Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Neuntes Kapitel

Der König in der Marienburg

Als Bartholomäus Blume bald darauf nach Hause kam, hatte er den Kopf so voll Sorgen, daß er auf die verstörten Gesichter seiner Frau und Tochter nicht sogleich achtgab. Er meinte, sie seien durch sein langes Ausbleiben beängstigt worden, und sah sich nun nicht einmal in der Lage, sie mit einem freundlich beschwichtigenden Wort zu Bett zu schicken. Das Abendessen lehnte er ab, setzte sich auch nicht, sondern schritt im Zimmer auf und ab, von den Dingen sprechend, die ihn bekümmerten. »Nun ist's soweit«, sagte er, sich nach einigen Worten immer wieder unterbrechend, um aus gepreßter Brust Atem zu schöpfen, »nun ist's so weit, als unsere Gegner es treiben wollten – der Hochmeister verjagt, die Marienburg den Polen geöffnet – der König unterwegs, Besitz zu ergreifen – ein Kriegsheer vor den Toren der Stadt. Und die Bürger verzagen, des Ordens Partei zu halten. Wer wollt's ihnen verdenken? Feinde ringsum. Das ganze Weichselland, das Ermland in ihrer Gewalt – das Schloß dicht vor unsern Mauern zum Kampf gegen uns gerüstet – Tausende im Anzuge, mit Geschütz und Proviant von den Thornern und Danzigern Wohl versehen. Wir haben sichere Nachrichten. Was können wir gegen solche Übermacht? Es ist, als ob ein Unwetter vom Himmel niederfährt – man muß sich ducken und ihm seinen Lauf lassen. Das meinen auch die Treuesten, sonst Unverzagtesten. Wahnsinn scheint's, sich gegen das Unvermeidliche auflehnen zu wollen. Und ich selbst wage nicht zu raten ... Aber dem König huldigen –! Ich kann's nicht – ich kann's nicht.«

Frau Christine stand auf und trat an seine Seite, den Arm um seine Schulter hängend. »Lege dein Amt nieder, Barthel«, sagte sie, »es verleidet dir das Leben.«

»Sie lassen's nicht zu«, antwortete er, »und sie haben ein Recht auf mich. Ich hab' mich ihnen zugesagt für gute und schlimme Tage, das muß ich ihnen nun treu halten. Ihr Schicksal ist das meine – ich darf den Körper nicht ohne Haupt lassen.«

»So wollt ihr doch dem König huldigen?« fragte Marcus erregt.

»Es ist noch nicht fest beschlossen«, sagte Blume. »Die einen wollen ihm entgegenschicken, sich seiner Gnade besser zu versichern, da sie doch seinen Zorn nicht meinen auf sich laden zu dürfen, die anderen eine Aufforderung abwarten, sich gegen den Vorwurf zu eiligen Abfalls zu sichern. Es ist kein großer Unterschied. In der Hauptsache sind die Bürger wohl einig, daß Widerstand jetzt unmöglich ist. Heut oder morgen – sie werden sich fügen. Und sie müssen – ich kann's nicht anders sagen.«

»So tut Eurem alten Herrn noch eine letzte Liebe«, rief Marcus, »und nehmt sein Kind in Euren Schutz, Vater.«

Blume blieb überrascht stehen. »Meinem alten Herrn –? Sein Kind –? Ah! Du sprichst ...«

»Vom Herrn Hochmeister, Vater, und von Ursula.«

Es war gesagt, und es mußte nunmehr gesagt werden. Magdalene bot leise ihrer Mutter eine gute Nacht und schlich in ihre Kammer. »Sprecht Ihr, Mutter«, bat Marcus. »Die Tatsachen gab ich Euch schon bekannt. Ihr wißt die Worte besser zu setzen. Wo noch etwas fehlt, will ich's hinterher nachholen.«

Frau Christine erfüllte gern seinen Wunsch. »Nun ist's jetzt freilich nicht die Zeit«, schloß sie, »zu beraten und zu beschließen, wie wir uns in diesen Dingen weiter zu verhalten haben. Ich will nur ans nächste denken, und das ist, daß wir Frau Regina und ihre Tochter nicht unter dem Kriegsvolk lassen dürfen. Hast du nichts dagegen, Barthel, so will ich sie bei mir herbergen, bis sie in Sicherheit die Rückreise antreten können. Das ist gewiß ein gottgefälliges Werk.«

»Ursula des Hochmeisters Kind –«, murmelte der Bürgermeister, »das hatten wir im stillen vermutet, und so erklärt sich nun seine Abweisung. Aber Regina, Tilemans Eheweib, Josts Mutter ... Damit kann ich so rasch nicht fertig werden. Welch' wundersame Verkettung des Schicksals! Wenn wir sie bei uns aufnehmen – ich fürchte, Herr Tileman vom Wege wird's nicht mit freundlichen Augen ansehen. Und er gilt jetzt viel beim König.«

»Vergeßt nicht, Vater«, sagte Marcus, »daß es für jeden sonst ein Geheimnis ist und bleibt, wie diese beiden zueinander gehören. Ihr tut Herrn Tileman wahrlich keinen Tort an, wenn Ihr Ursulas wegen die Frau in Euren Schutz nehmt, die nur als ihre Mutter gekannt ist. Jost hat guten Grund, unserm Hause fernzubleiben und zugleich Schweigen zu beobachten. So hat's für Herrn Tileman keine Gefahr, und er mag auch ferner sein Weib verleugnen, das er für tot erklärt hat, jetzt aber lebend weiß. Fühlt er noch menschlich, so wird er Euch eher im Herzen dankbar sein, daß Ihr Euch ohne seinen Schaden der Verlassenen annehmt.«

Blume ließ diese Gründe gelten. Er hätte sich vielleicht auch mit noch weniger überzeugenden abgefunden, denn er verehrte Frau Regina sehr und hatte Ursula lieb wie sein eigenes Kind. Dieses warme Gefühl für beide wurde wenig abgekühlt durch die Schatten einer schuldhaften Vergangenheit, die doch gebüßt war. Tileman trat ihm in seinem Haß gegen den Zerstörer häuslichen Friedens menschlich näher; aber zugleich sank in seinen Augen der Stifter des Bundes, der Bürger, des Ordens großer Gegner.

Am andern Morgen in der Frühe fuhr Marcus dann seine Mutter und Schwester nach dem Dorf hinaus. Im Schulzenhause hatte er selbst vor Jahren die Waldfrau und Ursula einquartiert gehabt, als sie zum erstenmal nach Marienburg kamen. Dessen mußte er nun in der Freude des Wiedersehens gedenken. Er ließ seine Mutter mit Magdalene voraus ins Haus gehen und machte sich bei dem Fuhrwerk zu schaffen, bis ihr Kommen aufgeklärt und die Freundinnen sich begrüßt hätten. Es war ihm, als ob er Ursula, wenn auch im Beisein der andern, gleichsam ungeteilt für sich allein haben müßte. Darauf mußte er leider noch eine kleine Weile warten, so ungeduldig ihm das Herz pochte. Ursula aber ließ ihn nicht lange in Ungewißheit, wie sie für ihn empfand. Sie eilte, sich aus Magdalenens Umarmungen losreißend, schon nach wenigen Minuten aus dem Stübchen hinaus bis zur Hoftür, öffnete die obere Lade und winkte ihm ein frohes Willkommen. Er eilte hinein und schloß das geliebte Mädchen an seine Brust. In diesem seligen Augenblick waren alle turmhohen Hindernisse ihrer Vereinigung wie schwache Scheidewände von Sand durch einen Hauch der Liebe fortgeweht. Was kümmerte sie jetzt die nächste Stunde? Sie hatten einander wieder, und sie wußten, daß sie sich immer angehörten und nie verlieren könnten.

Dann traten sie Hand in Hand ein; Ursula lehnte den Kopf mit dem Goldhaar auf seine Schulter, ihr Gesicht strahlte freudigste Befriedigung. So näherten sie sich den beiden Frauen, die auf der Fensterbank in leisem Gespräch saßen. Frau Regina streckte den Arm vor, als wollte sie trennend dazwischentreten. »Ihr dürft nicht vergessen –«, mahnte sie. »Laßt sie«, bat die Bürgermeisterin, »sie haben ein gutes Recht auf diese erste frohe Stunde. Wissen wir doch nicht, wie viele ernste und traurige darauf folgen! Es scheint mir, die Dinge außen haben sich gar sehr verändert und vielleicht zu ihren Gunsten gewendet. Nun – sie selbst sind, wie wir sehen, immer dieselben geblieben.«

»So ist's«, sagte Marcus, indem er ehrerbietig Frau Regina die Hand küßte und seine Mutter umarmte. »Ja, ja, ja! Das Schicksal hat uns trennen wollen, aber nur um so fester verkettet. Kein Einspruch hat Macht gehabt über unsere Herzen; jetzt soll er auch unseren Händen nicht weiter wehren, sich zu vereinigen.«

»Da hört Ihr die rasche Jugend«, äußerte Frau Regina zur Bürgermeisterin gewendet, lächelnd. »Kaum ist ihr ein Pförtchen der Hoffnung geöffnet, so stürmt sie schon mit wehenden Fahnen auf den Traumgipfel des Glückes. Und ich fürchte, nicht einmal das Pförtchen führt ins Freie.«

Ursula begrüßte jetzt erst die liebe Freundin mit zärtlicher Hingabe. Nun mochte Marcus sich's genügen lassen, sie mit begehrlichen Augen von weitem anzuschauen und von Zeit zu Zeit einen Blick zu erhaschen. Sie hatte den Arm um Magdalena gelegt, streichelte ihr Haar und Wange und gab ihr allerhand Kosenamen. »So hast du's getrieben«, sagte Magdalene, »als ich bei dir im Walde war, und ich wußte wohl, daß ein ganz anderer gemeint sei. Jetzt möchte der leicht eifersüchtig werden, wenn ich noch immer seine Stelle vertrete.«

»Das soll er nur bleibenlassen«, antwortete Ursula schalkhaft und fuhr dann ganz ernst fort: »Hätt' ich dich damals nicht gehabt, Liebe, in der Zeit meiner tiefsten Traurigkeit, als die böse Nachricht kam, daß der Herr Hochmeister Marcus abgewiesen habe ... Ach du mein Gott! Ich kann ihm jetzt nicht mehr zürnen; er hat's gewiß mit gutem Bedacht für uns beide tun zu müssen geglaubt. Aber damals –! Und da hatt' ich doch dich wenigstens, die liebe Schwester, und durft' an deinem treuen Herzen weinen. Du aber, du hattest nun fremdes Leid zu pflegen und gedachtest des eigenen weniger. Das machte dich wieder gesund.«

»Nein, ich sah, wie du's trugst«, sagte Magdalene, »und trug's nun auch geduldiger. Von deiner Traurigkeit sollt' ich gar nichts wissen und nur immer ein heiteres Gesicht sehen. Weißt du noch, wie ich dich deshalb schalt und dir vorwarf, du fühltest von rechter Freundschaft nichts?«

»Und weißt du noch«, fragte Ursula zurück, »wie ich da furchtbar an deinem Halse zu weinen anfing – das eine Mal? Auf der großen Eiche hinter dem Hause war's. Wir hatten die Leiter angesetzt und waren in die Krone hinaufgeklettert, um ganz im Waldlaub zu stecken und von der Erde fort zu sein. Wer da ein Nest bauen könnte, wie die Vögel!«

So plauderten sie, bis die Bürgermeisterin zum Aufbruch mahnte. Frau Regina hatte gern eingewilligt, in der Stadt ihr Gast zu sein. Nur für kurze Zeit, meinte sie, bis das Kriegsvolk sich aus der Gegend fortgezogen hätte. Ursula wollte ihren Gotländer mitnehmen. Er wurde ans Handpferd gebunden; in die Stadt einreiten durfte sie nicht. Jost vom Wege ließ sich nicht blicken. Er hatte dem Rottmeister den Befehl gegeben, dem Abzug der Frauen kein Hindernis in den Weg zu legen, die Trabanten aber fest im Zaum zu halten, daß sie sich nichts Ungehöriges erlaubten. So kam das Fuhrwerk ungefährdet aus dem Dorf. Die beiden Frauen hatten den hinteren Sitz eingenommen, die beiden Mädchen den mittleren. Marcus saß vor ihnen und lenkte die Rosse. Er hatte sie so fest in der Hand, daß er sich ohne Bedenken öfters umsehen und mit einem Wörtlein ins Gespräch mischen konnte.

Schon am andern Tage kam König Kasimir von Danzig her, wo er von den reichen Kaufleuten und Schiffsherren aufs festlichste bewirtet worden war. Er war ein feuriger junger Herr, dessen Augen noch lebhafter blitzen konnten als die zahlreichen Edelsteine, mit denen der Federhalter an seiner Mütze, die Ärmelklappen seines kurzen Mantels, der Säbelgurt und der Griff des Säbels dicht besetzt waren. Er ritt einen prachtvoll gezäumten Rappen von edelstem Blut und hatte nach polnischer Art die Knie hochgezogen und die Füße in breiten silbernen, ebenfalls mit Steinen geschmückten Bügeln. Ein Trupp Zinkenisten, Trompeter und Pauker ritten dem Zuge voran. Es folgte der königliche Fahnenträger, umringt von einer Schar polnischer Edelleute. Zu beiden Seiten des Königs ritten seine hohen Kronbeamten, die preußischen Woywoden Gabriel von Baisen und Hans von Czegenberg – der Gubernator wurde von Elbing erwartet, wo er seinen Wohnsitz genommen hatte –, polnische Bischöfe, Woywoden und Kastellane, alle in reichster Kleidung und glänzendem Schmuck, eifrig bemüht, sich in die nächste Nähe des Königs zu bringen. Es schloß sich ein Schwarm von polnischen und preußischen Edelleuten, Ratsherren der großen Städte, Bürgermeistern der kleineren an, die alle von des Königs Gnade etwas zu erbitten hatten und nicht zu spät kommen wollten. Ein Heer von mehr als dreitausend Bündischen und Polen gab das Geleit. Unabsehlich zog sich der Troß von Fourage-, Zelt- und Küchenwagen, Knechten mit Reit- und Bagagepferden, Jägern mit gekoppelten Jagdhunden, Gauklern, Springern und Musikanten auf der Landstraße hin.

Die aus dem Lager waren entgegengeeilt und erwarteten mit ihren Fähnlein den König schon vor der Brücke. Die Soldhauptleute hatten bereits das Schloß geräumt und ließen ihn durch Ulrich Czerwonka begrüßen, der ihm feierlich die Schlüssel der Burg zu überreichen kam. Auch einige Ratsmannen der Stadt Marienburg hatten sich eingefunden, den hohen Herrn willkommen zu heißen, wurden aber kaum eines Blickes gewürdigt; waren sie doch vergeblich schon in Danzig erwartet worden! Auf den Stadtmauern an der Wasserfeste standen viele Neugierige und sahen dem Einzug zu. So manchem schlug ängstlich das Herz, wenn er immer neue Fähnlein anreiten sah. Einen solchen Gast hatte die Marienburg noch nicht beherbergt. Jetzt erst fiel's so recht in die Augen, daß sie über Nacht ein königliches Schloß geworden war.

Über dem Brückentor war die polnische Standarte aufgerichtet zwischen den Stadtfahnen von Thorn und Danzig. Als der König einritt, erschien sie auch aus der obersten Fensterluke des hohen Turmes der Marienburg an langer vergoldeter Stange, weit hinaus ins Land kündend, daß es jetzt eine andere Herrschaft habe. Für Kasimir waren die hochmeisterlichen Räume im mittleren Schloß in Eile hergerichtet, doch hatte man nur dem Schlafzimmer ein wesentlich verändertes Aussehen geben können; hier war die einfache Holzbettstelle entfernt und durch ein Prunklager mit Purpurbaldachin ersetzt. Im übrigen hatte man sich mit einer reicheren Ausstattung von Teppichen und Vorhängen begnügen müssen und das vorausgeschickte silberne Tafelgeschirr des Königs auf Tische und Kamine gestellt.

Der hohe Herr nahm Besitz von der Burg, indem er zuerst in den Hof des rechten Hauses einzog, dort vom Pferde stieg und mit seinem ganzen Gefolge zum Hochamt nach der Kirche ging. Er sah auf dem hochmeisterlichen Stuhl, in der mit prachtvoller Steinarbeit geschmückten Empore, seine Paladine und Räte nahmen in den Chorstühlen der Ritter Platz, der offene Raum inzwischen füllte sich mehr und mehr mit der polnischen Schlachta und den bündischen Söldnern, so daß zuletzt die Masse Kopf an Kopf gedrängt stand. Neugierig hatten sie schon an dem Eingangstor beim Kreuzgang, der »goldenen Pforte«, die sonderbaren Bildwerke von Stein, Ranken von Weinblättern und Rosen, Drachen, Greife, Ungeheuer mit Menschenköpfen und Fischleibern, oder in den Bogenfeldern die fünf törichten und fünf klugen Jungfrauen angestaunt; neugierig schauten sie jetzt zu dem die ganze Breite der Kirche überspannenden herrlichen Sterngewölbe, zu den achtzehn Heiligen unter den zu Thronhimmeln geformten Kragsteinen, zu den Glasmalereien der zehn Spitzbogenfenster auf, wenig auf die Messe achtend. Dann setzte der König den Umzug durch die Vorburg fort und trat endlich in den großen Remter des mittleren Schlosses ein, in welchem die Festtafel gedeckt war. Die Söldner wurden im großen Konventsremter des alten Hauses, auf dessen Hof und draußen in den Lagern gespeist. Von Zeit zu Zeit donnerten die Geschütze ihren Festgruß.

Der Mann allein, der zu diesem Wandel der Dinge am meisten beigetragen hatte, mußte dem Fest fern bleiben. Tileman vom Wege lag krank in seinem Zelt, wie gelähmt an allen Gliedern, von wahnsinnigen Kopfschmerzen gequält. Er mußte die letzten Verhandlungen über die der Stadt Thorn zu gewährenden Freiheiten seinen Kumpanen Rutger von Birken und Johann von Loë überlassen. Sie baten ihn, sich zu schonen, damit er wenigstens bei Empfangnahme der Briefe zugegen sein könne. Auch dazu war nur geringe Hoffnung.

Am nächsten Morgen schon wurde auf dem Rathaus der Stadt Marienburg ein Schreiben mit königlichem Siegel abgegeben. Es enthielt die Aufforderung, Bürgermeister und gesamter Rat sollten am andern Tag im Schloß vor Sr. Majestät erscheinen, die Huldigung zu leisten, und war in strenger Form abgefaßt. So sollte nun geschehen, was Bartholomäus Blume mit tiefster Bekümmernis gefürchtet hatte: von ihm selbst wurde der Treueid verlangt. Er hatte sofort nochmals den Rat versammelt, Mann für Mann abstimmen lassen. Es war nur eine Meinung gewesen: daß es Torheit sein würde, durch Weigerung des Eides den Zorn des Königs auf die Stadt zu laden, die ihren Abfall vom Bunde schon schwer genug zu büßen gehabt. Aber auch darüber hatte sich nur eine Meinung ausgesprochen, daß man lediglich dem Zwang nachgebe und eine durch die Not gebotene Form erfülle, im Herzen aber der alten Herrschaft treu bleibe und sich auch ferner gut deutsch verhalten wolle. Darauf hatten sie ihrem Bürgermeister die Hand gegeben, um ihm die Gewissensnot zu erleichtern.

Doch kam er in großen Ängsten nach Hause. Frau und Kinder baten ihn, er möge sich`s nicht so gar nahe gehen lassen. Habe er doch bis zum letzten getan, was eines braven und treuen Mannes Pflicht sei; darüber hinaus könne niemand. Das stellte ihm auch Frau Regina vor. »Gott führt mitunter ein sonderbares Regiment«, sagte sie, »und wir schwache Menschen müssen uns darunter beugen, es gefalle uns oder gefalle uns nicht. Er läßt die Ungerechten zu Ansehen kommen und den Gerechten den Fuß auf den Nacken setzen, so daß es Wohl eine Weile den Anschein hat, als regiere der Teufel auf Erden. Aber über kurz oder lang wird er dann um so strenger Gericht halten und die gute Ordnung wieder herstellen. Vertrauen wir allezeit darauf«

»Ach, ach –!« klagte er, »wie gern wollt' ich das Bitterste leiden, könnt' ich mein Gewissen rein bewahren. Ich soll einen Eid leisten, von dem mein Herz nichts weiß, und so ist's ein falscher Eid, den Gott strafen muß. Man ganzes Leben lang bin ich besorgt und bemüht gewesen, gerade Wege zu gehen und mit Aufrichtigkeit den Menschen zu dienen. Was ich für das Beste erkannt habe, dafür bin ich mit Wort und Tat eingetreten, und keine Lockung oder Drohung hat mich davon abgebracht. Jetzt soll ich mich zur Falschheit kehren und Gottes Namen mißbrauchen. Das überwind' ich in meinem Innersten nimmer und bin fortan ein gebrochener Mann.«

Gegen Abend kam Gabriel von Baisen zu ihm. Sein Bruder Hans, der Gubernator, schickte ihn, da er eben von Elbing angelangt war und die Angelegenheit möglichst glatt geordnet wünschte. Der Woywode kannte die Stimmung der großen Städte gegen Marienburg; man konnte dort nicht vergessen, daß noch das Siegel Marienburgs am Bundesbrief hing, aber mit öffentlichem Protest zurückgefordert worden war. Man verlangte eine Demütigung des Rats, wie die Gemeinen in Thorn und Danzig gedemütigt waren, weil sie des Ordens Partei nahmen. Das konnte aber denen nicht erwünscht sein, die zu vermitteln und einen friedlichen Ausgleich zur Beruhigung der Gemüter herbeizuführen bestrebt waren. Hans von Baisen, eine von Grund aus edle Natur, fühlte sich selbst nur zu stark in die Seele Blumes hinein, konnte er doch am wenigsten jetzt über die peinigende Erinnerung hinweg, daß er als Jüngling hier in diesem Schlosse, in dem er nun dem König von Polen huldigte, sein erstes Hofamt bei dem Hochmeister Heinrich von Plauen angetreten hatte, dessen ewiger Ruhm war, die Burg siegreich gegen ein polnisches Heer verteidigt zu haben. Er wußte, was es ihn gekostet hatte, sich von den Banden der Dankbarkeit und herzlichen Anhänglichkeit frei zu machen. Nun wollte er den Streit der Pflichten nicht an dem Beispiel eines anderen Mannes in die Erscheinung treten lassen, zugleich Bartholomäus Blume, den er achtete und ehrte, vor den Ausschreitungen seiner politischen Gegner bewahren. Deshalb sendete er seinen Bruder zu ihm. Er hatte gar nicht ungern gehört, daß Tileman vom Wege krank liege; von seiner Seite hatte er die heftigste Agitation gegen die bundbrüchige Stadt befürchtet.

Gabriel von Baisen fand den Bürgermeister in der gedrücktesten Stimmung. Blume überlegte schon, ob er nicht doch lieber von seinem Amt Zurücktreten, sein Hab und Gut verkaufen und außer Landes ziehen, als den Eid dem König leisten solle. Dies brachte der Woywode nach kurzem Gespräch leicht heraus. Es mußte um jeden Preis vermieden werden. Er wußte, daß Blume unbestechlich sei; Versprechungen von Gnadenbeweisen konnten hier keinen Nutzen haben.

So suchte er ihn denn bei seiner edelsten Schwäche zu fassen. »Ihr wisset selbst gut genug, werter Herr«, sagte er ihm, »daß Ihr nicht seid wie irgendein anderer Mann, der bleiben oder gehen kann, wie es ihm gefällt. Auf Euch sehen viele Augen. Was Ihr tut oder unterlasset, ist dem ganzen Lande ein Merkzeichen und kann auch außen nicht unbeachtet bleiben. Ich glaube daher nicht, daß Euch der Herr König gutwillig abziehen lassen wird. Ihr seid nun einmal der Bürgermeister dieser Stadt Marienburg, die in seine Hand gegeben ist, und könnt nicht aufhören es zu sein, bevor Ihr ihm die Pflicht erfüllt habt. Versagt Ihr sie, so wird man Euch ins Gefängnis werfen und Eure Güter einziehen. Wenn Ihr aber auch solches Schicksal auf Euch nehmen und Eure Kinder zu Bettlern machen wolltet, damit wird's nicht abgetan sein. Sondern die Stadt wird Eure Halsstarrigkeit schwer zu büßen haben. Bedenkt, wie die Thorner die Neustadt Thorn geknebelt und die Danziger gar die vom Orden angelegte und ihm ergebene Jungstadt zugleich mit dem Schloß gebrochen haben. Nicht milder werden sie mit Marienburg verfahren, wenn die Stadt nicht ohne jede Weigerung zum Bunde tritt. Wollet also ein ganzer Mann sein und ein hartes Geschick von ihr abwenden.«

Diese Mahnung schlug ein. »Ja, ja«, rief Blume, »ich beuge mich dem Zwange der Notwendigkeit. Sagt dem Herrn König, daß er mich morgen zu erwarten habe. Mag Gott mir weiter helfen!«

Und so zogen denn Bürgermeister, Ratmannen und Schöffen in voller Zahl, alle in Feiertagskleidern, wohlgeordnet aus der Stadt, vorüber am Sperlingsturm und durch das Schuhtor nach dem Schloß. Die sie gehen sahen, wußten, daß sie nicht anders könnten, und waren ihnen mit traurigem Herzen doch dankbar für Abwendung großer Bedrängnis. »Der Herr segne euch!« rief man ihnen zu.

Der große Remter, dessen Strahlengewölbe hoch aufsteigend auf drei schlanken Pfeilern ruhte, war festlich geschmückt. Neben dem dritten Pfeiler war auf eine Estrade von drei Stufen ein Thronsessel gestellt, darüber ein Baldachin von Purpur mit langen Goldfransen gehängt. Die abschließende Wand hinten zeigte die Wappen von Polen und Preußen dicht nebeneinander. Zur festgesetzten Stunde füllte sich der weite Saal bis auf den letzten Platz. Auf der rechten Seite des Thronsessels stellten sich der Gubernator und die preußischen Woywoden, auf der linken der Kanzler und die polnischen Würdenträger auf. Weiter zurück standen die Bischöfe, die Landesräte von Preußen, die Abgesandten der großen Städte, unter ihnen in erster Reihe Wilhelm Jordan von Danzig und Rutger von Birken von Thorn. Hinter dem Kanzler, an einem kleinen Tisch, auf welchen Pergamentrollen gelegt wurden, saßen die Schreiber des Königs und des Bundes. Vor der Estrade blieb ein freier Raum, durch eine von köstlich gekleideten Pagen gehaltene purpurne Schnur begrenzt. Ebenso war ein Gang bis zur Tür offengehalten.

Polnische und preußische Edelleute, Eidechsenritter, Soldhauptleute und Rottmeister, Ratsherren und Bürger, Schulzen und Freie aus den Orten eine Tagesreise in die Runde drängten gegen die Schranken, die von königlichen Hellebardieren gehütet wurden. Angekündigt durch die Zinkenisten und Trompeter, geführt von Herolden in Wappenröcken und Bannerträgern, erschien endlich König Kasimir, die Krone auf dem jugendlichen Haupte, das Schwert im Arm, den Purpurmantel mit Hermelinfutter um die Schultern gehängt. Er wurde mit jubelnden Zurufen empfangen und dankte sehr gnädig. Es folgten die Träger der polnischen und preußischen Fähnlein, die das Heer gesendet hatte. Während der König unter den Thronhimmel trat, umzogen sie die Estrade in weitem Bogen und stellten sich an der Wand auf.

Dann winkte König Kasimir dem Gubernator von Preußen und dem Kanzler. Sie traten zu ihm auf die oberste Stufe. Der Kanzler öffnete eine Pergamentrolle und verlas ihren Inhalt. Es stand darin, daß Preußen, nachdem es mit freiem Willen seiner Edelsten zur Krone Polen getreten und von derselben angenommen sei, nun auch nach Übergabe des Ordenshaupthauses tatsächlich ein Glied des Reiches geworden. Der König begrüße seine preußischen Untertanen, die ihm meist schon in ihren Städten und Kreisen gehuldigt, dann aber treu im Kampf beigestanden hätten, wolle jetzt aber des ganzen Landes Huldigung einnehmen und seinen Dank allen und jedem zu erkennen geben. Preußen solle unter der Krone Polen stehen, wie zugesichert, eine selbständige Regierung haben und alle Privilegien bestätigt erhalten, die ihm die vorige Herrschaft versagt, auch bei der Königswahl als ein Reichsstand beteiligt sein. Solches gelobe der König mit Vollmacht des Reichstages. Kasimir hob darauf die Hand und neigte das Haupt zum Zeichen der Bestätigung.

Darauf kniete Hans von Baisen vor ihm nieder und gelobte unverbrüchliche Treue namens des Landesrats und der Stände. Seiner Rede folgte jubelnde Zustimmung der Versammelten.

Nun ließ der König den Hauptmann der Böhmen, Ulrich Czerwonka, herbeirufen. Er hatte ihm die Übergabe der Marienburg schon mit einem ansehnlichen Geldgeschenk gedankt. Um sich seiner Treue um so besser zu versichern, ernannte er ihn jetzt feierlich zum Oberhauptmann auf Marienburg und zum Herrn der Burgen Schwetz und Golub mit allem Zubehör an Land und Leuten. Daraufhin wurde er sein Mann und huldigte ihm, seine Pflicht gegen den Orden ganz vergessend.

Dann erhielten die Vertreter der großen Städte ihre teuer erkauften Briefe ausgehändigt. Danzig fiel Dirschau mit seinem Gebiet zu, Elbing wurde mit Gütern und Dörfern gegen einen Jahreszins beschenkt, Thorn endlich wurde Herr fast des ganzen früheren Komtureibezirks, sollte in ewigen Zeiten frei von allen Lasten und Abgaben bleiben, das Münzrecht ausüben dürfen, mit dem Stapelrecht in ausgedehntestem Maße und vielen anderen wertvollen Privilegien und Freiheiten begnadet sein. Rutger von Birken dankte für die Stadt. Er wußte, daß der König sich arm schenkte, und frohlockte innerlich darüber. Tileman vom Wege aber, der ihn reich und arm gemacht, feierte seinen Triumph nicht.

Indessen hatte der Marienburger Rat in der Nähe des Ausgangs gewartet. Die Herren hatten Zeugen aller dieser Gnadenbeweise des Königs sein müssen. Nun wurden sie durch den Gubernator vorgefordert. In der Rede, die er an die Majestät von Polen hielt, stellte er die Sache so dar, daß die Stadt früher treu zum Bunde gehalten, aber durch den Orden schwer bedroht und zum Abfall gedrängt sei, jetzt aber, da die Burg ihr nicht mehr ein Schrecknis, reumütig zurückkehre zum ganzen Lande und freudig den Herrn annehme, den sich dasselbe gegeben. Er wolle ihr deshalb gnädig sein und Geschehenes vergessen.

Bartholomäus Blume unterdrückte einen Seufzer. Er stand da mit gesenktem Haupt, an dem zu beiden Seiten der gramgefurchten Stirn das graue Haar lang und wellig hinabfiel, seine Augen deckend. »Allerdurchlauchtigster, großmächtigster König und Herr«, sagte er, »Eure Gnade weiß, daß wir von unserer früheren Herrschaft, der wir Treue gelobt hatten, noch nicht losgesprochen worden. Gleichwohl, da es Gott in seiner Allmacht so gefügt hat, daß Ihr im Kampfe Sieger geblieben und dieses Haupthaus eingenommen, und weil wir verlassen sind von unsern Herren und Eure Gnade uns keine Frist gestatten will, uns des früheren Eides zu entledigen, hiezu auch volle Macht hat, also sprech' ich's aus als den Willen der Stadt, daß sie bereit sei, Ew. Majestät und der Krone Polen zu huldigen, als dem Herrn des Landes Preußen, so uns Gott helfe, und erbitten uns dafür Ew. Majestät Gnade und mächtigen Schutz.«

Er wendete sich darauf zurück und fragte die Seinigen, ob dies recht gesprochen sei, und da sie mit Ja antworteten, kniete er unten an den Stufen auf dem Scharlachtuch nieder, hob die Hand und sprach den Eid, wie er ihm durch den Woywoden von Kulm vorgesagt wurde.

Dabei wurden ihm die Augen feucht, und es rollte eine Träne auf sein Wams, als er aufstand. Das sah der König, drohte ihm mit dem Finger und sagte: »Du – du! Halte Wort! Es wär sonst dein Schade.«

Der Stadt Marienburg wurden sodann ihre Privilegien in Gnaden bestätigt.

Nach diesem feierlichen Akt bewirtete der König wiederum in den Prachträumen des Schlosses alle seine Gäste.

Nach einigen Tagen zog er mit seinem Gefolge ab und nahm den größten Teil des polnischen Heeres mit sich.

Tileman vom Wege verzweifelte daran, im Lager wieder zu Kräften zu kommen, und ließ sich, da er kein Pferd besteigen konnte, in einer Sänfte nach Thorn zurücktragen.


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