Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Neuntes Kapitel

Eine Erscheinung

Und »Magdalene, liebe Magdalene« schwebte ihm auch am nächsten Morgen fortwährend auf den Lippen, als er – später freilich, als der Bürgermeister angenommen hatte – seinen Gaul auf der Landstraße ausschreiten ließ. Er hatte ihn anfangs zu rascherer Gangart angetrieben, als müsse er sich gewaltsam aus dem Bannkreis der Stadt abbringen, in der er die herrlichsten Freuden genossen, bald aber seiner eigenen Führung überlassen, um sich ganz der Erinnerung hingeben zu können. Diese Erinnerung war süß – aber sie erschöpfte sich nur allzubald. Ein Händedruck, ein schüchterner Kuß, ein warmes Liebeswort... Er war mit großen Erwartungen nach Marienburg gekommen, seine Standhaftigkeit sollte ihm hoch angerechnet und gebührend belohnt werden. Nun hatte man es zwar seitens der Familie und ihrer Freundschaft wahrlich an Aufmerksamkeiten nicht fehlen lassen, die dem Sohne eines angesehenen Ratsherrn von Thorn galten, aber der kleinbürgerliche Standpunkt, von dem aus das ganze Ereignis angesehen und behandelt war, konnte ihm doch nicht behagen. Es war ihm verdrießlich gewesen, daß Blume es so eilig gehabt hatte, ihn wieder nach Thorn zurückzuschicken, und er bedauerte nun, sich so ohne weiteres gefügt zu haben. Wenn er bei Frau Christine eine Bitte gewagt hätte? Aber warum kam sie ihr nicht zuvor, und warum tat Magdalene nichts dazu, ihn zurückzuhalten, da sie doch selbst durch dieses karge Beisammensein nicht befriedigt sein konnte? Kaum daß sie ihm selbst ein flüchtiges Bedauern über die so baldige Trennung ausgesprochen hatte! Ganz die fügsame Tochter war sie gewesen, ganz die ehrbare Braut, wie sie den Kleinstädtern gefallen konnte. Hätte sie nur eine Stunde für ihn allein gehabt! Gewiß wäre ihr dann das Herz aufgegangen, und er wüßte, wie sehr sie ihn liebte.

Er fing an zu bereuen, daß er's selbst so simpel angefangen. Mit der Einwilligung seines Vaters in der Tasche – warum suchte er erst den Bürgermeister auf, dessen Jawort ihm für diesen Fall schon gesichert war? Warum ritt er nicht sofort auf den Hof hinaus, band sein Pferd an den Zaun und überraschte Magdalene im Garten? Da konnte sich's sofort erweisen, wie sie ihm gesinnt war. Er malte sich's aus, wie das Mädchen, das ihn liebte, im Wonnegefühl des Wiedersehens jede Frage nach dem Recht seines Kommens hätte vergessen oder gläubig die Bedingung als erfüllt ansehen müssen. Wie selig würde ihn das gemacht haben! Eine solche Prüfung ihres Herzens war versäumt.

Brauchte er sie denn aber? Er verneinte sich diese Frage immer wieder. Und doch fehlte etwas zu seiner Befriedigung, doch vermochte er seines allzu sicheren Glückes nicht vollfroh zu werden. Und war's denn wirklich notwendig, daß er sich jetzt dem Gebot ihres Vaters fügte und mit jedem Schritt seines Pferdes weiter von ihr entfernte, die er so gern nur einmal mit ganzer Leidenschaft an seine Brust geschlossen hätte? Wie schön sie war! Dieses lange blonde Haar, diese lieben Augen, diese Grübchen in den Wangen! Jetzt saß sie wohl auch allein unter dem Flieder im Garten oder an sonst einem versteckten Plätzchen und sehnte sich zu ihm. Wenn er ... Und plötzlich zog er mit einer heftigen Handbewegung den Zügel an, so daß der Gaul erschreckt aus dem Schlaf auffuhr. »Nein!« rief er laut, »so kann's nicht bleiben. Nochmals zurück! Sie soll wissen, wie sehr ich sie liebe. Dieser Tag noch soll unser sein.«

Und schon hatte er in kurzem Bogen kehrtgemacht. Hochaufgerichtet ritt er in scharfem Trabe denselben Weg in entgegengesetzter Richtung. Eine Strecke vor der Stadt wollte er nach dem Hof ablenken, von dem er kaum eine Stunde entfernt sein konnte, wenn er den Gaul in munterer Gangart erhielt. Das sollte eine freudige Überraschung geben.

So war er eine Weile fortgetrabt, als seitwärts aus einem Busch, der sich an den Äckern hinzog, die Gestalt eines Reiters auftauchte und sich auf dem schmalen, die Landstraße in nicht großer Entfernung kreuzenden Feldweg rasch näherte.

Er merkte im ersten Augenblick kaum darauf. Wahrscheinlich ein Bauernjunge, der aufs Feld ritt und sich das Saatlaken umgehängt hatte. Dazu paßte auch das kleine Pferd, wie hier auf dem Lande überall viele im Gebrauch. Als er dann aber eine Minute später den Blick nochmals dorthin richtete, stutzte er merklich und ruckte mit der Hand den Zügel, so daß sein Pferd den Lauf verlangsamte. Das kleine Tier war kein gewöhnliches Bauernpferd, rund gefüttert, von glänzender grauer Farbe, mit langem Schweif und Mähne von welligem Silbergrau. Und der Reiter darauf war eine Reiterin, die einen breitrandigen Filzhut mit grünem Eichenzweig und um die Schultern einen Weißen, bei der raschen Bewegung hinter ihr weit aufwallenden Mantel trug. Was aber unter dem Hut so goldig schimmerte, das war ihr dichtes krauslockiges, ungeflochtenes Haar. Sie ritt im schärfsten Trabe und mühte ungefähr zu gleicher Zeit mit ihm auf dem Kreuzungspunkt anlangen. Die Erscheinung hatte aber etwas ungewöhnlich Phantastisches; er konnte das Auge nicht mehr davon wenden.

Nun war's , als ob auch die Reiterin auf den Begegnenden aufmerksamer wurde. Sie richtete den Kopf auf, sah ihn mit großen Augen an und stieß einen Zischlaut aus, der sofort von ihrem Pferde verstanden wurde. Es wechselte die Gangart in schnellsten Galopp. Der Hund, der ihr folgte, stürmte Jost mit heftigem Gebell entgegen, schien es aber auf halbem Wege doch ratsamer zu finden, der allzu flüchtigen Herrin nachzueilen. Sie gewann einen Vorsprung und setzte quer über die Landstraße, als er noch dreißig oder vierzig Schritte zurück war. Im Vorüberfliegen griff sie nach dem Hut, hob ihn und schwenkte ihn über dem flatternden Goldhaar durch die Luft. Dabei fiel der Eichenzweig zur Erde. Auf ihren Wink über die Schulter hin nahm ihn der Hund auf und war nun mit allen Kräften bemüht, sie zu erreichen. Das geschah aber erst eine ziemliche Strecke jenseits, nachdem ein paar Feldgräben genommen waren. Die Reiterin bückte sich so tief vom Pferde, daß sie den Zweig erreichen konnte. Erst nachdem sie ihn angesteckt, setzte sie den Hut wieder auf. Dann ritt sie im Trabe weiter, ohne nur ein einziges mal zurückzusehen.

Jost hatte sie erkannt. Und plötzlich stand ihm der Vorfall jener ersten Begegnung am Burggraben mit allen Einzelheiten klar im Gedächtnis. Diese Entdeckung überraschte ihn so, daß er gar keine Anstalt machte, ihren Gruß zu erwidern oder gar ihr zu folgen. Er mochte wohl den Zügel seines Pferdes so gespannt haben, daß dasselbe auf dem Kreuzweg haltmachte. Erst nach mehreren Minuten ließ er es wieder antreten, nachdem er der Reiterin mit immer noch erstaunten Blicken nachgeschaut hatte, bis die Einsenkung hinter einer Hecke die Gestalt verschwinden ließ. Aber während er nun langsam seinen Weg fortsetzte, beschäftigten sich seine Gedanken fortwährend mit ihr. Und nun erinnerte er sich auch des Namens Ursula und daß gestern von einer Ursula gesprochen worden war, die auf des Bürgermeisters Hof zurückgeblieben sein sollte. Wenn sie gemeint gewesen wäre –? Aber wie käme sie dorthin? Und warum hatte Magdalene ihrer gar nicht erwähnt, da sie denn doch wissen mußte, daß er ... Vielleicht gerade deshalb nicht. Nun freute er sich seines Entschlusses um so mehr: er mußte dahinterkommen, ob ihm etwas verheimlicht wurde und aus welchem Grunde.

Bald hatte er den Hof vor sich. Er näherte sich ihm von der Gartenseite her und hielt sich nahe dem Zaun, um nicht zu früh bemerkt zu werden. Dann stieg er ab, band sein Pferd an den Stamm einer jungen Birke und suchte das Pförtchen nach dem Flußufer auf. Unter der Linde am Hause sah er Frau Christine und Magdalene bei einer Arbeit sitzen. Sobald Magdalene ihn bemerkte, stieß sie einen Jubellaut aus, sprang auf, eilte ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. »Jost«, rief sie, »mein lieber Jost! Du kommst noch einmal ... Oh, welche freudige Überraschung!« Dieser herzliche Empfang tat ihm sehr wohl. So hatte er sie sich in diesen Tagen gewünscht. Er konnte nicht aufhören, sie an die Brust zu ziehen und den lieblichen Mund zu küssen.

Nun war auch Christine aufgestanden und näher getreten. Verzeiht, Frau Mutter«, sagte er, sie begrüßend, »wenn ich ohne Einladung hier eintrete. Ihr glaubet mich sicher schon weit entfernt, und ich war auch wirklich ein gut Stück Weges mit dem Rücken gegen die Stadt geritten. Aber mein ganzes Herz war hier und wollte von so eiligem Abschied nichts wissen. Es zog mich übermächtig zurück, so daß ich wohl umkehren und mich nochmals als Gast anbieten mußte. Von Eurer mütterlichen Güte erhoffe ich, daß Ihr daran kein Arg finden und uns gern noch ein paar Stündlein schenken werdet. Ich konnte so nicht fort.«

Sie lächelte gütig und klopfte seine Schulter. »Was treibt Ihr für Übermut, lieber Junker«, antwortete sie; »ich sollt' Euch wohl schelten, daß Ihr aus einem Abschied zwei macht. War meinem Töchterchen doch so schon das Herz schwer genug. Euch missen zu sollen, so daß ich in diesen kurzen Morgenstunden wohl schon mehr Seufzer von ihren Lippen vernommen habe als während all' der Jahre ihres Lebens. Wie soll das nun gar hinterher werden? Aber ich weiß ja, daß Jugend nicht vorbedenkt; sie soll sich diesmal über des Alters Grämlichkeit nicht zu beklagen haben. Ihr seid einmal hier, und so will auch ich Euch willkommen heißen.«

Jost und Magdalene küßten dankbarst ihre Hände. Er bat, sein Pferd in den Stall bringen zu dürfen, und sie gingen beide hinaus, es in den Hof zu führen. Das mußte wohl eine schwere und langwierige Bemühung gewesen sein, denn es dauerte geraume Zeit, bis sie sich wieder im Garten blicken ließen. Dann gingen sie, einander umarmt haltend, den langen Gang auf und ab, verschwanden mitunter auch in der Laube oder nahmen auf dem Bänkchen unter der Linde Platz, die Mutter nicht ganz zu vernachlässigen.

So waren ein paar Stunden vergangen, ohne daß sie die Flüchtigkeit der Zeit merkten. Als sie sich nun einmal wieder dem Haus zuwandten, schien es plötzlich, als ob ihre verbundenen Hände von einem unsichtbaren Schlage getroffen auseinander fuhren und der Schritt gebannt war. Sie mußten beide zugleich etwas gesehen haben, das sie so jäh erschreckte.

Auf dem Podest nahe der offenen Tür und wie mit lichten Farben in den dunklen Hintergrund eingezeichnet stand Ursula. Die Sonne, die zwischen Dach und Linde schräg einfiel, streifte ihr Gewand und ihr Haar. Die Augen schauten neugierig auf die Wandelnden, und das ganze Gesicht lachte. Nun schlug sie in die Hände und rief: »So hab' ich's vermutet, da ich den Junker in verkehrter Richtung reiten sah; so ist's recht. Mag Euch mein Glückwunsch nicht verdrießen.«

Sie eilte die Holztreppe hinauf, reichte Magdalene beide Hände und küßte sie stürmisch. Dann verneigte sie sich gegen Jost, vor seinen stechenden Blicken verschämt die Augen senkend. »Es mag Euch verwundert haben, mich hier anzutreffen«, sagte sie. »Ich kann's wohl verstehen, daß Magdalene in diesen Tagen an mich nicht gedacht hat. Nun wird sie's Euch erklären, so gut sich's erklären läßt.«

Magdalene konnte ihre Verwirrung mit aller Mühe nicht bergen. Sie wußte nicht, was ihr geschehen war; nur daß diese Begegnung ihr Unheil bedeuten müßte, fühlte sie dunkel. Und wie Jost dastand, ganz in den Anblick der fremden Erscheinung versunken ... Ihr fing das Herz wild zu schlagen an, und die Stirn rötete sich. »Ursula –« stotterte sie, »unser lieber Gast seit dem Winter. Du wirst dich ihrer entsinnen...«

»Gewiß, gewiß«, versicherte er. »Aber warum war sie gestern nicht in der Stadt – warum sagtest du mir nicht ein Wort –?«

»Mit gutem Grund, Herr Junker«, suchte Ursula einzuhelfen. »Der Herr Bürgermeister bedachte, daß ich da ganz überflüssig sei, wenn er der gesamten Gevatterschaft seiner Tochter Bräutigam vorstelle, oder wohl gar mich töricht benehmen könne, da ich im städtischen Wesen noch immer wenig geschult bin. Und weshalb hätte Magdalene von mir erzählen sollen? Mußte sie doch glauben, daß ich Euch nicht in der freundlichsten Erinnerung geblieben sei, wenn Ihr bei meines Namens Nennung überhaupt noch in Eurem Gedächtnis ein Bild von mir bewahrtet.«

»Oh!« rief er. »Wer Euch einmal im Leben gesehen, der kann Euch nimmermehr vergessen. Ihr seht nicht aus wie alle Welt. Und wäret Ihr mir heut' noch flüchtiger vorbeigeritten, ich hätt' Euch doch erkannt.«

»Du sahst Ursula schon –?« fragte Magdalene peinlich überrascht. »Und sprachst gar nicht von dieser Begegnung? Und bist wohl gar ihretwegen umgekehrt?«

Das platzte so eifersüchtig heraus. Im nächsten Augenblick wußte sie schon, daß sie eine Torheit begangen hatte. Die Tränen schossen ihr in die Augen und perlten über die heißen Wangen hinunter. Sie kehrte sich rasch ab. Ursula nahm den Vorwurf scherzhaft. »Ich will's mit dem feierlichsten Eide beschwören«, sagte sie, die Hand ausstreckend, »daß ich diesseits des Junkers Weg kreuzte. Es war mutig genug, daß er ihn dir zuliebe trotzdem fortsetzte, denn als ein rechter Hexenspuk mag ich ihm wohl nach seinem verblüfften Ausschauen erschienen sein. Hahaha!«

»Ich kann Euch nicht unrecht geben«, sagte er, in ihr Lachen etwas gezwungen einstimmend. »Es war wirklich, als wäret Ihr aus dem Boden aufgetaucht und wieder in den Boden versunken. Nur den höllischen Vogel hab' ich vermißt, der mir damals auf Euer Gebot arg zusetzte; den Hund konnt' ich für einen so gefährlichen Gesellen nicht halten.«

»Ach, das arme Tier«, seufzte sie, »es hat seine Treue mit dem Tode gebüßt. Laßt's Euch von Marcus berichten. Aber ich will euch nun nicht weiter durch meine unnütze Gegenwart das kurze Beisammensein verkümmern, nachdem ich meinen Glückwunsch angebracht. Mutter Christine wird gewiß eine Arbeit für mich haben, die ich ihr nicht verderbe.«

»Nein – bleibt nur, bleibt«, bat er mit unbedachtem Eifer. »Wir haben uns schon ausgesprochen und werden durch Eure Gesellschaft nicht gestört. Ihr müßt mir das Rätsel lösen, wie diese Freundschaft entstanden ist und wer Ihr eigentlich seid. Ein Rätsel muß ich's nennen.«

Sie huschte doch fort und setzte sich unter die Linde, das Gesicht dem Hause zugekehrt. Die schöne weiße Katze sprang vom Geländer des Podestes, auf dem sie sich gesonnt hatte, schlich die Treppe hinab und umschlich schmeichelnd ihr langes Gewand. Sie bückte sich und streichelte sie, hob sie auch auf den Schoß, nahm den Kopf in ihre Hände und sah ihr in die grünlichen Augen. Aus dem Arbeiten wurde nicht viel.

Jost wandte sich nun wieder Magdalene zu, legte ihren Arm in den seinen, spielte mit ihrer Hand, indem er den kostbaren Ring, den er ihr gestern geschenkt, am Finger auf und ab schob oder drehte, zog sie in die Laube und stand bald wieder auf, um der Linde einen Besuch abzustatten. Er war auffallend unruhig geworden, hielt seine Gedanken nicht beim nächsten, sprach wenig und hörte unaufmerksam zu. Nur wenn die Rede auf Ursula kam – und er suchte sie immer wieder darauf zu bringen, so wenig Magdalene auch standhielt – wurde er lebhafter; nicht genug hätte sie von ihr erzählen können. Was er von der Waldfrau, vom Hochmeister, von dem Ritter Ostra erfuhr, hatte auch wirklich so wenig Zusammenhang, daß weitere Fragen sich rechtfertigten. Magdalene hätte ihm aber doch kaum viel bessere Auskunft geben können, auch wenn es ihr nicht verdrießlich gewesen wäre, daß er sich und sie fortwährend mit diesen Dingen beschäftigte, die ihn doch so gar wenig angehen konnten. Sie wurde immer einsilbiger und in sich gekehrter, bis sie sich zuletzt neben Ursula auf das Bänkchen unter der Linde setzte, ihre Arbeit wieder aufnahm und es Jost überließ, auf einem Schemel gegenüber Platz zu nehmen, um nach Belieben seine Aufmerksamkeit der Freundin zuzuwenden.

Er hatte davon gesprochen, daß er abreiten wolle, ehe die Sonne allzu hoch steige. Nun traf er dazu keine Anstalten, sondern schien es als selbstverständlich angesehen zu wünschen, daß er zum Mittag bleibe. Marcus kam vom Felde und bemerkte bald die Verstimmung unter den Brautleuten, auch den Grund davon. Ursula widmete sich nun ganz ihm, aber um so mehr wurde sie der Gegenstand gespannter Teilnahme für Jost. Es war, als ob er sich recht absichtlich bemühte, seine Überlegenheit über den etwas bäurischen Freund jeden Augenblick vor ihr ins rechte Licht zu stellen. Bei Tisch richtete er das Wort fast nur an sie. Magdalene saß still und stumm neben ihm. Daraus machte er ihr nun wieder einen nicht mißzuverstehenden Vorwurf. Sie versicherte, daß sie sich nicht wohl fühle, aber er beschleunigte deshalb seinen Aufbruch nicht, wie sie erwartet haben mochte, sondern riet ihr nur, sich eine Weile zurückzuziehen.

Das tat sie nicht. Man machte einen gemeinsamen Spaziergang am Nogatufer. Aber auch hier fesselte ihn Magdalene kaum zeitweilig. Immer suchten seine Blicke Ursula, richteten sich an sie seine Bemerkungen.

Bei den Weiden fanden sie den Kahn liegen, der dem Bürgermeister gehörte. Ursula sprang hinein und forderte Marcus auf, ihr zu folgen. Nun wollte auch Jost nicht zurückbleiben, Magdalene behauptete, daß das Wasser sie blende; sie habe schon Kopfweh. »Aber fahrt nur ohne mich«, sagte sie, »ich gehe ins Haus.« »Das wäre!« rief Ursula. »Nein! wir wollen dir deinen Schatz nicht entführen.« Sie hatte das breitschauflige Ruder in die Hand genommen, stemmte es gegen den Sand und schob das Boot in die Binsen, bevor Jost hineinspringen konnte. Sie lachte ihn aus, als er sich sehr unwillig darüber gebärdete und von Marcus verlangte, er solle nochmals landen. »Ich gebe das Ruder nicht aus der Hand«, versicherte sie kopfschüttelnd, »und weiß damit so gut Bescheid als Marcus mit dem seinen.« Ehe sie sich aber dessen versah, lief er durch das Wasser, das hier am Rande ganz flach war, und schwang sich hinein. Nun nahm er Marcus das andere Ruder aus der Hand, brachte das Boot wieder dicht zu den Weiden zurück und bat Magdalene einzusteigen. Sie weigerte sich. »Komm hinaus«, sagte sie, »du bist ganz naß geworden.« »Das tut meinen polnischen Stiefeln wenig«, antwortete er. Eine Minute schien er doch unschlüssig, ob er ohne sie abfahren solle. »Eine kurze Strecke nur«, rief er ihr zu, »ich will sehen, ob Ursula wirklich das Rudern versteht, wie sie sich rühmt.« Da sie sich dem Ufer zuwendete, gab er dem Kahn einen so heftigen Stoß, daß Ursula das Gleichgewicht verlor und hinausgefallen wäre, wenn Marcus sie nicht gestützt hätte. Sie zog das Ruder ein und setzte sich neben ihn. »Wir haben einen Stadtjunker von Thorn zum Fährmann«, bemerkte sie spöttisch, »der will seine Kunst zeigen.« Jost ruderte stehend auf den Strom hinaus. Er war wirklich sehr geschickt darin und bewies einen kräftigen Arm. Da sie aber keine Anstalt machte, ihm zu helfen, sondern leise mit Marcus plauderte und kicherte, verlor er bald die Lust und kehrte in nicht zu weitem Bogen ans Land zurück. Er hatte seinen Willen durchgesetzt, das mußte ihm nun wohl genügen.

Magdalene saß auf dem Stein unter dem Rosenstrauch. Sie schämte sich vor der Mutter, allein nach Hause zu kommen. Jost fand sie in Tränen.

»Was fehlt dir?« fragte er, um doch etwas zu sagen. Seine Augen folgten dem Kahn, der jetzt, von Marcus und Ursula gleichmäßig gerudert, dem anderen Ufer zustrebte.

»Kannst du im Zweifel sein?« entgegnete sie. »Ich wußte es wohl. Seit du Ursula wiedergesehen, bin ich dir gleichgültig geworden.«

Er widersprach nicht, sondern zog das Bärtchen zwischen die Zähne und biß darauf. Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß nicht, was es ist – sie hat etwas in ihrem Blick, im Ton ihrer Stimme ... Es zwingt mich mit unwiderstehlicher Gewalt, als hätte sie mir ein Rätsel aufgegeben, dem ich immer nachgrübeln muß. Ich glaube, sie ist eine Hexe. Mag Marcus sich vor ihr in acht nehmen.«

»Marcus?«

»Habe Geduld mit mir, Lene – es hat für uns keine Gefahr. Mein Auge und Ohr muß sich nur gewöhnen ... Siehst du, jetzt ist's schon vorüber.« Er setzte sich zu ihr, schlang den Arm um sie, nahm ihre Hand und drückte Küsse darauf. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, schluchzte schmerzlich und rief: »Ach, wie könnte das geschehen, wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe! Ursula ist keine Hexe, aber sie hat dir's mit ihrer Schönheit angetan, mit ihren dunkelblauen Augen und ihrem goldigen Haar. Wie soll ich nun in deinem Herzen bleiben immerdar?«

»Fürchte nicht, daß sie dich daraus verdrängen kann«, versicherte er, ihre Wange streichelnd. »Mein Herz gehört dir – dir allein. Es ist eine Verblendnis der Sinne, deren ich gewiß bald Herr werde. Wenn ich dich so in meinem Arm halte, ficht mich schon nichts mehr an.«

»Du darfst sie nicht mehr sehen«, sagte sie, sich an ihn schmiegend, »geh ohne Abschied – ich bitte dich.«

»Das wär' ein gar trügerisches Mittel«, entgegnete er. »Nein, keine Flucht. Ich könnte mir sonst in der Ferne selber einreden, sie sei nötig gewesen. Ich will dir nicht als ein Feigling erscheinen, der für sich selbst zittert, daß er vor seinem Herzen schlecht bestehe. Ich darf jetzt nicht mehr zurück nach Thorn; ich will meinem Vater schreiben oder Botschaft schicken. Täglich muß ich Ursula neben dir sehen, bis dieser Zauber ganz gewichen ist. Du hast die Macht, ihn zu bannen – deiner reinen Liebe widersteht er nicht.«

Magdalene fühlte sich sehr beängstigt durch diese wirren Reden, die sie beruhigen sollten und nur die Gefahr offenkundig machten. Er schien ganz ehrlich mit sich zu kämpfen und sich den Sieg zuzutrauen. Aber sie selbst fühlte sich allzu schwach und unbedeutend neben diesem wundersamen Geschöpf, das ja auch ihr Herz bestrickt hatte. Ursula liebt Marcus, sagte sie sich tausendmal, und das minderte merklich ihre Furcht. Aber würde sie fest bleiben, wenn Jost sie ernstlich auf die Probe stellte? Und wenn auch – ihr selbst wäre er ja doch verloren.

»Lieber –«, sagte sie, »so gern ich dich bei mir zurückhielte – du mußt vor Nacht noch scheiden. Kämest du morgen nochmals, so könnte es die Mutter nicht verantworten, den Vater unbenachrichtigt zu lassen. Was wolltest du ihm sagen? Die Wahrheit darf niemand erfahren – er am wenigsten. Und wenn er erriete ... Nein! Tu mir das nicht an. Ich glaube an deine Redlichkeit und Treue. Bringe sie nicht selbst in Versuchung. Setze Berge und Tal zwischen euch, und ihr Bild wird rasch wieder in deinem Gedächtnis verblassen. Uns aber, die ein heiliges Gelöbnis bindet, wird die Ferne durch die Sehnsucht nur um so inniger aneinander schließen.«

Da er nicht antwortete, umarmte sie ihn nochmals, stand dann auf, faßte seine Hand und führte ihn in den Garten. Es dauerte lange, bis sie den kurzen Weg zum Hause zurückgelegt hatten. Denn oft blieben sie stehen, eine Zärtlichkeit auszutauschen oder noch etwas Wichtiges für die Zukunft zu besprechen. Jost schien vergessen zu haben, was ihn vor einer Stunde noch verstörte, und Magdalene wurde wieder ganz heiter. Endlich holte Frau Christine sie aus der Laube ab. Die Sonne sei im Untersinken; er solle noch ein wenig zum Abend essen und dann abreisen. »Ich bin wahrlich schon Frau Nachsicht selbst gewesen, liebe Kinder«, sagte sie.

Unter der Linde war ein Imbiß aufgetragen. Als sie da am kleinen Tisch saßen, kam Marcus und setzte sich zu ihnen. Sofort wurde Jost wieder unruhig. Er blickte in den Garten und nach dem Podest vor dem Hause, wie wenn er ungeduldig jemand erwartete. Magdalene beobachtete ihn ängstlicher und immer ängstlicher. Eine Weile hielt er noch an sich. Dann fragte er: »Wo ist Ursula?« Es klang, als ob er in Sorge wäre, daß ihr ein Unglück begegnet sein könnte.

»Ich habe sie wohlbehalten wieder ans Land gebracht«, versicherte Marcus. »Auf dem Hof schickte sie mich fort. Wenn ich dich noch anträfe, sollte ich dir einen Gruß auf den Weg geben. Sie würde dich nicht mehr sehen.«

»Nicht mehr – sehen ...«, murmelte Jost. »Einen Gruß auf den Weg –?« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ist das deine Veranstaltung?«

»Durchaus nicht«, antwortete Marcus. »Weshalb sollte ich ...? Ursula tut, was sie will.« Zu Magdalene gewendet sagte er leise: »War das eine selige Fahrt! Wir hatten uns eine Strecke stromauf gerudert und ließen uns dann vom Wasser langsam hinabtreiben. Auf einem Umweg über Feld kehrten wir zurück. Morgen spreche ich mit dem Vater.«

»Ist Ursula im Hause?« erkundigte sich Jost in scharfem Ton.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Marcus. »Sie ließ der Mutter und Schwester eine gute Nacht wünschen.«

»Das ist sonderbar«, sagte Jost. »Ich bitte dich, Magdalene, sieh im Hause nach und laß sie wissen ... Nein! Ich will nicht ohne Abschied von ihr ... Nimmer könnt' ich mir das verzeihen!«

Magdalene blickte ihn bekümmert an. Sie war sehr bleich geworden. Nur der Name brauchte genannt zu werden, um ihn wieder in fieberhafte Aufregung zu versetzen. Sie erhob sich schweigend. Die Mutter kam ihr aber zuvor. »Bleibe nur«, sagte sie, »ich selbst will einmal nachfragen. Ursula darf unsern lieben Gast nicht so unhöflich behandeln. Auch will ich gleich Auftrag geben, daß Euer Pferd vorgeführt wird. Es ist wahrlich die höchste Zeit.«

Nach einigen Minuten kam sie zurück und sagte: »Ursula treibt's immer toller. Seit der Herr Hochmeister ihr den Grauschimmel geschenkt hat, kehrt sie sich nach keiner Hausordnung mehr. Kann man's glauben, daß sie ihn so spät abends gesattelt hat und davongeritten ist?«

»Dann weiß ich, weshalb es geschehen ist«, sprach Jost finster in sich hinein. »Aber so entzieht sie sich mir nicht.« Er nahm auffallend flüchtigen Abschied von Frau Christine und auch von Magdalene. Marcus bot er nicht einmal die Hand. »Auf Wiedersehen – morgen«, rief er vom Pferde hinab. Er schlug mit der Gerte darauf ein und sprengte davon.

»Was bedeutet das?« fragte Frau Christine. »Er wird sich doch nicht deshalb, weil er Ursula heute nicht mehr gesehen, noch einen Tag länger aufhalten wollen?«

Magdalene schwieg, verlegen zur Erde blickend.

»Du wirst gleich morgen früh nach der Stadt gehen, Marcus«, fuhr sie fort, »und dem Vater Bericht erstatten. Mag er den Junker in seiner Herberge aufsuchen und auf den richtigen Weg leiten oder selbst hier erwarten. Jedes Ding muß doch seine gute Ordnung haben«.


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