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Letztes Kapitel.
Woher? Wohin?

Wird die Höhe von Kap Matapan, die Südspitze des Peloponnes, erreicht, so geraten alle Schiffe, selbst solch ein gepriesener Luxusdampfer, wie es die ›Assuan‹ ist, in leichte Bewegung. Die Passage ereignet sich zumeist am späten Abend, und die Reisenden haben bei gutem Wetter das Vergnügen, durch ein unmerklich gelindes Schaukeln nur noch tiefer in den Schlaf gewiegt zu werden.

Heute freilich hält eine ziemlich laute Gesellschaft der kleinen Unannehmlichkeit lieber stand, als zu dieser Stunde gegen die Gewohnheit schlafen zu gehen. Die Nachtschwärmer gehören zum großen Teil einer angesehenen Filmtruppe und ihren künstlerischen und geschäftlichen Mitläufern an. Man begibt sich nach Afrika, um dort in der Originallandschaft eine millionenschwere Aufgabe zu lösen. Es sind, von der Diva angefangen bis zum Episodisten, recht seefeste Leute, die ihr interessanter Beruf schon ein paarmal zwischen den Erdteilen umhergetrieben hat. Die Gesellschaft sitzt, von ihrem selbstbewußten Lärm umwölkt, in der Bar und im anstoßenden Salon. Die Saxophone der Bordmusik schmachten, das Schlagzeug stampft. Einige tanzen. Man hält die Wette, wie lange dies bei der Seitenbewegung des Schiffes möglich ist. Die Paare kämpfen eine Zeitlang vergeblich, dann verlieren sie den Boden unter den Füßen. Da es nun ungemütlicher zu werden scheint, steigen neue Wetten, wen das Schicksal wohl zwingen werde, die Runde zu verlassen. Alle jedoch bleiben standhaft. Kaum, daß die Fröhlichkeit eine leichte Schärfe bekommt.

Da erhebt sich der Schiffsarzt Doktor Ferdinand R., der freundlich schweigsam unter der prahlerischen Gesellschaft gesessen und mit geneigtem Ohr ihren protzigen Geschichten gelauscht hat. Er grüßt lächelnd und geht. Der Schiffsarzt gehört zur Besatzung. Als Professionist ist er über jeden Verdacht erhaben. Er hat es satt und wird sich zur Ruhe begeben. Niemand scheint von seinem Verschwinden Notiz zu nehmen. Doktor Ferdinand R. gehört zu den Leuten, denen die Tugend gegeben ist, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Kaum aber hat sich der Schiffsarzt so heimlich empfohlen, als ein älterer Herr aufsteht und ihm folgt. Gelächter, um das er sich nicht kümmert! Er heißt Sonin und steht in dem unbegründeten Verdacht, ein Schriftsteller und Psychologe zu sein. Was den Ruf des Schriftstellers anbelangt, so stammt er daher, daß Sonin als literarischer Berater des Filmunternehmens eine unbestimmte Tätigkeit entfaltet und überdies die Gabe schlagender Aussprüche besitzt. Für den Ruf eines Menschenkenners und Psychologen ist der Ärger maßgebend, der Sonin erfaßt, wenn ihn jemand so nennt. Er hält gegen solche Anwürfe eine hochmütige Sentenz bereit:

»Psychologie ist die Waffe der Kellner im Kampf ums Dasein.«

Es kann nicht verschwiegen werden, daß Sonin hie und da wirklich ein leidenschaftliches Interesse an Menschen nimmt, meist aber an unauffälligen Menschen. Den Stars, den Berühmtheiten, den Film- und sonstigen Nabobs steht er völlig kalt gegenüber.

Wesen und Leben des Schiffsarztes Ferdinand R. auf der ›Assuan‹ hingegen beschäftigt ihn mit großer Eindringlichkeit. Sonin kann sich im allgemeinen keine Rechenschaft darüber geben, warum sich irgendein Mensch mit einemmal in seine Gedanken drängt. Er ist Junggeselle, fünfundfünfzig Jahre alt, hat mit Frauen wenig in seinem Leben zu tun gehabt; so bleiben in ihm ungedeckte Bindungswünsche genug frei, jene fliegende Teilnahme zu erzeugen.

Für Ferdinand R. hat ihn folgender geringfügiger Umstand zuerst eingenommen. Er konnte den Schiffsarzt drei Minuten lang beobachten, wie er im Kajütengang der Ersten Klasse vollkommen bewegungslos dastand und, ohne Sonins Gruß zu bemerken, irgendeinen Punkt anstarrte.

Dieses Starren, dieses Verlorensein erregte in dem Beobachter die Vermutung, der Schiffsarzt habe ein »Geheimnis«, oder, um es weniger romantisch auszudrücken, er leide an einer Gabe, die heute weit seltener geworden ist als ein Geheimnis, an »innerlichem Leben« nämlich. Als Sonin noch ein andermal die gleiche Beobachtung machte, teilte er sie dem Kapitän mit, dem diese Eigenheit seines Bordarztes nicht unbekannt war. Ja, der Doktor R. sei ein bißchen komisch, was sich hauptsächlich darin zeige, daß er seine Kabine bis oben mit Büchern vollgestopft habe. Sonst aber könne man sich über ihn wirklich nicht beklagen, er sei der tadelloseste Kamerad, ein Mensch, mit dem es niemals den geringsten Anstand gebe. Nur eines freilich fehle ihm völlig: Jede Ambition. Der Kapitän, ehemals Schiffsleutnant der k. u. k. Kriegsmarine, gebrauchte Fremdworte wie »Ambition«, »Initiative«, »Aktivität«, sie scharf herausstoßend, im vieldeutigen Sinne der militärischen Geheimsprache.

Das Material also, das sich Sonin über Ferdinand R. beschaffen konnte, ist leider sehr mager und beruht zum größten Teil nur auf eigener Anschauung. Es ist merkwürdig, wie wenig seine Schiffskameraden über den Arzt wissen. Kaum mehr als dies, daß er seit drei Jahren beim Lloyd angestellt sei, immer nur bei dieser Linie gearbeitet habe und in Wien bei der dortigen Vertretung der Schiffahrtsgesellschaft einen Protektor besitzen müsse, denn ohne Fürsprache würden Ausländer selten angestellt. Rechnet man die üblichen Daten hinzu, die gleichsam behördlich aufliegen, so ist das fast alles, was von Ferdinand R. bekannt ist.

Der Grund für dieses karge Wissen liegt aber keineswegs in einer scheuen Verschlossenheit des Schiffsarztes. Er ist gar nicht verschlossen. Sonin hält ihn sogar für offen und zutraulich. Der Grund liegt weit eher in der unermeßlichen Interesselosigkeit der Menschen füreinander, falls es sich nicht gerade um das wärmespendende Belebungsmittel des Klatsches handelt. Nun hat Ferdinand R. eine Eigenschaft, die das Offenbarungsbedürfnis der anderen geradezu herausfordert, ihn selber aber in den Hintergrund drängt: Er spricht niemals von sich. Man ist nun schon einige Tage unterwegs, und Sonin möchte schwören, daß er von dem Manne noch keine zwanzig Male das Wort »Ich« gehört habe. Und wer soll sich denn um ein Ich bekümmern, das sich selbst nicht im Munde führt?

Sonin bezeichnet den Schiffsarzt als den Gegensatz eines »Solisten«. Unter diesem Ausdruck seiner Branche aber versteht er mehr als einen Darsteller tragender Rollen, er ist für ihn kraft tiefer Erfahrung zu einem nahezu theologischen Begriff geworden, der den Schnittpunkt des Absolut-Bösen mit dem Absolut-Dummen zu Worte bringt. Der Beobachter spürt ferner genau, daß diese mangelnde Ich-Erfülltheit keineswegs aus der gedrückten Seelenverfassung eines unbedeutenden Mannes kommt, der von der Ahnung des Höheren angerührt wird. Sie ist ein Schleiervorhang, mittels dessen sich ein empfindsamer Mensch vor der peinlichen Indezenz der meisten Gespräche schützt.

Alles in allem, urteilt Sonin, paßt Ferdinand R. sehr gut zu seinem Beruf.

Bessere Naturen treffen oft ganz unbewußt eine symbolische Berufswahl. Wer immer unterwegs sein muß, gehört zur Gattung der Überzähligen, der Außenseiter, der Heimatlosen.

Die Kunst eines Schiffsarztes, zumal auf einer Vergnügungslinie, hat nicht oft Gelegenheit, eine verantwortungsvolle Aufgabe zu lösen. Sie erschöpft sich größtenteils im Verordnen der üblichen Arzneien und in der Verabreichung von Atropin-Injektionen bei schwereren Fällen von Seekrankheit. Im großen ganzen eine eintönige Beschäftigung, die ihren Mann nicht sonderlich bereichert, ihn dafür aber in der Beschaulichkeit und Muße kaum verkürzt.

Bei den Mahlzeiten sitzt Sonin dem Doktor gegenüber. An der Kapitänstafel nehmen vom Personal sonst nur noch der Erste Offizier, von Fahrgästen die Diva, der Manager, ein italienischer Bankgouverneur, eine Sportsgröße, ein Hochstapler, eine amerikanische Dame und ein junger Mann teil, der schon dem Zeitalter angehört, das dem Weltuntergang nachgeboren wurde. Letzterer tut sich besonders hervor. Bewundernswert ist die nackte Unschuld, mit welcher dieser junge Mann die Tiefe seiner Lebenszweifel preisgibt. Sie bewegen sich leidvoll-schwankend, aber hartnäckig zwischen den heiligen Werten der berühmtesten Auto-Typen hin und her. (Jugend des Krieges und der Revolution, ist ein heiliger Fluch, dein heiliges Hoffen so schnell schon vergessen!? Verkriech dich, soweit du noch am Leben bist!) Hier, an dieser Tafel fiel Ferdinand R.'s Wesen Sonin zum erstenmal auf. Die Art, wie er bei der schrecklichen Konversation jeder Banalität ausweicht, aufmerksam schweigt, und wenn er redet, von allen anderen weit entfernt ist, das erfüllte ihn mit Verwunderung. Ein Mensch, der sich abhebt, ohne es zu zeigen.

Einige kleine Gespräche, die übrigens ganz unpersönlich blieben, erhöhten die Sympathie des Beobachters für seinen Gegenstand.

Doktor Ferdinand R. schließt sich nicht aus. Er ist außerhalb seiner Ordinationszeit fast immer zu finden. Man kann ihn durchaus keinen Menschenverächter und Grübler nennen. Diese Tatsache bringt eine gewisse (falsche) Theorie Sonins in Unordnung, die argwöhnt, daß der Schiffsarzt im geheimen an einem naturwissenschaftlichen Werke oder gar an einer Dichtung arbeite. Er scheint ganz im Gegenteil selbst eine mäßige Gesellschaft dem Alleinsein vorzuziehn. Die halbe Nacht sitzt er in der Bar und ist einer der letzen beim Schlafengehen. Hie und da nimmt er auch am Tanze teil, viel zu wenig freilich in den Augen des Kapitäns, der es gerne sieht, daß seine Herren das gesellige Leben an Bord durch ihre Teilnahme tunlichst fördern. (Derartiger Fleiß außer Dienst fällt unter den Begriff: »Ambition«.) Und noch etwas ist es, was Sonin an Ferdinand R. besticht. Er läßt sich durch Gunstbezeigungen von Frauen nicht eitel machen. Dafür ist die Erwiderung eines Blickes, der Klang eines Wortes Beweis genug, wenn man zu schauen versteht.

Das aber bedeutet auch alles an Persönlichkeitsmerkmalen, was Sonin innerhalb der bisherigen Reisetage gesammelt hat. Er spürt, daß sich sein Laster, die Neugier, in Sympathie und die Sympathie in eine fast schamhafte Zuneigung verwandelt hat, die er für den jungen Schiffsarzt immer mahnender hegt. Jede Liebe ist grausam, denn sie hat das Bedürfnis, um des Erbarmens willen, ihren Gegenstand leiden zu sehn. So auch vermutet Sonin, als sich der Schiffsarzt so plötzlich erhebt, daß ihm ein böses Schicksal widerfahren sei. Hat ihm zum Beispiel der Steward heimlich einen Funkspruch zugestellt, in dem er die Nachricht vom Tode seiner Mutter oder die Botschaft eines andern Ungemaches empfing?

Mit dieser Ahnung, die fast einer Gewißheit gleicht, verläßt Sonin die Bar. Wird ein zartfühlender Mensch, den ein Unglück traf, nicht das Bedürfnis haben, mit einem Gleichgesinnten zu sprechen, der sich ihm aus dem monotonen Rudel von Luxus- und Erfolgshyänen nähert? Sonin hat den schmerzhaften Wunsch, jetzt mit diesem fremden feinen Menschen ein inniges Gespräch zu führen, ihm seine Freundschaft anzubieten und irgendeine trostreiche Freude zu bereiten.

Der Schiffsarzt hat schon einen großen Vorsprung gewonnen. In seiner Kabine ist er nicht, denn der Schlüssel hängt an der Tür. Sonin stolpert über eine hohe Stufe auf das Promenadedeck. Auch hier ist kein Doktor R. zu sehen.

Indessen hat sich der Gang des Schiffes ein wenig beruhigt. Eine klare Nacht überwölbt die Masten. Die nordische Sichel des Mondes ist schon zur hochgehobenen Schale des Orients verwandelt. Nach langem Suchen sieht Sonin den Arzt auf dem Vorderschiff stehen, ganz vorne am Bug fast, wo die weißen gewaltigen Wände sich mit einem anmutigen Schwung schneiden. Bis auf die herrlich vorwärtsgischtende Form des Bugs ist das Vorderschiff der häßlichste Teil eines Dampfers, denn hier stehen Fässer und Kisten unwegsam durcheinander, die Planken sind durch Schmutz- und Öllachen entstellt, und überall schlängelt sich Tauwerk umher.

Sonin will auf seinen Mann zutreten. Aber jene Scheu hält ihn zurück, die uns anfaßt, wenn wir zu Zeugen intimer Offenbarungen werden. Er bleibt hinter einer Ankerwinde stehen und beobachtet. Allerdings viel ist da nicht zu beobachten. Der Schiffsarzt steht ruhig über die Reling geneigt und schaut aufs Meer hinaus. Dann richtet er sich auf und verharrt steif in dieser Stellung, während der Wind seinen offenen Uniformmantel rückwärts weht. Nur einmal unterbricht er seine aufrechte Ruhe, indem er den rechten Arm ausstreckt. Diese Bewegung nimmt sich schier feierlich aus. Sonin sieht, daß Doktor R. etwas Weißliches in der Hand hält, was, das kann er nicht wahrnehmen. Plötzlich aber schüttelt die ausgestreckte Hand dieses Weißliche, läßt es nach einer Weile ins Meer fallen und bleibt noch lange mit segnend gespreizten Fingern über der unsichtbaren Flut schweben.

Um sein Leben gern wüßte der Beobachter, was diese Hand hier dem Meer geopfert habe.

 

Ferdinand sieht die fernen Zackenlinien des Peloponnes träge ihm entgegenziehen. Sie sind ganz schwach erhellt, als seien sie aus schwarzer Pappe geschnitten, und dahinter stehe eine Kerze. Das Meer, in dem das Schiff vorsichtig auf- und niedertaucht, ist ein dunkles Nichts, das irgendein Gerücht leise beflüstert; der Himmel ist ein helleres Nichts, das schweigt. Die Welt dieser Stunde scheint nicht unbegrenzt zu sein, Himmel, Meer und Erde höhlen sich als eine zwar riesige, aber rundumschlossene Endlichkeit. Und wieder einmal steht Ferdinand in der stillen Mitte dieser unendlichen Endlichkeit.

Er ist aufgestanden und fortgegangen, weil er es nicht mehr ausgehalten, weil sich so etwas wie Haß in ihm geregt hat gegen die Ewig-Fremden, die Menschen. Zugleich aber ist jetzt ein Teil seines Innern merkwürdig zusammengekrampft. Der Krampf sitzt genau im Sonnengeflecht des Zwerchfells; er tut weh, aber weit stärker noch greift in die Nervenharfe eine unbeschreibliche Lust. Ferdinand kennt diese seltenen, aber immer wiederkehrenden Anfälle gut, diese ziel- und grundlose Begeisterung, die ihm plötzliche Tränenströme in die Augen treibt und die Sucht entfesselt, zu schreien, zu singen, sich auf die Knie zu werfen.

Es ist dann jedesmal so, als erwache in ihm ein Hymnus, der zum Leben drängt. Wäre Ferdinand doch nur ein Mann des Wortes, ein Mann des Gesanges, das Leben fiele ihm leichter. So aber hält er sich fest an der Reling, weil er sich selbst in dieser nächtigen Schiffseinsamkeit schämen würde, einen Schrei auszustoßen oder durch eine pathetische Gebärde die Skepsis des Mondes zu erwecken. Der Krampf im Sonnengeflecht, der Hymnus, hat keine Worte, keine Töne und auch keine Gedanken.

Er ist nichts als Gefühl.

Hier folgt Ferdinands Hymnus, soweit sich das Wortlose und Gedankenferne in der abschwächenden Übertragung durch eine Sprache wiedergeben läßt:

 

Mein Gott, nun bin ich schon sechsunddreißig Jahre alt, und immer noch gehe ich als ein Ahnungsloser umher unter diesen Ausgepichten, Neunmalgewitzten, Schlauäugigen, Beutegierigen.

Sie verdienen, sie tanzen, sie huren, sie spielen Bridge, sie sind tätig, sie bringen es weit und lassen sich, mein Gott, von Deinem Atem und Deiner Allgegenwart nicht imponieren.

Sie lieben allein den Zweck und hassen nur das Zwecklose. Deinen würgenden Griff an der Kehle zu spüren, es gälte ihnen als Schwachsinn und Schande.

Nun werde ich bald schon Vierzig sein, und noch immer schleiche ich mich hinaus und kann kaum den Anstand wahren, kaum das Aufheulen zurückhalten, das Dich, o mein Gott, in Deiner zerschmetternden Unverständlichkeit grüßen will.

Im Salon spielt die Kapelle, in andern Räumen das Grammophon den ganzen Tag und die halbe Nacht. Sie kommen ohne Lärm nicht aus, weil sie Dich überlärmen müssen. Sie winken dem Lärm nur ab, wenn sie von Geschäften reden.

Früher dachte ich, nur die Alten seien so, jetzt aber sehe ich, daß die Jungen nicht anders sind. Sie kennen Deine Tränen nicht. Dreck, Berechnung und Ellbogenwut beten sie an.

Ist die Welt so arm geworden, daß sie wie ein reißendes Tier nur an Beute denken muß? Ich bin ja selber arm und denke nicht an Beute.

Was wollen sie, diese zappelnden, unersättlichen Auftriebler? Kann man denn etwas erreichen auf der Welt? Ist es nicht übergenug, wenn man leben darf? Aus mir ist nichts geworden als ein kleiner Doktor. Ich habe aber auch niemals den Ehrgeiz gehabt, daß aus mir etwas werde.

Wäre es nicht besser, ich hätte ihn gehabt? Wäre ich nicht glücklich, wenn ich Gier und geistigen Todes genug besäße, ihr Spiel mitzuspielen?

Verzeih mir die Lästerung! Nein! Es wäre nicht besser. Denn ich könnte dann nicht die überirdische Wollust dieser Minute fühlen.

Sie überzahlt alles, selbst den Tod. Denn auf der Welt kann man nichts andres erreichen und gewinnen als Dich. Ja, was könnte ich noch gewinnen, da ich Dir jetzt in diesem wahnsinnigen Rausche angehöre?!

Siehe, so stehe ich da, weine unter Deinem Blick und starre auf das Meer hinaus wie ein Trunkener. Und wie ein Trunkener weiß ich, daß dieses Meer gar kein Meer ist, und hier gar kein Schiff, und daß ich gar nicht ich bin, sondern ein ganz andrer, den ich nicht verstehe, wie ich Dich, Dich, oh so herrlich, nicht verstehe!«

Solche Ekstasen kommen unvermutet schnell und gehen ebenso schnell vorüber. Sie hinterlassen keinerlei geistiges Resultat, keine Erkenntnis und keine Erinnerung. Übrig bleibt nur das Gefühl einer ehrenwerten Müdigkeit wie nach einer Bergbesteigung und die ängstliche Sehnsucht, er möge nicht das letztemal ihn erfaßt haben, der göttlich holde Anfall.

Ferdinands Rausch, ihm schon aus Kindertagen vertraut, flutet in sich zurück. Die Zackenschrift des Kap Matapan versinkt. Da greift der Schiffsarzt in seine Manteltasche und zieht den Goldbeutel Barbaras hervor.

Nach dem Lunch hatte er sich heute für eine Stunde hingelegt. Als er erwachte, wurde es ihm aber ungewöhnlich schwer, sich in den Tag zurückzufinden. Und gerade in dem Zustand dieses Zwischenbewußtseins, dieser Willenslähmung wandelte ihn plötzlich die tiefe Gewißheit an, daß Barbara nicht mehr lebe, daß sie in den letzten Tagen oder vielleicht gar in selbiger Stunde die Erdenwelt verlassen habe. Er brauchte lange, um seiner Lähmung Herr zu werden. Die Gewißheit von Barbaras Tod nahm er unverändert ins volle Erwachen hinüber. Später war es das erste, daß er ihr Vermächtnis aus seinem Koffer zog. Er wußte nicht wozu, aber er zählte die Münzen peinlich genau nach. Es waren zehn Hundertkronenstücke und achtundneunzig Zwanzigkronendukaten. Von den ursprünglich vorhandenen hundertzweiundzwanzig Dukaten hatte Ferdinand, als er keinen andern Ausweg mehr wußte, vierundzwanzig verkauft. Diese Summe bildete scharf den Prozentsatz, den auch er, seinem Wesen gemäß, dem Leben abzahlen mußte, sie war der genaue Kurs seiner irdischen Schwäche und Niedrigkeit. Wäre er standhafter und kraftvoller gewesen, so hätte er weniger oder nichts verkauft.

Als er dann mit der Zählung fertig war, steckte er den Leinwandbeutel in seinen Mantel. Warum? Vielleicht, um Barbaras Erbe heut in der Nähe zu haben.

Und nun hält er es in der Hand.

Was er jetzt tut, geschieht blitzschnell und ohne Überlegung. Nicht anders hat er auf der Halde von Kolkow statt des Feuerbefehls »Schultert« kommandiert. Seine eigensten Taten entstammen immer wieder der plötzlichen Eingebung und nicht dem Vernunftschluß. Weit über Bord gebeugt, löst er den Knoten, kehrt den Beutel um und schüttelt ihn. Ein leicht aufschimmernder Sternschnuppenfall sinkt lautlos in die Tiefe, und das weiße Leinwandding folgt ihm nach.

Sofort erschrickt der kleine Mensch, der auch in Ferdinand steckt, wie eine Hand, die ins Feuer gegriffen hat. Aber schon antwortet ein andres Wesen: Ja, es ist gut so!

Was hat er getan? Sich vor künftiger Versuchung geschützt? Das wäre, wenn überhaupt, so nur der oberflächlichste Grund. Hat er eine Sühne dargebracht? Vielleicht! Er aber denkt jetzt gar nicht daran, daß er sich eines Gutes entäußerte, daß Barbaras Vermächtnis unwiederbringlich verloren ist. Ist es denn verloren? Ist es nicht jetzt erst aufgehoben, sicherer und reinlicher als in Ferdinands Koffer oder in irgendeinem Banktresor? Barbaras Gold ruht von Stund an in der Tiefe der Welt. Der Honig der heiligen Arbeitsbiene ist für ewig geschützt und dem entweihenden Kreislauf entzogen.

Ferdinand hält noch immer die Hand ausgestreckt ...

Das Schiff aber ist weitergerückt, und seine Hand segnet nicht mehr das Opfer, sondern eine fremde und gleichgültige Stelle des Meeres.

Noch drei Pulsschläge lang verharrt er. Dann wendet er sich um. Die Augen brennen und die Knie zittern. Aber der Körper ist von wachsenden Kraftfluten durchströmt. Seine Gestalt, sein Schritt, sein Gesicht atmet jetzt, vom Scheinwerfer der Kommandobrücke lichtüberschüttet, eine solche Strenge und Unnahbarkeit aus, daß ihn der Beobachter hinter der Ankerwinde ruhig vorübergehn läßt.

 


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