterte, in meinem Verhalten zu den bildenden Künsten aber, wenn auch noch halb unbewußt, einen Übergang von dunklem künstlerischem Empfinden zu kunstgeschichtlichem Erkennen fand.
Gereist war ich in meinen Knabenjahren schon genug, um die deutsche Wanderlust sich voll in mir entwickeln zu lassen. Jene Harzreise, der eine Rheinreise, an die ich nur dunkle Erinnerungen habe, noch vorausgegangen war, war ein vielverheißender Anfang gewesen. Mindestens Badereisen, die in der Regel an die Nordsee oder an die Ostsee führten, wurden jeden Sommer unternommen. Bald nahmen meine Eltern mich mit, bald wurde ich meinen Eimsbüttler Lehrern mitgegeben. Auf meiner ersten Fahrt nach Wyk auf Föhr mit Herrn Andresen und elf Mitschülern erlebte ich, elfjährig, ein Abenteuer, das mich »das Gruseln« lehrte. Bis Husum, der grauen Vaterstadt Theodor Storms, fuhr man damals schon auf der Eisenbahn. Dampfschiffe aber gab es hier noch nicht. Die Fahrt über die Arme des Wattenmeers wurde in größeren, rotsegligen Fischerfahrzeugen ausgeführt, deren Schiffsraum, in den durch die Luke eine Leiter hinabführte, notdürftig für städtische Schläfer hergerichtet war. Spät abends segelten wir ab. Frühmorgens landeten wir in Wyk. Ich hatte so fest geschlafen, daß ich den Lärm der Ankunft überhört hatte. Als Herr Andresen mit meinen Mitschülern ausgestiegen war, war der Deckel der Luke geschlossen worden. Ich war allein zurückgeblieben. Als ich erwachte und mich in dem dunklen Raum verlassen fand, überfiel mich eine Angst, wie ich sie niemals vorher und nachher empfunden habe. Aber lange dauerte es nicht. Die Angst Herrn Andresens, als er die Häupter seiner Lieben zählte und mich unter ihnen vermißte, mag kaum geringer gewesen sein als die meine. Kurz, bald nach meinem Erwachen hörte ich Schritte auf dem Verdeck, die Luke wurde geöffnet, und ich wurde mit Freuden begrüßt und gerettet. Viel Wesens wurde von dem Vorfall nicht gemacht. Nur ich habe ihn natürlich nie vergessen.
Erlebnisse ganz anderer Art hatte ich, als ich einige Jahre später, als auch hier schon Dampfschiffe fuhren, mit meinen Eltern Wyk wieder besuchte. Da meine Mutter mit den übrigen Geschwistern vorausgereist war und mein Vater erst später nachkam, machte ich, als meine Ferien begannen, die Hinreise allein. Es war meine erste selbständige Reise. Wie stolz war ich als Dreizehnjähriger darauf, mir allein die Fahrkarten lösen und allein in Husum übernachten zu dürfen. Von Wyk selbst erinnere ich mich aus diesem Jahre besonders des Interesses, das aller Welt der Besitzer des Bades, Georg Christ. Weigelt, einflößte. Weigelt, Altonaer von Geburt, war ursprünglich freisinniger Theologe gewesen; 1847 hatte er die »deutschkatholische« Gemeinde gegründet, deren Bekenntnis auf deistische Naturreligion hinauslief. Weigelt war ihr Prediger, bis sie sich 1852 wieder auflöste. Einige Jahre später erwarb er das Nordseebad Wyk, das er persönlich leitete und zur Blüte brachte. Ich hatte damals von den religiösen Fragen, die die Zeit bewegten, schon genug gehört, um an der Persönlichkeit Weigelts, wenn ich auch wußte, daß seine »freireligiösen« Anschauungen nicht »die unseren« waren, lebhaften Anteil zu nehmen; und andächtig lauschte ich den Gesprächen, die mein Vater, der mit seinen freieren Ansichten in dem Weberschen Kreise ziemlich allein stand, mit dem Apostel des Deutschkatholizismus führte.
Landwirtschaftlicher und mythisch-poetischer Natur aber waren die Eindrücke, die ich auf einem Pfingstausflug nach Rügen empfing, den Herr Schüler in demselben Jahre von Eimsbüttel aus mit einem Dutzend von uns unternahm. Keine Landschaft hatte mich bis dahin so ins Herz getroffen, wie die der Stubbenkammer, deren weiße, von herrlichem Buchenwald bekrönte Kreidefelsen so hoch und jäh in die klare grüne Ostsee hinabstürzen; und keine Sagenwelt hatte es mir bis dahin so angetan, wie die des stillen, wall- und waldumschlossenen Hertasees, den der Geist der altgermanischen Göttin umschwebt.
Ernst und trüb aber ließ sich die Reise nach Pyrmont an, die mein Vater im Juli 1860, noch in tiefer Trauer um den Verlust unserer Mutter, mit mir und den älteren meiner Geschwister antrat. Von Hannover an fuhren wir damals, 1860, immer noch im Wagen. Die berühmten Stahlquellen taten nach und nach ihre Schuldigkeit. Anfangs schrieb mein Vater seiner Lieblingsschwägerin Konstanze Weber, die eine geborene Uhde – eine rechte Tante des Malers – war: »Carl ist wieder recht unwohl. Der gute Junge macht mir rechten Kummer und tut mir in der Seele weh. Ich sehe für ihn ein Leben voller Leiden und Beschwerden ... Man weiß kaum, was man so einem wünschen soll. Ein kühles Grab, bei der süßen, lieben Mama.« Am 17. fügte er freilich beruhigt hinzu, es ginge mir besser, ich »marschierte wieder voran«.
Nachdem ich aus dem Stahlbad, sicherlich gekräftigt, zurückgekehrt, wurde mir noch ein Seebad verordnet. Die Hamburger schwärmten damals für Marienlyst bei Helsingör am Sunde. Als Reisebegleiter erbot sich mein Vetter Theodor Möller, der mir nun wirklich wie ein älterer Bruder zur Seite stand. Helsingör! Das feine alte dänische Renaissanceschloß! Im Walde dahinter das »Grab Hamlets«. Jenseits des breiten, klargrünen, von zahlreichen Segeln und rauchenden Schiffsschornsteinen belebten Sundes die schwedische Küste mit dem Kullengebirge! Weiter drinnen in der grünen Insel Seeland die berühmten Königsschlösser Fredensborg und Frederiksborg! Es waren schöne Wochen, die wir am rauschenden Sunde und unter unseren uns geistig so nahestehenden nordischen Nachbarn verlebten, mit denen wir, wenn sie nicht beanspruchten, über Deutsche zu herrschen, herzlich befreundet wären.
Auf der Rückreise hielten wir uns einige Tage in Kopenhagen auf; und diese in ihrer Art einzige Stadt nahm uns mit allen ihren feinen Reizen völlig gefangen. Vor allem trat uns hier mit seinen sämtlichen Schöpfungen zum ersten Male ein bedeutender Künstler in ganzer Gestalt entgegen: Bertel Thorvaldsen! Wie man auch heute über sein nachgeahmtes Griechentum denken mag, an dem damals noch kaum Zweifel laut geworden waren – ein Meister, der Hohes wollte und konnte, bleibt er doch. Wie andachtspendend der ruhige Zusammenklang seiner edlen Gestalt des segnenden Erlösers am Altar, seiner innerlich bewegten großen Apostel im Schiff, seiner wohlabgewogenen Reliefs aus der heiligen Geschichte hinter dem Altar und in der Vorhalle der klassischen Frauenkirche. Welche Fülle herrlicher Heidengötter, großer Menschen und sinnbildlicher Gestalten seiner Hand im Thorvaldsen-Museum, das, ganz seinem Andenken geweiht, fast alles, was er geschaffen hat, wenn auch das meiste nur in Abgüssen, in sich vereinigt! Die feierliche Reinheit und Schlichtheit seiner Kunst nahm ich damals natürlich völlig kritiklos in mich auf. Es war mein erstes mit Bewußtsein, wenn auch noch nicht mit Verständnis erfaßtes kunstgeschichtliches Erlebnis.