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So wurde nun kurz vor Pfingsten Herrn Ludwig von Erlichshausen angekündigt, daß er in Frieden abziehen dürfe, wohin es ihm beliebe. Der König sei schon unterwegs und könne jeden Tag eintreffen, deshalb solle er sich beeilen.
Der kranke Hochmeister mußte froh sein, seiner qualvollen Gefangenschaft entledigt zu werden. Freilich wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte. Die Hauptleute in Konitz hatten kürzlich einen Sieg über die Polen erfochten und ihn eingeladen, zu ihnen zu kommen; sie wollten Gut und Blut daran setzen, ihn gegen seine Feinde zu sichern, und alles mit ihm zu teilen. Gern wäre er ihrem Ruf gefolgt, doch erklärten die Böhmen, daß sie ihn jetzt nicht geleiten könnten. Allein durfte er sich über die Weichsel nicht wagen. Die anderen Schlösser im Rücken waren ebenfalls verpfändet oder von den Bündischen bedrängt und in großer Not. Bleiben konnte und wollte er aber nicht. So bat er denn nur, daß man ihm erlaube, die Heiligtümer der Marienburg, Bilder der Jungfrau Maria und der heiligen Barbara, aus der Kirche das heilige Kreuz und die anderen Geräte mitzunehmen. Dies wurde ihm von den Hauptleuten zugestanden.
Am Pfingstabend, tief in der Nacht, kam ein Heerhaufe von sechshundert Polen und Verbündeten vor das Schloß, Einlaß begehrend. Ulrich Czerwonka öffnete die Tore.
Am Pfingstsonntag, als eben Ludwig von Erlichshausen unter reichlichen Seufzern seine Gebete verrichtete, ließen die Hauptleute ihm sagen, er solle sich am andern Tage zum Abzug bereit halten.
Er berief nun sogleich seine wenigen Diener und trug ihnen auf, ein Fuhrwerk zu besorgen und die Bilder, Kreuze, Heiligtümer und Kirchengeräte aufzuladen. Das geschah im Lauf des Vormittags. Der Wagen stand vor der Tür des Hochmeisterhauses.
Die Heiligtümer mußten zum größten Teil aus der zum alten Schloß gehörigen Kirche fort, über den inneren Schloßhof, durch das große Tor und über die Brücke nach dem mittleren Schloß getragen werden. Dies konnte den Söldnern nicht unbemerkt bleiben. Die Polen und Bündischen waren von den Böhmen mit großem Jubel empfangen worden. Nun feierte man gemeinsam das Pfingstfest schon früh durch einen guten Trunk. Was von Tischen, Bänken und Stühlen aufzutreiben war, wurde in den Kreuzgang und auf den Hof gestellt, über dem sich der klarste blaue Himmel wölbte. Aus den Kellern wurde hinausgeschafft, was sich noch von Vorräten auffinden ließ. Es war bekannt geworden, daß der Orden das Schloß räumen sollte. Darüber frohlockten die Polen und Bündischen, tranken den Böhmen eifrig zu und füllten immer wieder die Becher. Die Böhmen, die nun gewiß waren, zu ihrem Solde zu kommen, taten ihnen willig Bescheid und stießen auf das Wohl des Königs an. Beide Teile tranken über den Durst, und es herrschte bald bei dieser Verbrüderung große Trunkenheit.
Eine Weile hatten sie's ruhig mit angesehen, daß die hochmeisterlichen Diener ab- und zugingen und zum Gottesdienst gehörige Gegenstände unter Führung einiger Priesterbrüder aus der Kirche entfernten. Auf die Heiligenbilder legten die Böhmen keinen Wert, und die Polen blickten darauf mit abergläubischer Scheu. Als nun aber auch die großen Altarleuchter, die silbernen Kirchengeräte und vergoldeten, mit Edelsteinen besetzten Kreuze aus der Schatzkammer fortgetragen wurden, entstand merkliche Unruhe unter den betrunkenen Zuschauern in der Nähe. Von einem Tisch zum andern lief die Nachricht, der Hochmeister lasse allerhand Kostbarkeiten fortschleppen, die mit dem Schloß verpfändet seien. Das dürfe nicht geschehen. Es kam zum Streit mit den Dienern, die sich auf des Hauptmanns Czerwonka Erlaubnis und ihres Herrn Befehl beriefen. Man ließ sie diesmal noch aus, untersagte ihnen aber das Wiederkommen. Als sie sich gleichwohl wieder auf dem Hof blicken ließen, erhielten sie Schläge. Darüber erhoben sie ein großes Geschrei und wollten vor den Hauptmann geführt sein. Zu diesem hatten sich schon die Wortführer der Söldner begeben, klagten über Beraubung und forderten lärmend, es solle Einhalt geschehen. Ulrich Czerwonka suchte sie zu beschwichtigen. Es handele sich um alten Plunder, der dem Hochmeister am Herzen liege; man habe nicht so hart mit ihm verfahren wollen, ihm eine billige Bitte abzuschlagen. Das wollten sie nicht gelten lassen. Es sei nicht von altem Plunder, sondern von Silber und Gold die Rede, das zur Kirche gehöre. Er möge selbst herauskommen und nach dem Rechten sehen. Um den Lärm nicht noch mehr anwachsen zu lassen, folgte er ihnen auf den Hof. Dort fand er schon die Masse in wildester Erregung. Man schrie, drohte und schwang die Waffen, die rasch herbeigeholt waren. Es fielen anzügliche Reden, daß die Hauptleute zum Schaden des Königs geheime Abreden getroffen hätten, um es mit dem Orden nicht ganz zu verderben. Czerwonka sah ein, daß leicht sein Ansehen gefährdet sei, wenn er für den Hochmeister Partei nehme. Er versuchte lieber gar nicht, sich Gehorsam zu erzwingen, sondern stieg auf einen Tisch und rief in die aufgeregten Massen hinein: »So ist's nicht gemeint gewesen, daß die Buben uns die kahlen Wände lassen. Wir reichen dem Herrn Hochmeister den kleinen Finger, und er scheint die ganze Hand nehmen zu wollen. Oder vielleicht weiß er auch nicht einmal, was seine Diener tun. Seid ganz unbesorgt, wir werden die Wagen revidieren, ehe sie abfahren. Es soll kein Stück ausgeführt werden, das dem abziehenden Herrn nicht ausdrücklich zugesichert ist.«
Er befahl auch gleich, alle Ausgänge zu schließen. Das geschah nun freilich sehr tumultarisch, aber es genügte der Menge nicht. Sie wußte jetzt, daß der Hauptmann den Zügel nicht straff hielt, und riß ihm denselben ganz aus der Hand. Die Böhmen wollten sich vor den Polen etwas sehen lassen, warteten deshalb nicht ab, wie ihnen Czerwonka Wort halten werde, sondern stürmten zu Haufen durch das Tor und über die Brücke bis vor das mittlere Haus. Hier schlugen sie die Knechte nieder, die bei den Pferden standen, warfen die Bilder und Geräte vom Wagen, trieben mit den Heiligtümern allerhand Unfug und plünderten die Priester, die sie davor schützen wollten, nackt aus.
Darauf lärmten und tobten sie auf der Treppe und in dem oberen langen Gang, warfen die alten Rüstungen von den Wandhaken, so daß es ein gewaltiges Gepolter gab, und rissen die Türen auf, die zu den Prunkgemächern und zu den hochmeisterlichen Kammern führten. Ein betrunkener Lanzknecht rief lallend: »Wo steckt Seine Gnaden? Wo hat man die durchlauchtigste Puppe versteckt? Sucht sie, sucht sie! Wir wollen unsere Kurzweil mit ihr haben. Sucht sie, liebe Gesellen!«
Ein anderer, der einen tückischeren Rausch hatte, spannte seine Armbrust und schob einen Bolzen ein. Es waren da noch mehrere ebenso bewaffnet. Denen befahl er das gleiche zu tun und schrie unaufhörlich: »Vorwärts, ihr Schützen, vorwärts! Schießt die Füllung der Tür ein, sucht die Diebe, die ihren Raub heimlich ausführen wollen, geht dem gnädigen Herrn zu Leibe, der uns bestiehlt! Vorwärts!«
Die Genossen machten ihre Armbrüste fertig, andere hatten die Schwerter gezogen und schlugen sie gegeneinander, noch andere bemächtigten sich der Fahnenstangen, die zur Erinnerung an erkämpfte Siege in Eisenringen an der Wand hingen, und brauchten sie als Spieße. Es war, als ob sie mit wildem Geschrei eine feindliche Schanze stürmen wollten.
Ludwig von Erlichshausen vernahm in seiner Kammer den Lärm. Er näherte sich der Tür. Jetzt hörte er dicht vor derselben die einzelnen Stimmen. Er sprang auf und öffnete sie weit. »Hier ist der, den ihr sucht«, rief er, das Kleid über der Brust aufreißend, »hier steht der Meister des Deutschen Ordens unbewehrt und unbeschützt – ein Unglückseliger. Trefft ihn gut – trefft ihn mitten ins Herz! Es ist am besten so. Dann hat alle Not ein Ende.«
Das hatten die Angreifer nicht erwartet. Sie stutzten und blieben dicht gedrängt vor der Tür stehen. Einige Armbrüste hoben sich wohl, aber niemand wagte abzudrücken. Es war, als ob sie plötzlich ernüchtert würden, da sie die hohe Gestalt des Meisters vor sich stehen und seine großen dunkelblauen Augen traurig auf sich gerichtet sahen. Auch die rohesten Gesellen überlief etwas wie ein Schauer vor der gebeugten Majestät. Viele wendeten sich zurück und schlichen fort. Einer von den Vornstehenden legte seinen Spieß vor die Türöffnung, die Armbrüste senkten sich, es entstand eine Minute lang tiefes Schweigen. Endlich sagte der Anführer: »Wir wollen Euch nicht ans Leben. Gebt die Schätze heraus, die Ihr geborgen habt, und zieht ab.«
»Ich habe nichts«, antwortete der Meister, »ich bin bettelarm. Reißt mir den Ring vom Finger, meiner entwürdigten Würde Zeichen, und ihr habt alles, was ich an Kleinodien besitze. Da liegt mein Mantel – da mein Ritterschwert. Nehmt sie – aber tötet mich zuerst!«
»Kommt fort«, mahnten einige, »es ist da für uns nichts zu holen.« Andere waren ungläubig und murrten. Der erschütternde Eindruck fing sich schon an zu verwischen. Es wurde gelacht und geflucht. Zum Glück marschierte jetzt eine geordnete, von ihren Rottenmeistern geführte Schar im Gang auf und drängte die Aufrührer von der Tür ab. Den Hauptleuten war bange geworden; sie hatten die nüchternsten Leute zusammengesucht und als Schloßwache abgeschickt, den unglücklichen Fürsten vor der äußersten Schmach zu bewahren.
Nun wichen die Angreifer. Der Gang leerte sich allmählich, nur noch auf der Treppe setzte sich der Lärm fort. Einer der Rottmeister trat vor und fagte: »Herr Ulrich Czerwonka schickt mich Zu Ew. Gnaden. Er will nicht, daß Ew. Gnaden ein übeles geschehe, bittet Euch aber zu bedenken, daß es vielleicht nicht lange mehr in seiner und der anderen Hauptleute Macht steht, Euch vor Beschimpfung zu bewahren und gegen Lebensgefahr zu schützen. Zu groß ist der Zorn gegen Euren Orden. Soeben ist wieder ein Kriegshaufen von Polen und Bündischen vor der Burg angelangt. Sie haben ein Lager bezogen, des Königs Ankunft zu erwarten. Unter ihnen sind die Kommissarien, denen das Schloß übergeben werden soll. So dürfen wir Euren Abzug bis morgen nicht verschieben. Herr Ulrich Czerwonka ersucht deshalb Ew. Gnaden, zu eigener Sicherheit heute noch nach Dirschau abzureiten. Wenn es Ew. Gnaden gefällt, sollen die Pferde in einer Stunde bereitstehen, auch ein Fähnlein zur Begleitung mitgegeben werden. Von Dirschau möget Ihr Euch wenden, wohin es Euch gefällt.«
»Ich muß mich wohl fügen«, antwortete Erlichshausen, »und obendrein Eurem Hauptmann danken. Es geschehe nach seinem Willen, da es doch nicht anders sein kann.«
Nun wurden seine Diener zu ihm gelassen. Sie rüsteten die Abreise. Er selbst schritt noch einmal durch die Gemächer, oft seufzend und die Hände ringend; er trat an die Fenster und schaute auf den Strom. »Soll ich der letzte Hochmeister sein, der hier haushält – der letzte?« Er überrechnete die Zahl seiner Vorgänger, die Zahl der Jahre. Siebzehn Hochmeister hatten hier residiert, und fast anderthalb Jahrhunderte waren darüber vergangen. »Der letzte – der letzte!« Er hoffte nicht mehr, als Sieger wieder einzukehren; sein Mut war völlig gebrochen.
Sein alter Kämmerer meldete ihm in ehrerbietiger Haltung, daß die geringe Habe dem Packpferde aufgeladen sei und die Reiter auf ihn warteten. »Ist's schon soweit?« seufzte er. »O mein Gott, mein Gott, so hast du mich verlassen.« Er hing den Mantel über die Schultern und schritt über den Gang nach der Hauskapelle, dort sein letztes Gebet zu verrichten. »Geht voraus«, sagte er, »ich folg' Euch auf dem Fuße.«
Als er nach einigen Minuten aus der Kapelle zurückkehrte und um den Pfeiler bog, trat ein Mann auf ihn zu, der sich hinter demselben verborgen gehalten hatte. Es herrschte in dem Gang ein Dämmerlicht, aber der Hochmeister erkannte ihn doch. »Tileman –!« schrie er auf und taumelte zurück.
»Ganz recht, Herr Ludwig von Erlichshausen – Tileman vom Wege«, entgegnete der Mann mit schneidender Stimme.
»Was willst du hier?« fragte der Hochmeister entsetzt, als ob er ein Gespenst gesehen hätte.
»Nicht dein Leben«, antwortete Tileman, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Hätt' ich deine Schmach kürzen wollen, lange wär' mir's verfallen gewesen. Nein! Lebe und schleppe sie weiter, bis Gott dich erlösen will. Ich komme, dir den Abschied aus diesem Hochmeisterhause zu geben, Herr Ludwig von Erlichshausen – ich – ich! Du weißt, was das bedeutet. Ich!«
»So wollt' ich, du hättest einen Dolch im Ärmel versteckt und bohrtest ihn mir in die Brust – das Eisen wär' mir weniger schmerzhaft als deine Blicke und Worte. Weißt du, wo du stehst, Tileman?«
»Wo stehe ich?«
»Auf derselben Stelle, wo Werner von Orseln ermordet wurde durch eines tückischen Bruders spitzen Stahl.«
Tileman zuckte ein wenig mit den Schultern und schob den Fuß zur Seite. »Weshalb erinnerst du daran?« fragte er mit gedämpftem Ton. »Ich bin dein Bruder nicht, sondern dein geschworener Feind, und ich trage nicht Mordgedanken, sondern komme, dir zu sagen, daß ich meine Rache genommen habe.«
»Du mordest meine Seele«, ächzte der Hochmeister, »das ist schlimmer als Brudermord.«
»Sei's denn so!« rief Tileman vom Wege, sich hoch aufrichtend. »Dies ist der Augenblick, nach dem ich wie ein Verdurstender gelechzt habe alle die Jahre. Du hattest mir den Becher von den Lippen gerissen, da sie am begierigsten nach dem Weine des Lebens verlangten, und deine Sorge war's nicht, daß ich mich vor dem Verschmachten rettete. Weißt du, was mich aufrecht hielt? Die Hoffnung, daß ein gerechter Gott im Himmel sei – die Hoffnung, dich elender vor mir zu sehen, als ich je vor dir gestanden hatte. Ich ließ dich aufsteigen zum Gipfel irdischer Herrlichkeit, um dich desto tiefer hinabzustürzen. Und da liegst du im Staube. Herr Ludwig von Erlichshausen, Hochmeister Deutschen Ordens. Ich sehe dich ausziehen aus dem Hause, in dem deine Vorfahren mit Ruhm und Glanz regiert haben, einen verlassenen, gebrochenen, schmachbeladenen Mann. Dein Orden hat Land und Leute verloren, der Bund triumphiert – und ich bin sein Haupt gewesen. Klein, jämmerlich klein bist du vor der Welt geworden, wie lange schon vor mir. Das ist meine gerechte Rache!«
Erlichshausen ließ das Kinn auf die Brust sinken. Er streckte die Hände aus und rief: »Es ist dein Werk, dein entsetzliches Werk, und ich will glauben, daß Gott mich gestraft hat durch dich. Aber jetzt verzeih dem Gefallenen, dem ganz Unseligen, verzeih –«
»Nein!« antwortete Tileman mit eisiger Kälte. »Ich habe deinetwegen Blutschuld und Meineid auf mich geladen – ich kann nicht verzeihen. Gedenke meines Weibes, das du zugrunde gerichtet hast, gedenke der Toten, die vor Gottes Richterstuhl gegen dich zeugt. Fluch dir in Ewigkeit!«
»Tileman« –, rief der Hochmeister in furchtbarer Seelenangst, »nimm den Fluch zurück, daß er dich nicht treffe als den Schuldigsten. Dein Weib steht nicht vor Gottes Richterstuhl, mich anzuklagen. Wisse – dein Weib lebt!«
»Du lügst!« donnerte Tileman ihm entgegen. Seine Faust ballte sich wie zum Schlage; er war blau im Gesicht. Dann wischte er mit der Hand über seine Stirn, wie wenn er einen lästigen Gedanken fortweisen wollte, und sagte tief seufzend: »Lassen wir die Toten ruhen – du und ich. Und nun geh'! Deine Zeit ist um. Geh'! Ich gebe dir das Geleit aus diesem Haus!«
Er trat zur Seite bis dicht an den Pfeiler. Der Weg war frei. Erlichshausen zögerte noch unschlüssig. Da kam der Kämmerer von der Treppe her, ihn zum Aufbruch zu mahnen. Nun deckte er die Hände über die Augen und eilte an Tileman vorüber.
Der Hochmeister mußte aufs Pferd gehoben werden, so schwach war er. Gebeugt saß er im Sattel, der Zügel hing lose in seiner Hand. Die Diener hielten sich dicht an seiner Seite, ihm zu helfen, wenn ihn eine Ohnmacht anwandeln sollte. Einige Reiter in ganzem Harnisch folgten.
So ging's dem mächtigen Brückentor zu, zwischen dem alten Schloß und dem Hochmeisterhause hin. Es war ihm, als ob jeder Schritt des Pferdes ihn dem Grabe seiner Ehre näher brächte. Wer ihn reiten sah, blieb stehen und schaute ihm nach. Selbst die Polen schämten sich, das Unglück zu höhnen, und ließen ihn unbeleidigt vorüber. Die Torwache grüßte ehrerbietig. Nun schallte das Gewölbe von den Hufschlägen der Rosse – nun hatte Erlichshausen das Fallgatter über sich: er wünschte, daß es sich von den Ketten löste und ihn zerschmetterte. Nun hatte er rechts und links die gewaltigen halbbogenförmigen Außentürme, die noch jedem Sturm widerstanden hatten und jetzt kampflos aufgegeben wurden – nun polterten die Pferde über die Nogatbrücke; er meinte, er höre die Erde auf seinen Sarg fallen.
Jenseits auf dem hohen Damm hielt er an, wendete sich und schaute noch einmal zurück auf den herrlichen Bau. Von Westen her zogen Wolken auf, aber sie hatten die Sonne noch nicht erreicht. Ihre Strahlen fielen auf die farbigen Dachsteine, blitzten auf den vergoldeten Spitzen, Kugeln und Fähnlein, röteten die hoch aufstrebenden Mauern des Hochschlosses und legten tiefe Schatten hinter die Fensterpfeiler und unter die weitvorragenden Gesimse des Hochmeisterhauses.
Erlichshausen hob die Arme auf und wendete die Handflächen dem Himmel zu. Die Tränen stürzten ihm aus den Augen, und er wehrte ihnen nicht. »Lebe wohl – lebe wohl!« rief er schluchzend, »ich weiß es, ich sehe dich nicht wieder, stolze Marienburg. Leb' wohl für immerdar!«
Der Kämmerer faßte den Zügel und zog das Pferd herum. »Gott wird Euch siegreich zurückführen, gnädigster Herr«, sagte er tröstend.
Der Hochmeister schüttelte schweigend das Haupt. Auf dem ganzen Wege hörte er nicht auf zu weinen.
Als der Thorner Ratsherr ins Lager vor der Stadt kam, wo für ihn und die anderen Kommissarien Zelte aufgeschlagen waren, fand er alles in freudiger Bewegung. Es war nicht nur des Pfingstfestes wegen. Eben war ganz unverwartet von Elbing her ein Kriegshaufe, Reiter und Fußvolk mit vielen beutebeladenen Fuhrwerken angelangt. Der Woywode Gabriel von Baisen empfing ihn mit der frohen Nachricht, daß sein Sohn, nach Unterwerfung des Ermlandes, das Heer zurückführe und hier den König erwarten wolle. »Das trifft sich, so gut es kann«, meinte der Alte. »Ich hoffe, der Herr König wird ihn mit freundlichen Augen ansehen.«
Bald darauf kam Jost vor das Zelt geritten, sprang ab, warf den Zügel einem von den Troßbuben zu und trat hastig ein. »Es ist mir lieb, daß ich Euch allein treffe, Vater«, sagte er, sich mit unruhigen Augen umschauend.
Tileman ging ihm entgegen und umarmte ihn. Jost ließ es geschehen, erwiderte aber die Begrüßung nicht so warm. Er sah bleich und wie übernächtigt aus; seine Lippe zuckte fortwährend nach den Mundwinkeln hin.
»Du hast dich brav gehalten«, lobte der Alte. »Der Bischof wird an das Wiederkommen nicht eher denken, bis er sich dem König unterworfen hat.«
»Es war da wenig Ruhm zu verdienen«, antwortete Jost. »Die Städte und Schlösser ergaben sich meist auf den ersten Anlauf. Ich bringe keine Wunden heim, außer ...«
Er brach ab und zog die Augenbrauen finster zusammen. »Um so besser«, meinte Tileman. »Wir haben's wohl gehört, du bist der Gefahr nicht ausgewichen. Gerade deshalb war die Einbuße gering. Der Erfolg ist vollständig. Setze dich zu mir und berichte im einzelnen –«
Jost schüttelte heftig den Kopf. »Nein, es muß erst etwas vom Herzen herunter ... etwas vom Herzen, Vater ...«
Der Alte betrachtete ihn verwundert. »Du bist heut' sonderbar«, sagte er. »Ich merke nicht, daß du einen frohen Tag hast, wie man doch vermuten sollte.«
»Vater ...«
»Sprich nur, ich höre. Was muß vom Herzen herunter? Ich hab' mich soeben auch erleichtert. Ah –! das tut wohl, wenn man's so lange Jahre getragen hat. Ich sprach den Hochmeister, kurz bevor er die Marienburg verließ. Ich war der letzte, den er dort sprach – und jetzt treibt er sich als Ausgestoßener auf der Landstraße um. Mein Viatikum wird ihm unvergeßlich sein!« In den Augen loderte ihm aufblitzendes Feuer.
»Er ist ein Unglücklicher, Vater – eher Eures Mitleides als Hohnes wert.«
»Weißt du das? Ein Bube ... Mein Haß hat tiefen Grund. Nennst du ihn einen Unglücklichen? Ihm wird vergolten nach der himmlischen Gerechtigkeit. Ich aber, der ich Mensch gegen Mensch ihm gegenüberstehe, frohlocke: Wie du mir, so ich dir!«
»Vater –!«
»Gut, gut! Du kannst das nicht begreifen – sollst auch nicht. Was hattest du mir zu sagen?«
Er ließ sich auf einen Holzschemel nieder, stützte den Arm auf den Feldtisch und sah zu ihm auf.
Jost suchte seine Brust durch einen Seufzer von dem schweren Druck zu befreien, der ihm das Herz einschnürte. »Eine Frage ist's, Vater ...«
»Frage!«
»Wenn sie Euch erzürnen sollte ...«
»Heut' erzürnt mich nichts.«
»Wohl denn, Vater ... Nicht wahr – – meine Mutter ist tot?«
Tileman fuhr zusammen. »Deine Mutter ... Wie kommst du darauf?«
»Laßt das! Aber nicht wahr – meine Mutter ist tot?«
»Sie ist tot.«
»Und Ihr habt sie tot gesehen, Vater?«
Der Alte rang nach Atem. »Was soll's? Ich sage, sie ist tot. Kannst du zweifeln?«
»Wo ist ihr Grab, Vater?«
»Ihr Grab ...«
»Es hieß immer, sie sei auf einer Reise gestorben.«
»Ja, auf einer Reise ...«
»Wo ist ihr Grab? Ich muß es wissen.«
»Du mußt –?«
»Glaubt mir, daß ich's wissen muß. Ich beschwör' Euch, Vater – so wahr ein Gott lebt –!«
»Nochmals: was soll's?«
Jost fiel vor ihm nieder und ergriff seine schlaff niederhängende Hand. »Gebt mir Gewißheit über meiner Mutter Tod! Es gibt Zweifelsüchtige ...«
»Ah!« Der Ratsherr entfärbte sich, seine schmalen Lippen wurden weiß. »Wer könnte ... Aber gleichviel.« Er schwieg eine Weile, während Jost gespannte Blicke auf ihn richtete. Es war sichtlich ein schwerer Kampf, den er mit sich zu bestehen hatte. »Steh auf! Wer hätte dir verraten können ...? Aber gleichviel, sag' ich. Setze dich da gegenüber – höre mich an. Es ist heute ein Tag ... Jawohl! So recht gemacht zu solcher Eröffnung. Der Bube in den Staub getreten und mein Sohn als Sieger heimgekehrt. Du bist ein Mann geworden – du hast ein Recht zu wissen ... Wisse denn: ich kenne deiner Mutter Grab nicht.
»Vater –! Ist's möglich?«
»Aber sie ist gewiß tot – ich zweifle nicht, sie ist tot.«
»Und Ihr habt sie –?«
»Ich habe sie nicht getötet, obschon sie's verdiente – obschon ich's wollte. Ich habe sie ... Mein Sohn, das ist nichts für dein Ohr.«
»Sprecht, Vater, sprecht! Es ist mir um Tod und Leben.«
»Ich habe sie auf jener Reise – nicht nach Westfalen, wie es hieß, sondern nach Litauen – ich habe sie im Walde verlassen und ihrem Schicksal preisgegeben.«
Jost hielt sich nur mit Mühe aufrecht. »Ihrem Schicksal? Dem Frost des Winters, dem Hunger und den wilden Tieren?«
»Dem Frost des Winters, dem Hunger und den wilden Tieren.«
Jost ächzte. »So furchtbar grausam konntet Ihr –«
»Wirf keinen Stein auf mich – es war verdient.«
»Verdient? Womit war es verdient?«
»Deine Mutter wurde mir untreu. Ich traf sie mit ihrem Buhlen –«
»Und dieser Buhle ...? Sagt mir auch noch das letzte, Vater.«
Tileman erhob sich vom Schemel und richtete die Hand mit ausgestrecktem Finger auf den Erdboden, als deutete er auf jemand. »Ludwig von Erlichshausen, den ich heut' von der Marienburg ausgetrieben!«
Er vernahm einen Fall. Auf der Stelle, die sein Finger wies und sein Blick anstarrte, lag Jost. Sein Kopf hatte sich in den Sand gebohrt, vor seinem Munde stand Schaum, die Hände waren zusammengeballt. Er röchelte.
»Um Himmels willen! Mein Sohn –!« schrie Tileman entsetzt. Er sprang zu, hob ihn auf, trug ihn auf das Feldbett. »Was ist geschehen? Wenn ich hätte ahnen können ... Deine Mutter freilich, deine Mutter –! Aber was dein Vater gelitten hat ... Komm zu dir, mein Sohn! Vergiß die Unwürdige. Sie ist tot ...«
Jost regte sich nicht, das Röcheln wurde leiser. Den alten Mann überkam eine furchtbare Angst. Er riß die Zeltwand auf und stürzte hinaus, nach dem Feldscher rufend. Endlich fand er ihn, faßte seinen Arm und zog ihn fort; er konnte nicht sprechen. Vor dem Zelt hatte sich ein Haufen Menschen angesammelt, Landsknechte, Polen, Weiber von den Bagagewagen. Es verbreitete sich das Gerücht, es sei jemand ermordet, der Hauptmann Jost vom Wege wurde genannt. »Platz da!« schrie Tileman, »mein Sohn stirbt – mein Sohn!«
Der Feldscher schlug dem Ohnmächtigen die Ader. Das rote Blut spritzte weit fort. »Es hat noch keine Gefahr«, sagte er. »Ein Krampf der Herzadern, eine plötzliche Stockung der Säfte – in einer halben Stunde wird er wieder auf sein. Das war Hilfe zur rechten Zeit.«
»Gott sei Dank!« lallte Tileman.
Der Arzt setzte Jost aufrecht, rieb ihm die Schläfe mit Essig. Allmählich kam er wieder zu sich.
Gabriel von Baisen, dessen Zelt in der Nähe stand, eilte hinzu, sich nach dem Grund des Unfalls zu erkundigen. Nie noch hatte er Tileman vom Wege in solcher Verwirrung, so ganz haltlos gesehen. »Was ist denn vorgegangen?« erkundigte er sich teilnehmend und neugierig zugleich.
Nun faßte der Ratsherr alle seine Kraft zusammen. »Nichts –«, sagte er, »nichts. Ihr seht, nichts. Überanstrengung im Dienst – der Ritt in der Sonne um die Mittagszeit ... Ihr seht, nichts.« Er bemühte sich zu lachen, und es gelang. »In unserer Jugend focht uns das nicht so leicht an. Ja, ja! Die Zeit ändert die Menschen. Aber er hat sich im Felde sehr brav gehalten, das soll der König erfahren.«
»Das soll er erfahren«, bestätigte Baisen. »Er ist in Danzig, wie mir eben ein Bote meldet, und nimmt dort die Huldigung ein. In den nächsten Tagen haben wir ihn in der Marienburg zu erwarten.«
»In der Marienburg – ja«, sagte Tileman. »Dann ist Jost wieder ganz wohl.« Er hielt immer seine Hand. »Wie fühlst du dich, mein Sohn. Ihr seht, es ist nichts, edler Herr. In der Marienburg ... Ich wollte, die Danziger hätten mit der Einholung gewartet, bis wir hier in Ordnung gekommen. Sie möchten gern dem König etwas ablisten ...«
»Ich denke, das argwöhnt ihr Thorner nach eurem eigenen Bemühen«, spottete Baisen im Abgehen.