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Herr Ludwig von Erlichshausen verbrachte auf seinem Schloß Marienburg viel unruhige Tage und Nächte. Des Regiments Bürde war ihm schnell zu schwer geworden, überall Achselzucken. Hier: wir kämen gern Ew. Gnaden Weisung zuvor, aber es fehlen die Mittel – schafft Geld! Und drüben: nicht einen Heller über unsre Pflicht! Gebt uns den Richttag mit ganzer Vollmacht über Herrschaft und Unterfassen, nehmt uns in euren Rat auf als Vollwissende und Mitbestimmende, dann wollen wir zusehen, wie wir dem Orden helfen. Wenn nicht – nicht!
Auch gegen Bartholomäus Blume war er mißtrauisch geworden, auf den er doch gemeint hatte, wie auf einen Felsen bauen zu können, Ursula, seine einzige Freude, war ihm genommen. Die Nachricht ihres plötzlichen Verschwindens hatte ihn bestürzt. Was war der Grund? Er hatte einen Boten nach Heilsberg geschickt, aber das Fräulein hatte nicht sprechen wollen. Es mußte etwas geschehen sein, das vor ihm geheimgehalten werden sollte. Er argwöhnte, der Bürgermeister habe dem Gerede der Leute nicht standgehalten. Nun wurde ihm auch die Verlobung Magdalenens mit Jost vom Wege verdächtiger. Wie hatte Blume mit seinem ärgsten Feinde einen so engen Verkehr eingehen können? Sollte damit der Rücktritt Marienburgs zum Bunde vorbereitet werden? Verräterei überall! Dann hatte sich freilich das ganz Unvermutete begeben, daß Jost plötzlich absprang und die Familie auf ganz unerhörte Weise bloßstellte. Auch davon erkannte er die Ursache nicht; er war geneigt, an eine Rache Tilemans zu glauben, der erst den Abtrünnigen durch die angeknüpfte Verbindung bei seinen eigenen Genossen verdächtigen und dann durch die jähe Lösung ins Herz treffen wollte. Wenn er ihn sonst gern zu sich aufs Schloß entboten hatte, in fast freundschaftlichem Ton mit ihm Rats zu pflegen, so verhandelte er jetzt nur mit ihm und seiner Stadt in der steifen Geschäftsform, die der Kanzlei geläufig war. Blume verstehe ihn schon, meinte er. Es ward ihm doch nicht wohl bei dem Gedanken, daß selbst auf seinen Marienburger Bürgermeister nicht mehr voll Verlaß sei.
Als dann die Ritter von Wien zurückkehrten und die Ladung zum Rechtstage mitbrachten, konnte die Befriedigung darüber nicht groß sein. Nun sollte der Orden für eine würdige Vertretung sorgen. Wie aber die gewaltigen Kosten aufbringen, an deren Erstattung selbst bei der günstigsten Entscheidung kaum zu hoffen war? Und wie dann gar von Thorn her gleich einem Blitzfeuer die Kunde durch das Land lief, die Bundesgesandten seien frohlockend eingezogen und behaupteten ein Dokument in der Hand zu haben, das die Bestätigung des Bundes durch den Kaiser beweise, der Komtur von Thorn die übermütigen Reden mitteilte und bald in allen Gebieten Tagfahrten abgehalten und Sammlungen veranstaltet wurden, als sei keine Herrschaft mehr im Lande, da schien dem Meister sein Geschick oft unerträglich. Ohnmächtig war sein bester Wille ohne der Brüder entschlossenen Beistand. Viele von ihnen standen schon im heimlichen Verkehr mit den Eidechsen. »Gebt den Orden auf«, flüsterten ihnen dieselben zu, »und verteilt seinen Besitz. Polen wird euch darin schützen. Wollt ihr nochmals Krieg mit der Republik? Er wird euch um das Letzte bringen. Unsere Sache ist eure Sache. Versäumt nicht die rechte Zeit!« Noch scheute man Verrat und Gewalttat, aber in einzelnen Konventen wurden unheimliche Reden laut, wie sie früher unerhört gewesen, und man wagte die Trotzigen nicht zu strafen.
Eines Tages kam der Oberst-Spittler von Elbing herüber. Er hatte sich in der Marienburg nicht blicken lassen, weil er sich nicht gern gesehen glaubte. Erlichshausen hatte in der Tat Scheu vor ihm, wie vor seinem Gewissen; aber es gab doch auch im Orden keinen Mann, den er mehr achtete. Er wußte ihn unbestechlich durch Gunst oder Gut – arm, keusch und gehorsam, wie das Gelübde es wollte. So viele Feinde er hatte, niemand erdreistete sich ihm etwas übleres nachzusagen, als daß er zu stolz und zu strenge sei.
Er ließ sich beim Meister melden, kreuzte die Arme über der Brust und sagte: »Gnädigster Herr, ich komme ungerufen, aber die Not ist wahrlich groß. Es wäre schwerste Pflichtversäumnis, wenn ich aus Feigheit, Euch zu mißfallen, länger schweigen wollte. Ich bitte, wollet Euch unseres Ordens erbarmen, der in größter Gefahr!«
Erlichshausen wies ihm einen Sessel seinem Lehnstuhl gegenüber. »Sprecht«, sagte er mit matter Stimme, »ich will Euch gern oder ungern hören, Bruder Reuß von Plauen. Aber ich vertraue, daß Ihr, wenn Ihr die Krankheit kennt, auch das Mittel zur Heilung zu wissen meint. Sonst wär's unnützlich, uns mit diesen Dingen zu bemühen, die uns, wie Ihr glauben mögt, auch ohnedies schon schwer bekümmern.« Er schlug den Pelzrock über den Knien zusammen und steckte die Hände in die weiten Ärmel.
Der Spittler beugte sich vor, als ob er seinem Ohr näher kommen wollte, und antwortete mit scharfer Betonung: »Gnädigster Herr, ich will raten, Ihr möget beschließen. Es gibt keinen Arzt, der helfen könnte, wenn sein Mittel nicht angewandt wird. Das meine ist bitter zu nehmen, aber ich vertraue, daß es helfen kann – so Gott will.«
»Sprecht also.«
»Wir wandeln gefahrvolle Wege, gnädigster Herr. Zu welchem Ziel sollen sie uns führen? Der Orden hat den Herrn Kaiser zu Hilfe gegen den Bund gerufen und soll nun einen Richterspruch leiden. Kann er sich ihm unterwerfen? Nimmermehr. Ihr hofft, er solle nach unsern Wünschen fallen. Sei es so! Aber ein Richterspruch bleibt auch uns zugunsten ein Richterspruch. Nicht mehr aus eigenem, aus abgeleitetem Recht sind wir die Herren. Und was gewinnen wir? Wird uns der Kaiser helfen, den Spruch zu vollstrecken? Bauet nicht darauf. Man rüstet dort schon für den Fall der Verurteilung. Wozu also ein unwürdiges Spiel mit uns spielen lassen? Kämpfen müssen wir so und so. Warum also nicht sogleich das Schwert ziehen und den Feind erwarten? Er ist jetzt noch der Schwächere, und selbst mit schwachen Kräften werfen wir ihn über den Haufen.«
Der Hochmeister seufzte. »Und wenn nicht? Ich will's nicht in Abrede stellen, der Kaiser hat uns überrascht. Nicht um unsere Klage vor den Richter zu bringen, haben wir ihm unsern Boten geschickt, sondern damit sie die ungerechte Beschwerde des andern Teils abwehren sollten. Des Bundes Klage hat er in Wahrheit angenommen und uns den Rechtstag gesetzt, den wir nicht begehrten. Nun dürfen wir uns doch nicht zurückziehen, als ob wir ihn fürchteten. Es würde eine schwere Beleidigung der Kaiserlichen Majestät sein, die uns nie verziehen werden könnte.«
»Der Kaiser hat dem Orden auch sonst schon gezürnt. Das bedeutet wenig, die Kurfürsten und Fürsten werden uns beistimmen, daß der Bund keine Partei sein kann, der wir im Recht zu stehen schuldig. Noch liegt's in unserm Willen, den Richter anzunehmen oder zurückzuweisen. Ziehen wir den Kopf aus der Schlinge, ehe es zu spät ist, und rühren wir den Arm! Es ist des Herrn Recht, den ungehorsamen Knecht zu züchtigen. Nimmer tu er sich die Schmach an, ihm vor den Richter zu folgen!«
Erlichshausen hatte den Kopf gesenkt und die Augenlider halb geschlossen. Er rieb sich die kalten Hände. »Lieber Getreuer«, sagte er, »Ihr meint's wahrlich gut. Was könnt's aber nützen, wenn ich Euch beiträte? Wir beide ändern nicht der Welt Lauf. Sind wir im Recht, wie können wir uns weigern, Recht zu nehmen von einem gerechten Richter? Der Kaiser wird nicht in sein eigen Fleisch schneiden. Greifen sie gegen seinen Spruch zu den Waffen, so sind sie Aufrührer und Rebellen in den Augen der ganzen Welt.«
»Und wenn nicht in denen des Königs von Polen? Weiß man nicht, daß Gabriel von Baisen und der Danziger Abundius Winter schon bei ihm gewesen sind?«
Der Hochmeister schüttelte den Kopf. »An solche Büberei will ich nicht glauben, man zeigte mir denn den Pakt schwarz auf weiß. Ich bin kürzlich mit dem König zusammengekommen unweit Thorn, und er hat sich mir in allem freundschaftlich erzeigt. Wär' er aber auch falsch und Hilfe den Verrätern gern, so kann er's doch nicht wagen als ein christlicher Fürst. Darauf vertraue ich. Laßt den Kaiser für uns sprechen, und wir schieben noch einen stärkeren Riegel vor. So wollen wir nur noch sorgen, am Kaiserhofe gut vertreten zu sein.« Er hob plötzlich den Kopf und die rechte Hand mit vorgestrecktem Zeigefinger. »Keinen besseren Sprecher weiß ich mir im ganzen Orden zu finden als Euch, Bruder Spittler. Wäret Ihr nicht zu mir gekommen, hätt' ich Euch selbst aufgesucht. Ihr sollt des Ordens Kläger und des Bundes Ankläger sein!«
Plauen zuckte erschreckt mit den Wimpern. »Ich, gnädigster Herr, der ich von diesem Rechtsgange ganz abrate –?«
»Ihr, und gerade deshalb. Ihr werdet am besten des Ordens Würde wahren und sein gutes Recht mannhaft verteidigen. Nein, nein! Ihr dürft uns diese Reise nicht abschlagen.«
Der Spittler ließ die Hand, die er zur Abwehr ausgestreckt hatte, aufs neue sinken. »Ich sehe, meine Warnung ist umsonst«, sagte er schmerzlich. »Seid Ihr aber gewillt, gnädigster Herr, Euch auf den schimpflichen Prozeß einzulassen, weil's doch nicht anders sein kann, so beschwör ich Euch bei dem Herzen der gebenedeiten Jungfrau Maria, unserer Schutzherrin, und bei allem, was Euch sonst das Heiligste ist, tut diesem wüsten Treiben der Bündischen Einhalt, das des Landes Verderben sein muß. Sie mißbrauchen die Vollmacht, die ihnen leider der Kaiser erteilt hat, auf unerhörte Weise. Nicht zum Prozeß rüsten sie, sondern zum Kriege. Sie ziehen im Lande umher und glossieren den kleinen Freien ihre Handfesten, also daß sie uns den Gehorsam aufsagen und zum Bunde treten. Die Widerspenstigen erklären sie für ehrlos und aus jeder Gemeinschaft. Die Danziger verbieten den Ihrigen, den Marienburger Markt mit Waren zu beziehen. Die Thorner versperren die Straßen gegen das Schloß hin mit Ketten und halten ihre Mannschaft unter Waffen, als müßten sie eines Angriffs gewärtig sein. Die Häupter des Bundes reisen in Polen umher und hetzen gegen uns. Schon sollen in Culmsee die Eidechsen auf Vorschlag Gabriels von Baisen beschlossen haben, auch polnische Herren in ihr Bündnis aufzunehmen. Das ist Landesverrat! Hans von Czegenberg, der sich eine Weile zurückhielt, wühlt jetzt um so eifriger für den Bund, Hans von Baisen spielt mit doppelten Karten. So ist alles in Auflösung. Wir aber sehen zu und tun nichts, unser Ansehen aufrechtzuhalten. So sprechen wir uns selbst das Urteil!«
Erlichshausen fühlte sich sichtlich beunruhigt. Er ließ das Kinn auf die Brust sinken und strich mit den Fingern die Stirn ab- und aufwärts wie in sorgenvollem Nachdenken. »Und was wäre da Euer Rat, Bruder Plauen?« fragte er zögernd.
»Die Tat!« rief der Spittler, »endlich die Tat.«
»Die Tat –?« wiederholte der Hochmeister bitter lächelnd. »Erwartet der Orden die von mir, dem er die Hand gebunden hat? Was versteht Ihr unter der Tat?«
Plauen sah ihn aus seinen großen blauen Augen recht treuherzig an. »Ew. Gnaden wollen nur die Hand heben«, sagte er, »so wird sie nicht gebunden sein. Zeigt den Buben den strengen Herrn. Verbietet ihre Zusammenkünfte, ihre Sammlungen, treibt sie auseinander mit Waffengewalt – mit einem Wort: greift durch!«
»Und des Kaisers Brief?«
»Das hat der Kaiser nicht gewollt. Es ist Eures Amtes, darüber zu wachen, daß sein Wille nicht falsch gedeutet werde.«
»Und wenn sie uns den Gehorsam verweigern?«
»Dann – –«. Der Spittler erhob sich in seiner ganzen Länge und ballte die Faust um den Schwertgriff. »Dann schlagt sie nieder, wie tolle Hunde, damit wir selbst ungebissen bleiben! Es ist die höchste Zeit.«
Der Hochmeister fächelte ein paarmal wie beschwichtigend mit der Hand. »Es sind ihrer zu viele«, sagte er.
»Es sind wenige«, entgegnete Plauen, »noch sind's wenige – man mag sie an den Fingern zählen. Aber laßt ihnen freien Zug, und sie bellen bald auf allen Straßen. Vielleicht ist's zur Zeit nur einer, der herausgehoben und unschädlich gemacht werden muß, damit die Ordnung zurückkehre. Den aber fasset mit scharfem Griff, und wenn er sich wehrt ... Kopf ab!«
Erlichshausen riß die müden Augen auf. »Wen meint Ihr?«
»Tileman vom Wege.«
Der Hochmeister erbleichte und stützte den Kopf gegen die Lehne des Sessels. »Tileman ...«
»Er ist die Seele des Bundes, seine belebende Kraft. Löscht dieses Feuer aus, und der Brand wird in sich selbst ersticken. Gott mag mich strafen, wenn ich ihn unrecht beschuldige, aber ich will's ihm auf den Kopf sagen, daß es ihm nicht um des Landes Freiheit ist, sondern um des Ordens Verderben. Genug liegt gegen ihn vor, mit ihm zu verfahren wie mit einem Hochverräter.«
»Es kann ihm nichts bewiesen werden«, antwortete Erlichshausen, »und wollten wir ohne Beweis und ohne rechtes Gericht... Plauen, Plauen, wozu ratet Ihr in Eurem Eifer für den Orden? Es war einer von Eurem Geschlecht, der vor vierzig Jahren ... Ja, ja! Der Danziger Komtur Heinrich von Plauen, des Hochmeisters Bruder – der fing Konrad Letzkau und Arnold Hecht, die Danziger Bürgermeister, und Barthel Groß, den Ratsherrn, auf dem Schloß und ließ sie richten ohne Recht ... Das ist dem Orden unvergessen geblieben die lange Zeit und wird gegen ihn vorgebracht werden beim Kaiser und in alle Zukunft unvergessen sein. Denn Gewalttat schreit zum Himmel. Sollen wir eine neue Schuld auf uns laden? Noch ist die alte nicht gesühnt. Denn wahrlich! Der Bund ist unsere Strafe.«
Plauen wendete sich verletzt ab. »Nie hätt' ich erwartet, solche Worte aus eines Hochmeisters Munde zu vernehmen«, sagte er mit bitterem Ton. »Was damals geschehen ist, hüllt sich in Dunkel. Ich muß glauben, daß den Verrätern ihr Recht geworden ist. Hätte der Orden damals zwanzig solche Komture gehabt wie den von Danzig, er wäre jetzt nicht gezwungen, in des Kaisers Gericht zu gehen.«
»Darüber klagen wir nun umsonst«, erwiderte der Hochmeister. »Sorgen wir, daß wir's mit dem Richter nicht verderben, denn er hat Macht über uns. Keine Gewalttat, Bruder Planen, keine Gewalttat! Wir dürfen den Kaiser nicht erzürnen. Es soll nicht heißen, daß wir unsere Untertanen, gegen die wir Klage haben, in ihrer Verteidigung beschränken, oder daß wir ihren Angriff fürchten. Das brächt' uns schlechten Leumund. Lieber noch eine Weile solche Unbill tragen. Rüstet Euch zur Reise, Bruder Plauen. Georg von Eglofstein wird Euch begleiten; er weiß bereits am Kaiserhof Bescheid. Auch hoffe ich, daß der Bischof Franziskus von Ermland die Prälaten in Wien vertreten wird. An einem tüchtigen Rechtsgelehrten soll's der Gesandtschaft nicht fehlen. Es wird alles zum guten Ende kommen. Wir haben eine mächtige Patronin im Himmel, auf die wollen wir uns verlassen.«
Er geleitete den Oberst-Spittler bis zur Tür. »Bet' und arbeite«, murmelte derselbe, als er durch den Korridor schritt. Er hatte nichts erreicht und kehrte sorgenvoller, als er gekommen, nach Elbing zurück. Der Hochmeister aber freute sich des guten Einfalls, Plauen das Botschafteramt angetragen und dadurch am besten zum Schweigen gebracht zu haben.
Bartholomäus Blume war die Verstimmung seines sonst so gnädigen Herrn nicht entgangen. Sie bekümmerte ihn um so mehr, als er nichts dazu tun konnte, sie zu heben. Aber er gehörte auch zu den Menschen mit unerschütterlich reinem Gewissen, die nicht das quälende Bedürfnis haben, sich um ihre Rechtfertigung zu bemühen, da sie vertrauen, daß ihnen die Zeit ganz von selbst zu Hilfe kommen werde, wenn sie ruhig ihren Weg fortsehen.
Er selbst hatte schwer gelitten. Es war ihm anfangs ganz unmöglich erschienen, daß Jost sein Wort brechen, seine Braut und deren Elternhaus mit Schimpf beladen könnte. Als er dann doch daran glauben mußte, war es ihm auch sofort gewiß, daß er nicht länger der Bürgermeister von Marienburg bleiben dürfte. Er versammelte den Rat auf dem Rathause, meldete selbst, was geschehen war, und erklärte, sein Amt niederzulegen, da er seinen Mitbürgern nicht zumuten wolle, selbst ihres Oberhauptes wegen geschmäht und verlacht zu werden. Vielleicht sei er nicht ganz ohne Verschulden, da er aus Liebe zu seinem Kinde dem Gegner zu willig die Hand gereicht habe.
Da hatte sich nun aber gezeigt, wie fest er in der guten Meinung der Marienburger gewurzelt war. Nicht ein einziger von den Ratsverwandten hatte zugestimmt oder auch nur durch Schweigen sein Einverständnis zu verstehen gegeben. Tief empört über die Treulosigkeit des Junkers hatten sie alle wie aus einem Munde gerufen, das sei ein vorbedachter Streich Tilemans vom Wege gewesen, für den Austritt Marienburgs aus dem Bunde Rache zu nehmen. Der Stadt sei diese Schmach in ihrem Bürgermeister zugefügt, und die Stadt wolle sie für ihn auf sich nehmen. Wie er sich ihr allezeit treu und ehrenfest bewiesen, so bezeuge sie ihm jetzt gern und freudig ihren Dank. Den Triumph wolle man denn doch dem tückischen Gegner nicht gönnen, die Stadt und die ganze Ordenspartei um ihren besten und bravsten Vorkämpfer gebracht zu haben!
Da er standhaft geblieben war, hatten sie ihn wider seinen Willen einstimmig neu gewählt und, als er auch jetzt noch bei seiner Weigerung blieb, die Gemeine verbottet, ihnen Beistand zu leisten. Den vereinten Bitten des Rats, der Schöffen und der Gewerke war es dann wirklich gelungen, seinen strengen Sinn zu beugen. »Wohl«, hatte er tiefbewegt gerufen, »ihr wollt es so, und ich bin euch gehorsam. Ihr richtet mich auf, und ich will feststehen. Glaubet mir, daß diese Stunde meinem Gedächtnis treu bewahrt bleiben wird bis an mein Lebensende. Ich sage mich euch zu mit allem, was ich bin und habe. Gott soll mich prüfen, wenn es ihm gefällt!«
Auch die Frauen und Töchter der guten Bürger wetteiferten, Frau Christine und Magdalene ihre Anhänglichkeit zu beweisen und sie über das unverschuldete Mißgeschick hinwegzutrösten. Hier doch mit wenig Erfolg. Frau Christine freilich hatte es verstanden, den Gevatterinnen gegenüber Würde und Gleichmut zu bewahren, aber an ihrem Herzen fraß um so gieriger das Leid des lieben Kindes, das gar nicht Vernunft annehmen wollte, sondern sich vor den Menschen versteckte und trüben Gedanken nachhing, allen Stolz vergessend. So war das bisher so fröhliche Haus still und düster geworden. Als wäre eine Schwerkranke darin, hüteten sich die Mägde, ein lautes Wort zu sprechen, die Tische und Bänke zu rücken und die Deckel der Truhen zuzuwerfen. Die Hausfrau verrichtete meist schweigend die Tagesarbeit, und Blume, wenn er zur Mahlzeit kam oder sich abends in den Stuhl am Ofen setzte, sah nur ernste und traurige Gesichter und hoffte vergeblich, durch ein Gespräch nach alter Art zu erheitern und erheitert zu werden.
Magdalene war wirklich krank, recht krank. Man merkte es ihren fahlen Wangen, ihren matten Augen, ihren blutlosen Lippen, ihren kalten und oft zitternden Händen an. Sie hatte alle Eßlust verloren und war so von Kräften gekommen, daß sie nur noch mühsam über die Diele schlich und am liebsten ganz allein wie ein Häuflein Unglück auf der Bank im Winkel kauerte. Der Sommer war vorübergegangen, der Herbstregen hatte die Frauen längst wieder ins Stadthaus getrieben, aber Besserung wollte sich nicht zeigen. Eher wurde der Zustand von Tag zu Tag bedenklicher. Das Gemüt war krank, deshalb konnte der junge Leib nicht gesunden. Hätte sie nur Jost recht zürnen, Ursula eine Schuld aufbürden können. Aber das vermochte sie nicht. Es war ihr, als ob sie ihn immer fester in ihr Herz schließen müßte, das er nur wider seinen Willen so schwer betrübt; und auch Ursula traf ja kein Vorwurf, wenn sie solchen Zwang geübt hatte. Was konnte sie dafür, daß dieser Zauber von ihr ausging? Sie blieb ihre liebe, einzige Freundin. Nach ihr empfand sie Sehnsucht, gerade nach ihr. Es war, als meinte sie, Jost näher und lieber zu sein, wenn ihre Gedanken an Ursula hingen.
Marcus fragte sie mitunter ganz leise, daß die Mutter es nicht hörte: »Hast du Nachricht von Ursula?«
»Wie sollt' ich?« antwortete er jedesmal. »Das Waldhaus ist weit, und von den Bekannten verirrt sich keiner dahin. Auch möcht ich ihn nicht beauftragen, und wenn's der beste Freund wäre.«
Ein Liebeszeichen hatte er doch empfangen, und es hielt ihn bei gutem Mut. Sechs Tage, nachdem Ursula verschwunden, war der Hund, der sie begleitet haben mußte, zurückgekehrt. Abgetrieben, mit wunden Füßen, halb verhungert. Um den Hals war ihm ein strickartig zusammengedrehtes Tüchelchen geknüpft, das Ursula getragen hatte. Darin war ein Zettel versteckt, auf dem geschrieben stand: »Folgen wir unseres Herzens Rat, gibt es uns Gott früh oder spat.« Der treue Hund hatte den Weg zu seinem Herrn zurückgefunden. Marcus konnte sich's lebhaft vorstellen, wie Ursula ihm das Halsband umgelegt, den Kopf zwischen ihre Hände genommen, den Mund an sein Ohr gelegt und ihm ein Wort zugeflüstert hatte, das er verstand. Vielleicht nur das Wort: »Marcus!« Wie sie's sprach, hatte es ihn plötzlich an die Heimat erinnert. Sie konnte ja mit den Tieren sprechen!
Einmal fragte Magdalene ihn: »Willst du denn Ursula noch länger warten lassen? Sie wird irre an dir werden.«
»Das fürchte nicht«, entgegnete er. »Sie wird wissen, daß es noch nicht die Zeit ist. Ihr Glaube ist stark wie der meine.«
»Aber warum zögerst du?« fragte sie weiter. »Nimm auf mich keine Rücksicht – ich werde mich deines Glückes freuen, soviel ich kann. Wenn's Gott nicht so gewollt hätte, daß ihr beide einander liebtet ... ich weiß nicht, was ich wünschen könnte. So aber ...« Sie wagte sich nicht weiter.