Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Sünde und Buße

Ludwig von Erlichshausen saß in der Fensternische, den Kopf die Hand gestützt, wie träumend. Das Knarren der Tür schreckte ihn auf. Er erhob sich rasch, streckte den Arm aus und bewegte sich einige Schritte vor. Das Gesicht war schreckhaft bleich, die Augenbrauen gespannt, der Mund halb geöffnet. »Seid Ihr's wirklich, Paula?« stammelte er, »ich glaubte Euch längst nicht mehr unter den Lebenden.«

Die Frau war an der Tür hoch aufgerichtet stehen geblieben. Der Blick, mit dem sie ihn betrachtete, konnte es ihm sagen: nähere dich mir nicht. Alle Angst schien von ihr gewichen, nachdem einmal die Begegnung unvermeidlich geworden. Mit fester, rauh klingender Stimme antwortete sie: »Ich sollte für Euch tot sein, Herr Ludwig von Erlichshausen, und meine Schuld ist's nicht, daß Ihr mich noch einmal im Leben wiederseht. Was wollt Ihr noch von mir?« »Euch sagen«, rief er, »daß ich Euch alle die Zeit in meinem Herzen betrauert habe wie eine geliebte Tote, der ich eine schwere Schuld – die schwerste Schuld meines Lebens abzubitten hatte ewiglich. Ja, ich hab Euch geliebt, wie nie ein Weib zuvor, und konnte nicht aufhören Euch zu lieben, ob es schon Sünde war. Euch zu lieben und Eurer in Liebe zu gedenken. Ich hatte mein Gelübde schwer verletzt, und es wollte mich nicht gereuen, wie ich auch vor Gott rang. Immer standet Ihr mir vor Augen, in Eurer Schönheit und Herrlichkeit – nicht vergessen könnt' ich das Seligste, das ich durch Euch genossen, nicht vergessen das Leidvollste, das mein Herz erfuhr, als Ihr mir entrissen wurdet. Sündhaft war Eure Leidenschaft, wie die meine! Aber ich weiß, Ihr habt mich geliebt in Wonnen und Schmerzen, wie ich Euch liebte, und auch Ihr bereut nicht.«

Er sank zu ihren Füßen nieder und wollte ihre Hände erfassen, aber sie wehrte ihm mit einer unwilligen Bewegung. »Ihr irrt«, sagte sie, »Gott kennt meine Reue. Sie allein hat mich aus der Verzweiflung gerettet, daß ich das Leben ertrug. Gott wollte mir's nicht enden, so heiß ich ihn anflehte, und ich dank ihm dafür. Denn er hat meine Seele aus der Finsternis gerettet zum Licht und mich stark gemacht zu seinem Dienst. So tief ich gesunken war durch eigene Schuld, so hoch hat seine Gnade mich erhoben. Ihr versucht mich nicht mehr, daß ich zurückfalle.«

»Paula –«, bat er mit schmelzendem Ton, zu ihr aufblickend und die Hände vor der Brust kreuzend, »verleugnet Euch nicht vor Eurem großen Herzen. Was hat uns retten können aus der Sünden Not zur Himmelsfreudigkeit, als der Glaube an die Allmacht unserer Leidenschaft. Was konnten wir dawider?«

»O schweigt – schweigt! Zu willig hab ich Euch damals angehört, von Eitelkeit geblendet, von Sinnenlust berauscht. Und doch wäre ich Eurer Versuchung nicht erlegen, hätte ich mich nicht in ungerechtem Groll von meinem Eheherrn abgewandt gehabt, weil ihm der Stadt Wohl mehr am Herzen zu liegen schien als seines Weibes häusliches Glück, weil er mit seinen Gedanken von mir abirrte und meinen Kummer darüber kindisch und töricht schalt. Da meinte ich, er hätte mich nie geliebt, und war voll Bitterkeit gegen mein Geschick, daß ich mich nicht einmal mehr seines Knaben freuen konnte wie vordem, da er auch ihm noch alles Glück bedeutete. Für mich allein hab ich ihn in meiner Selbstsucht haben wollen und achtete jeden Beweis treuer Zuneigung gering, da er seine Sorge den Geschäften des Rats widmete und keine Tagfahrt versäumte. So fandet Ihr mein Ohr willig Eurer Schmeichelei, mein Herz schwach dem Ansturm Eurer Leidenschaft. Was galt Euch meine Ehre und mein Gewissen? Ihr wolltet siegen über das Weib, und Ihr siegtet. Da war ich Eure Sklavin fortan – das elendeste Geschöpf unter Gottes weitem Himmel!«

»Paula –!«

»Nennt mich so nicht! Die Paula, die Ihr kanntet, ist tot – von den Wölfen zerrissen. Fragt Tileman vom Wege. Ich bin ein armes Waldweib, das Kräuter sucht und Kranken Tränke braut und am liebsten ungesehen ist von den Menschen. Die Frau Regina bin ich, die man bei dem hochwürdigsten Herrn Hochmeister angeklagt hat, an seines Vorgängers Sterbelager teuflische Künste getrieben zu haben. Ihr seid mein Richter. Richtet mich, wie ich jetzt vor Euch stehe – nicht im Gedenken Eurer Schuld, sondern in Eures Amtes Gehorsam. Ich will auch das tragen, da es Gott über mich verhängt.«

Er war längst aufgestanden und wie taumelnd in einen Sessel gesunken. Da saß er nun vornübergebeugt und beide Hände gegen die Stirn gedrückt. »Ich fasse es noch immer nicht...« murmelte er, »kann's nicht fassen. Ihr dieses Weib ... und Paula –! Nein, nein! Paula lebt, es ist keine Vision meines kranken Gehirns. Nur daß Euer Haar grau ist und Euer Mund unholde Worte zu mir spricht... Sagt mir, was ist geschehen seit dem Schreckenstage, als Tileman uns überraschte und mich aus seinem Hause trieb, nachdem er mir einen Schwur abgenommen, daß ich schweigen wolle. Ich erfuhr bald darauf, er hätte mit Euch eine Reise angetreten nach seiner Heimat Westfalen, dort das Weihnachtsfest zu verleben. Und dann nach Monaten kam er zurück, und es hieß, Ihr wäret verstorben und fern begraben... Mußt ich's nicht glauben, wie jeder in Stadt und Schloß? Und nun erscheint Ihr mir, wie von den Toten auferstanden. Es macht mich wahnsinnig!«

Frau Regina lächelte schmerzlich. »Tileman selbst hält mich für tot«, sagte sie nach einer Weile, »und Ihr dürft ihm nicht sagen, daß er irrt, so wahr Ihr auf Gottes Gnade hofft. Seines Hauses Ehre zu retten war nach der Entdeckung meines Fehls sein ganzes Sinnen und Trachten. Noch war mein Ruf unbefleckt. Ich sollte Thorn verlassen, um es nie wiederzusehen. Das war sein Wille. Er klagte nicht, er beschimpfte mich nicht, er schalt mich nicht einmal. Das einzige Wort, das er zu mir sprach, war dies: Nimm Abschied von deinem Kinde – wir reisen fort. Ich wußte, daß er in seinem stummen Brüten etwas Fürchterliches plante, aber ich gehorchte unweigerlich, gebrochen an Leib und Seele. Wir ritten über die Weichselbrücke, als sollte der Weg weiter gen Sonnenuntergang fortgesetzt werden. Am andern Tage aber, nachdem er die Knechte zurückgeschickt, kehrte er um und hielt auf Graudenz. Dort benutzte er die Fähre spät abends, vermied die Stadt und ritt mit mir weiter ins Land hinein. Wir nächtigten bei Krügern, die uns nicht kannten, wieder und wieder. Ich hörte ihn einmal sagen, daß er nach Litauen wollte und dann zu den Schwertbrüdern nach Riga. Ein andermal nannte er wieder einen andern Ort. Die Leute sollten irregeführt werden. Endlich verloren sich mehr und mehr die Wege auf der steinigen Heide. Wir gelangten an einen großen Wald, dessen Ende rechts und links nicht abzusehen war, und ritten in denselben steglos hinein. Wir ritten den ganzen Tag, bis es dunkelte, ohne einen Menschen anzutreffen. Die Luft war kalt, der aschgraue Himmel schien bis zu den Kronen der Kiefern und dem kahlen Geäst der Eichen herabzuhängen. Es fing an zu schneien. Erst nur in spärlichen Flocken, dann dichter und dichter. Bald hatten die Tannen einen weißen Mantel umgelegt, die dürren Gräser und das welke Laub unter den Hufen unserer Rosse sich mit einem glitzernden Schleier bedeckt, der mit jeder Minute undurchsichtiger wurde. Ich war völlig erschöpft und konnte nicht weiter. Daß wir hier in der Wildnis eine Nachtherberge erreichten, schien mir undenkbar. Das war offenbar auch Tilemans Absicht nicht. Ich hatte sie längst erraten. Du willst mich töten, sagte ich ganz gefaßt, – töte mich, ende diese Qual! Er zog den Zügel an und antwortete finster: Ja, das soll geschehen – du mußt sterben, Weib! Ich kann die Schande nicht tragen, die du über mein Haus gebracht hast. Wie ich dich geliebt habe, so hasse ich dich jetzt. Ich kann keinen irdischen Richter, weltlich oder geistlich, über dich setzen, ohne unsere Schmach zu offenbaren. Darum muß ich selbst dich strafen nach dem Gesetz, das Gott in dem flammenden Busch verkündet hat: Du sollst nicht ehebrechen! Sprich: bist du des Todes schuldig? – Ich bin's, sagte ich, ließ mich vom Pferde hinabgleiten und kniete nieder auf dem beschneiten Boden. Auch er sprang ab, zog ein langes Dolchmesser, das er unter dem Mantel getragen hatte, und eilte auf mich zu mit wilden Gebärden. Stirb, rief er, sprich dein Gebet und stirb.«

Ludwig von Erlichshausen seufzte tief. »Armes – armes Weib«, jammerte er, »was hast du gelitten! Aber erbarmte er sich deiner, als du um dein Leben batest?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich bat nicht um mein Leben, und er erbarmte sich meiner nicht. Aber da ich nicht bat und nicht zitterte, sondern völlig ergeben in mein Schicksal vor ihm kniete, ruhig zu ihm aufschaute und den Streich erwartete, zu dem seine Hand schon ausholte, schien eine Feigheit sich seiner zu bemächtigen, daß er den Dolch mir nicht ins Herz zu stoßen vermochte, sondern den Arm widerwillig sinken ließ, die Augen von mir abwandte und stöhnend murmelte: Ich kann's nicht – ich kann dein Blut nicht vergießen. Gerechter Gott im Himmel, strafe du! – Er steckte das Messer mit zitternder Hand wieder zurück in die Gürtelscheide, ergriff den Zügel meines Pferdes, führte es zu dem seinen und machte sich bereit aufzusteigen. Jetzt überkam mich ein jäher Schreck. Du willst mich hier verlassen, schrie ich auf. Nein, nein! töte mich lieber auf der Stelle – sei barmherzig, töte mich! Ich umfaßte in unsagbarer Angst seine Knie, aber er wehrte mich ab wie ein ekles Gewürm, schwang sich auf und sagte: Mag Gott dir barmherzig sein, wenn er will – in seine Hände geb' ich dich. Aber ich weiß, er ist gerecht und tut nicht Wunder zu der Sünder Rettung: ich sehe dich nicht wieder. Noch immer rascher als meine Pein endete die deine. Das sei dir gegönnt! Mit diesen Worten riß er die Pferde herum und jagte fort, ohne noch einmal nach mir umzuschauen, in der Richtung, von der wir gekommen waren. Bald war er meinen Blicken gänzlich entschwunden.«

»Der Verruchte!« rief der Hochmeister. »Dem Frost und Hunger, der Grausamkeit wilder Tiere gab der Unmensch Euch preis. Aber Gott tat das Wunder, das Euer Peiniger für unmöglich hielt. Er erhielt Euch das Leben. Gepriesen sei sein heiliger Name!«

»Er erhielt mir das Leben«, antwortete die Frau mit Bitterkeit. »Er erhörte mein heißes Flehen um schnellen Tod nicht. Alle Qual martervollen Hinsterbens mußt' ich erdulden und dann doch ... Warum steh' ich jetzt vor Euch?«

»Wie seid Ihr gerettet?« fragte er ablenkend.

»Als ich mich in der Wildnis ganz verlassen sah, schleppte ich mich unter einen Baum, stützte mich gegen den Stamm und beschloß mein Ende abzuwarten. Aber die Stunden vergehen so langsam, wenn man die Sekunden zählt. Hundertmal sprach ich alle Gebete, die ich im Gedächtnis hatte. Es wurde Nacht und der Schnee fiel noch immer. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte die naßkalten Flocken auf meiner Stirn. Nun strich ein eisiger Wind zwischen den kahlen Stämmen durch, pfiff und ächzte in den nackten Kronen. Die Äste knackten und fielen rasselnd zur Erde. Ich war starr vor Frost und konnte doch nicht schlafen. Keinen Augenblick verlor ich die Besinnung. Endlich hielt ich's nicht länger in meiner schrecklichen Lage aus. Ich sprang auf, um meinem Körper Bewegung zu schaffen, durch irgendeine Tätigkeit das Angstgefühl zu bewältigen, das mich wahnsinnig zu machen drohte. Nur fort, fort, wohin es auch sei. Ich tappte durch die Finsternis von Baum zu Baum, oft durch Haufen aufgewehten Schnees, mitunter durch Rinnsale, deren dünne Eisdecke unter meinem Fuß brach. Immer eiliger wurde mein Lauf. In der Ferne hörte ich ganz deutlich die Wölfe heulen. Von ihnen zerrissen zu werden ... Entsetzlicher Gedanke! Und das sollte mein Los sein. Wie schwach ist das Menschenherz! Das Leben war mir verhaßt, ich hätt' es mit Dank hingegeben. Aber unter den Zähnen der hungrigen Bestien zu enden, Stück nach Stück von meinem Leibe reißen zu lassen ... Nein, nicht ohne den äußersten Kampf so untergehen! Mehrmals sank ich ganz ermattet zu Boden; aber die gräßlichen Laute schreckten mich immer wieder auf. Ich war in Schweiß gebadet, meine Brust keuchte. Endlich dämmerte es im Osten. Ich unterschied die Gegenstände in der Nähe. Aber nun wurde meine Lage noch schreckhafter: ich erkannte nichts genau und sah überall spukhafte Gestalten, die um mich herumhuschten, sich auf mich zu bewegten. Wie gepeitscht mit unsichtbaren Geißeln jagte ich weiter einer Waldlichtung zu. Ich fiel über einen Baumstamm, der unter der Schneehülle lang hingestreckt lag. Einige Stümpfe ragten weiterhin vor. Hier hatten Waldleute gearbeitet, und dort richtete sich auch etwas wie ein beschneites Dach dreieckig auf. Ich raffte die letzten Kräfte zusammen, schleppte mich weiter bis zum Eingang. Aus dem Innern funkelten mir ein paar Sterne entgegen. Ein Tier sprang auf und suchte das Weite – vielleicht ein Reh, das sich hierher vor den Wölfen geflüchtet hatte; der Schreck hatte mich niedergeworfen. Nun war mir's, als wären die Wölfe dicht hinter mir selbst. Ich kroch durch das niedrige Loch unter das Schutzdach, erspürte mit den Händen eine Holzlade, die nach innen umgefallen war, schob sie vor die Öffnung. So war ich geborgen.«

Herr Ludwig schüttelte sich wie im Fieber. »Gott sei gelobt«, rief er. »Welche Nacht der Schrecken!«

»Ich sank auf dem warmen MoosIager in Schlaf«, fuhr Frau Regina fort. »Als ich – nach vielen Stunden wahrscheinlich – erwachte, fühlte ich einen nagenden Hunger. Den Durst stillte ich, indem ich durch die Spalte der Lade griff und mir eine Handvoll Schnee hereinholte. Bald mußte ich erkennen, daß nach solchem Trunk Zunge und Gaumen noch trockener wurden, die Kehle zu brennen anfing. Meine Wohnung bestand aus zwei oben gegeneinander gelehnten Schirmwänden von Strauchgeflecht, hinten durch einen Aufbau von Rasenstücken geschlossen. Ich suchte vergeblich darin nach vergessenen Lebensmitteln. Ich fürchtete mich, diesen Schutzort aufzugeben. Vielleicht würden die Holzschläger kommen und mich auffinden. Nach so grausamer Buße drückte mich meine Schuld jetzt weniger schwer. Ich muß bekennen, daß ich sogar trotzig die Hand gegen meinen Peiniger ballte und Gott bat, ihn sein Rachewerk nicht gelingen zu lassen. Wie töricht war das! Noch eine zweite, entsetzlich lange, meist schlaflos verbrachte Nacht blieb ich in der Hütte. Dann trieb mich doch der Hunger fort. Vielleicht traf ich auf Kohlenbrenner, vielleicht ließ sich ein Beutnerdorf erreichen; hin und her schien mir ein Baum künstlich für die Waldbienen entästet und hergerichtet. Aber ich lief wieder den ganzen Tag, ohne im Schnee die Spur eines menschlichen Fußes zu entdecken. Gegen Abend fühlte ich mich so schwach und krank, daß es mir auch nicht mehr gelang, einen Baum zu erklettern, um mich so in der Nacht gegen einen Angriff wilder Tiere zu sichern. Wütender Hunger machte mich ganz unsinnig und wehrlos gegen die Verzweiflung. Ich grub mit den Fingern in die Erde, um Wurzeln auszuheben, bis mir das Blut von den Nägeln rann. Da endlich in der höchsten Not –«

»Menschliche Hilfe«, fiel der Hochmeister mit gespanntester Erwartung ein.

»Ja, eine alte Frau kam vorüber, beladen mit einem Bündel Reisig, statt des Stockes einen kleinen Spaten in der Hand haltend. Um die Schulter hing ihr eine Tasche von Rehfell, aus welcher der Hals einer Flasche vorsteckte. So häßlich sie war, kam sie mir doch vor wie eine himmlische Erscheinung. Was tut Ihr da? Was grabt Ihr da im Boden? redete sie mich an. Dies ist mein Revier, da hat niemand etwas zu suchen. Wo kommt Ihr her – wo wollt Ihr hin? Ihr seid nicht aus dieser Gegend, seht nach Euren Kleidern aus wie eine Städterin. Gebt Anwort! Ich sank vor ihr in die Knie, flehte sie um etwas Speise, um ein Obdach an. Ich sei von einem grausamen Mann in den Wald gebracht und hilflos verlassen. Sie schüttelte zweifelnd den Kopf, reichte mir aber doch aus ihrer Tasche ein Stück Brot und die Flasche mit einem Rest Met. Die beiden Hände auf den Spaten gestützt, schaute sie mir verwundert und immer den Kopf wiegend zu, während ich gierig Speise und Trank zu mir nahm. Kommt denn mit mir, sagte sie, als ich ein wenig erfrischt zu sein schien, mein Waldhaus ist nicht gar weit. Aber die Wahrheit müßt Ihr mir sagen, wenn ich Euch herbergen soll; ich will kein Ärgernis haben mit dem bischöflichen Vogt und seinen Leuten im Schloß. Ich ging mit ihr. Sie führte mich in ihre Waldhütte – dieselbe, die ich noch bewohne. Ich verfiel in eine schwere Krankheit. Die alte Frau aber rettete mich durch ihre Kunst daraus. Denn sie war vieler Geheimnisse der Natur kundig, wie sie in Wurzeln und Kräutern, Rinden und Knospen ruhen. Das alles hat die gute und kluge Frau mich später gelehrt, als es gewiß war, daß ich zeitlebens bei ihr bliebe. Denn sie gewann mich lieb und mehr noch das Kind, das ich mit ihrem Beistand zur Welt brachte und trotz seiner Schwächlichkeit in der ersten Jugend großzog.«

»Das Kind –!« rief Herr Ludwig vorgebeugt. Er hatte die Fingerspitzen auf die Stirn gelegt und vergrub sie unter dem krausen Haar. »Das Kind –! Ich sah da im Turm ein junges Mädchen neben Euch stehen. Das könnte ... O sagt mir! ist das Mädchen Euer Kind?«

Frau Regina senkte die Augen. Ihre Wange überflog eine leichte Röte. »Mein Kind«, sagte sie, »und ...«

»Gott – Gott!« preßte es sich ihm aus der beengten Brust. Er trat mit eiligen Schritten auf Frau Regina zu, legte die Hände auf ihre Schultern und zog sie an sich. »Um dieses Kindes willen müßt Ihr mir alles verzeihen – alles! Ich darf es vor den Menschen nicht anerkennen als das meine, aber meinem Herzen gehört es ganz. Es ist des Himmels wunderbare Fügung, daß dieses Kind mir erhalten bleiben sollte zu meines Alters Freude. Paula, teuerste Paula – gönnt mir die Wohltat, meinem Kinde nur ein einzigesmal Aug' in Auge sehen zu können!«

Sie erschrak. »Ursula darf nicht erfahren –«

»Gewiß nicht«, fiel er ein. »Vertraut mir, daß ich mein Gefühl in Schranken halte. Kein unbedachtes Wort, kein Blick soll verraten...«

»Nein, nein! Laßt uns gehen und in der Verborgenheit bleiben, die uns allein das Leben erträglich macht. Löschet diese Stunde in Eurem Gedächtnis aus. Daß wird Euch gelingen, wenn Ihr Ursula nicht seht.«

»Ursula –! Ursula heißt sie. Ursula...« Es war, als ob er den Namen nicht oft genug wiederholen konnte. Er betrachtete dabei die heißgeliebte Frau mit so innigen Blicken, daß sie die Augen niederschlug und verwirrt das Gesicht abwendete. »Ich fordere mein Recht. Paula.«

»Und Ihr habt die Macht, es Euch zu nehmen«, antwortete sie schon halb willig.

»Nein, ich bitte nur flehentlich –«

»So sei es denn! Auch dies wird zum Unheil ausschlagen, ich weiß es. Aber ich widersetze mich nicht.« Sie öffnete die Tür und rief Ursula hinein.

Sie wollte ihr sagen, daß der Herr Hochmeister die Gnade haben wollte, mit ihr ein freundliches Wort zu sprechen. Aber Ursula hörte nicht auf sie, eilte sogleich auf den hohen Herrn zu, fiel vor ihm nieder und umfaßte seine Knie. »Ach, gnädigster Herr!« rief sie, »rettet meine Mutter, die von schlechten Menschen verleumdet und verfolgt wird. Sie ist so herzensgut und so unschuldig und meine Mutter! Was soll aus mir werden, wenn Ihr sie gefangen haltet?«

Ludwig von Erlichshausen beugte sich zu ihr hinab, hob sie auf und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Sein Auge war feucht. »Steh auf, mein liebes Kind«, sagte er mit weicher Stimme, »und fürchte dich nicht. Bei der Jungfrau Maria und ihren Schmerzen, deiner Mutter soll kein Leid geschehen. Dessen man sie bei mir anklagt, ist sie nicht schuldig. Ich habe sie geprüft und rein befunden. Dafür will ich selbst Zeugnis ablegen.«

Ursula war nicht wenig überrascht durch diesen freundlichen Empfang. Ganz sprachlos vor Staunen stand sie da und betupfte mit den Fingerspitzen ihre Stirn, die von den Lippen des gefürchteten, jetzt so gütig blickenden Mannes berührt war. Der Hochmeister Deutschen Ordens, der Fürst des Landes stand vor ihr und war so liebevoll bemüht, sie zu beruhigen. Wie sollte sie das fassen? Und sein Wort war gewiß ehrlich. Eine Weile blickte sie ihn mit großen Augen an, wie gebannt. Dann wendete sie sich mit rascher Bewegung zu ihrer Mutter, fiel ihr um den Hals und schluchzte laut.

Frau Regina streichelte ihr lockiges Haar. »Danke Seiner Gnade«, sagte sie bewegt, »daß alle Gefahr von uns genommen ist und wir ungekränkt in unser Waldhaus zurückkehren dürfen.«

Nun machte Ursula sich von ihr los, trat mit gefalteten Händen, sie vor dem Gesicht hochhaltend, auf ihn zu und sagte: »Dank, Dank Euch, gnädigster Herr, wie einem guten Engel, den Gott den Menschen in der Not schickt. Und Ihr seid auch gewiß ein guter Engel. Mir ist's, als ob von Eurem Haupte ein Schein ausgeht, wie auf den Bildern der Heiligen. Ihr mögt es nicht wahr haben wollen – aber meine Augen sehen ihn gewiß.«

Er stand mit dem Rücken gegen das Fenster, und sein rotblondes krauses Haar erschien rund um den Kopf licht. Er bekreuzte sich über der Brust. »Ich bin ein sündhafter Mensch, mein Kind, aber deine Frömmigkeit mag Gott lohnen.«

Er wendete sie an den Schultern sanft gegen die Sonne, die schräg von oben her seitwärts am Vorhang vorbei glänzende Streifen in das hochgewölbte Gemach sendete, und führte sie in deren Bereich. »Nun bist du von einer Glorie umflossen«, sagte er, entzückt von ihrer Schönheit. »Seht nur, Frau, seht, wie hold das Kind ist.«

Frau Regina blickte ängstlich auf. »Nicht so – nicht so«, bat sie. Bei diesem Wechsel der Stellung war ihr die Ähnlichkeit zwischen beiden erst recht aufgefallen. Ursula selbst müsse sich in ihm wiedererkennen, fürchtete sie.

Er aber schien sich von dem Anblick gar nicht losreißen zu können. »Wisset«, sagte er, da Ursula sich scheu umschaute, »daß ich Eure Mutter heut' nicht zum erstenmal sehe. Vor vielen Jahren, ehe sie die Waldeinsamkeit suchte, war ich ihr ein vertrauter Freund. Ich glaubte sie gestorben. Erkennet daraus meine Freude, die treffliche und verehrte Frau so unvermutet wiederzufinden und ein liebes Kind an ihrer Seite zu sehen. Wahrlich, meine Augen werden feucht. Wenn ich in eurem Anschauen zurückträume in jene Zeit.«

Ursula küßte wieder und wieder seine Hand, die er ihr entgegenhielt. Es schien ihm wohlzutun. »Ich begreife das alles nicht, mein gnädigster Herr«, sagte sie leise und ein wenig zögernd. »Meine Mutter war so in Furcht vor Euch, und nun seid Ihr ganz Gütigkeit und Huld. Aber ich will nicht fragen, weshalb sie vor Eurer Strenge zitterte, und nur Gott danken, daß er so gnädig unsere Trübsal durch Euch wendet. Ihr seid der Mächtigste im Lande und werdet gewiß nicht zulassen, daß man uns weiter verfolgt. Geschieht's aber doch, gnädigster Herr, so weiß ich jetzt, wo ich den Schirmvogt der Armen finde, und eile mit meiner Klage zu Euch. Die Mutter soll mich nicht zurückhalten.«

Frau Regina winkte sie zu sich. »Komm nun, Kind«, sagte sie, »der Herr Hochmeister entläßt uns in Gnaden.«

»Ja, geht mit Gott«, bestätigte er, wehmütig mit dem Kopf nickend. Er zog den Ring mit blitzendem Stein vom kleinen Finger der linken Hand und gab ihn Ursula. »Wenn Ihr zu mir kommt nach der Marienburg oder wo ich mich sonst aufhalte, könnt' es sein, daß man Euch nicht vor mich lassen will. Dann schickt mir diesen Ring, er wird Euch alle Türen öffnen. Bewahret ihn zu meinem Andenken. Ich hoffe, wir sehen einander wieder, auch ohne daß die Not Euch zu mir treibt. Ihr aber, Frau ... lebt wohl und erschwert mir's nicht. Ihr sollt noch weiter von mir hören.«

Er wendete das Gesicht der Fensternische zu und winkte ihnen mit der Hand zu gehen. Als die Tür ins Schloß gefallen war, sank er in die Knie und sprach leise murmelnd ein Vaterunser. »Und vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern«, wiederholte er zweimal.

Dann ließ er den Großkomtur rufen und sagte zu ihm: »Wir nehmen des Herrn Bischofs Bürgschaft an, daß die Frau ganz unschuldig ist. Man soll ihren Frieden nicht stören. Ich habe sie fromm und gottesfürchtig befunden.«

Nach einer Stunde verabschiedete er sich von dem Prälaten. Er legte ein Beutelchen mit Goldstücken in seine Hand. »Für die Kranken der Waldfrau, wenn sie arme Leute sind«, raunte er ihm zu. »Sie selbst wird kein Geschenk annehmen!«


 << zurück weiter >>