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Obgleich Ferdinand um sechs Uhr früh schon wach war, konnte er sich nicht entschließen, die Augen zu öffnen, und wie ein Kind, das sich, um der Schule zu entgehen, schlafend stellte, stellte er sich vor sich selbst schlafend. Es gelang ihm, diesen Betrug eine halbe Stunde lang durchzuführen. Dann stand er auf, wusch sich ausdauernd und kleidete sich langsamer als sonst an. Als Josef ihm den Kaffee brachte, trank er ihn in ganz kleinen Schlucken und starrte dabei mit abwesendem, ja fast blödsinnigem Ausdruck auf den großen Briefumschlag. Dann erst öffnete er ihn. Der Inhalt bestand aus drei Stücken, wovon das Hauptstück eine Drucksorte war. Ferdinand entfaltete den ersten Bogen, las ihn endlos lange durch und legte ihn wieder zusammen. Der gleiche Vorgang wiederholte sich viermal. Das Blatt enthielt nicht mehr als ein paar Zeilen Maschinenschrift. Nach den üblichen Registraturtiteln folgte der Text. Er begann mit den Worten:
»Auf Grund von A. O. K. Nr. ... Datum ... befehle ich:«
Dann kamen jene Zeilen, über deren Sinn sich Ferdinand durchaus nicht klar werden konnte:
»Die Infanteristen Karl Schwec, Jaroslav Teinfalt, Franz Pacak, alle von der fünfzehnten Kompagnie des dritten Baons des Inf. Rgt. Nr. ..., welche während der feindlichen Unternehmung am 15. Juli 1917 von der Stellung Jósefowka von Feldgendarmerie erwiesenermaßen bei der Absicht, zum Feinde überzulaufen, abgefaßt wurden, werden laut den oben zitierten Bestimmungen morgen, den 18. Juli 1917, um fünf Uhr dreißig Minuten vormittags durch Erschießen vom Leben zum Tode befördert werden.
Die Vollziehung der Todesstrafe übernimmt die beim Divisionskommando dislozierte dreizehnte Kompagnie des Inf. Rgt. Nr. ... Als Vollziehungsort bestimme ich die große Halde nördlich der Ortslisiere von Kolkow im Raume IV / 7 der Spezialkarte. Exekutionsleiter der Kompagniekommandant Leutnant Ferdinand R. Derselbe hat im Laufe des 17. Juli den genannten Infanteristen die Legitimationskapseln abzunehmen und anher zu senden. Alles Nähere in den Anlagen.«
Die Unterfertigung bestand aus den vorgedruckten Worten »Der Kommandant der Inf. Truppen Division« und einem Rundstempel, in dem ein wenig leserlicher Schriftzug verschwand. Mit großer Behutsamkeit legte Ferdinand dieses Dokument beiseite. Ehe er sich der ganzen Tragweite des Befehls noch voll bewußt wurde, sträubte sich sein logisches Empfinden: Wie kann man »erwiesenermaßen« bei einem »Vorhaben« abgefaßt werden? Das gibt es doch gar nicht. Auch erinnerte er sich nicht, je während einer Kampfhandlung Feldgendarmen in den Gräben gesehen zu haben. Das Ganze machte einen verlogenen und dilettantischen Eindruck. Er nahm die Drucksorte zur Hand. Es waren ein paar Seiten, die dem Dienstreglement für das k. u. k. Heer, erster Teil, angehörten. Ruhig atmend vertiefte sich der Betroffene in den rot angestrichenen Paragraphen:
§97.
Vollziehung der gerichtlichen Strafurteile.
708. Vollziehung einer Todesstrafe.
Bei der Vollstreckung eines Todesurteils hat stets ein Major oder in dessen Ermanglung ein rangälterer Hauptmann das Kommando zu führen.
Als Bedeckung rücken zwei Kompagnien zu je mindestens vierzig Rotten aus.
Zum Schranken, nämlich zur unmittelbaren Bewachung des Verurteilten, sind 1 Feldwebel, 1 Korporal, 6 Gefreite und 18 Infanteristen zu bestimmen, welche sich schon früher zu dem Ausgange des Gefangenenhauses zu begeben und daselbst ein Viereck zu bilden haben, von welchem jede Seite 6 Mann enthält.
Der Profos bringt den Verurteilten unter Begleitung der Wache bis in den Schranken, in welchen auch der Priester tritt, wogegen die Wache zurückbleibt.
Der Profos, neben ihm der Korporal, führt, und der Feldwebel schließt den Schranken, welcher in die Mitte der Kolonne rückt.
Der Marsch auf den Richtplatz erfolgt langsam, und es wird niemandem eine Ehrenbezeigung geleistet.
Der Auditor reitet (geht) links des Exekutionskommandanten, welcher bei der Annäherung an den Richtplatz: »Habt Acht! In das Exekutionskarree – Marsch« kommandiert und dessen Formation in der den örtlichen Verhältnissen angemessensten Weise derart verfügt, daß jede Flanke des Karrees durch eine halbe Kompagnie gebildet wird.
Nach Formierung des Karrees treten die Offiziere in dasselbe; der Schranken wird geöffnet, das Urteil durch den Auditor noch einmal vorgelesen und hierauf zum Vollzuge geschritten.
Nach der Hinrichtung erteilt der Priester eine bündige Ermahnung und verrichtet ein kurzes Gebet für den Hingerichteten, wozu der Exekutionskommandant »zum Gebet« stellen läßt.
Die Offiziere verfügen sich dann wieder in ihre Einteilung, worauf der Abmarsch angeordnet wird.
Wird das Urteil durch Erschießen vollzogen, so müssen hiezu 8 Mann bestimmt werden, welche ihre Gewehre schon vorher in Gegenwart eines Offiziers scharf zu laden haben.
Nachdem das Urteil noch einmal vorgelesen worden, muß der Verurteilte niederknien, und es werden ihm die Augen durch einen Kameraden, den er sich unter den Anwesenden selbst wählen kann, verbunden; gleichzeitig gibt der Exekutionskommandant mit dem Säbel ein Zeichen gegen die hintere Seite des Karrees, worauf diese sich in der Stille soviel als nötig zu öffnen hat.
Die bestimmten 8 Mann treten hervor, 4 derselben, welche zuerst zu schießen haben, nehmen geräuschlos »Fertig« und rücken leise so nahe an, als es, ohne den Verurteilten zu berühren, möglich ist.
Der Exekutionskommandant stellt sich seitwärts so auf, daß er von diesen Männern gesehen werden kann und hebt den Säbel in die Höhe, worauf die in der Mitte befindlichen zwei Männer auf den Kopf, die anderen auf die Brust des Verurteilten anschlagen, und auf das Kommando: » Feuer« des Exekutionskommandanten – welches ohne langes Zögern zu erteilen ist – gleichzeitig Feuer geben.
Während dieser Zeit halten sich die anderen 4 Mann unmittelbar hinter den ersten bereit, um, wenn der Gerichtete noch Lebenszeichen geben sollte, einen oder soviele Schüsse, als nötig wären, abzugeben.
Bei jedem Hingerichteten ist eine Wache von einem Gefreiten und 3 Mann so lange zu belassen, bis dessen Überführung in die Totenkammer oder in ein sonst hierzu geeignetes Lokal erfolgt.
Der Körper des Gerichteten ist bei Nacht in der Stille ohne Kondukt, an einem hierzu bestimmten Platze zu begraben.
Im dritten Anhang waren die näheren Verfügungen getroffen, die sich auf diesen Fall bezogen: Wieviel Züge der Kompagnie auszurücken hätten, die genaue Zeit des Abmarsches, die Zahl der Patronenmagazine, die an jene Mannschaften auszugeben seien, welche das Los zur Vollstreckung des Urteils treffen sollte. Dreimal acht Gewehre waren vorgesehen. Da man sich im Kriege befand, wurde die vom Dienstreglement bestimmte Zahl von zwei Bedeckungskompagnien auf eine herabgesetzt, ebenso wie der vorgeschriebene Major oder Hauptmann auf einen einfachen Leutnant. Die letzten Punkte beschäftigten sich mit dem Abtransport der Leichen und ihrer Übergabe an die Divisionssanitätsanstalt. Das Dienststück schloß mit dem Befehl an den Exekutionskommandanten, morgen pünktlich um neun Uhr vormittags in der Kanzlei des Divisionskommandos zu erscheinen und dem stellvertretenden Generalstabsoffizier Meldung zu machen, daß zur anbefohlenen Stunde das Urteil vollstreckt worden sei.
Ferdinand brachte mit dem erfolglosen Studium dieser so leicht faßlichen Befehlsreihe eine volle halbe Stunde zu. Dann erhob er sich mit dem unheimlichen Zwangsgefühl, dies werde niemals in seinem Bewußtsein haften bleiben. Josef fragte, ob man den Kutschierwagen heute wieder nach Złoczów um den Herrn Kanonier Engländer schicken solle. Sein Herr sah ihn lange an, drehte sich um, ohne zu antworten, und verließ das Zimmer.
In der Kompagniekanzlei wartete der Feldwebel Hafenrichter schon ganz verzweifelt auf den Leutnant. Als Ferdinand eintrat, stürzte er ihm entgegen:
»Was sagen Herr Leutnant? Eine schauderhafte Sache!«
Ferdinand setzte sich stumm nieder und murmelte nach einer Pause:
»Was sollen wir tun, Hafenrichter?«
Der Feldwebel knickte zusammen:
»Ich glaub, da läßt sich nichts machen. Es ist auch keine Zeit mehr.«
Ferdinand grübelte:
»Warum trifft das gerade uns, Hafenrichter?«
»Das kann ich dem Herrn Leutnant ganz genau sagen. Wir sind hier die Fremden und folglich die Wurzen. Die zwei Landwehrkompagnien von der Divisionsbedeckung, die haben halt Protektion. Solche schmutzige Befehle bekommen die nicht. Da sucht man sich die Mannschaften dazu aus, die sich erholen sollen, Fixlaudon noch einmal!«
»Aber etwas muß doch geschehen?«
Hafenrichter begann stürmisch unter seinen Papieren und Listen zu kramen:
»Wie wäre es, wenn sich Herr Leutnant marod melden?«
»Ich soll mich krank melden?«
»Es ist allerdings schon sehr spät dazu, und niemand wird es anerkennen.«
»Nein! Das ist falsch! Das geht nicht ...«
Hafenrichter, dem Ferdinand wirklich leid tat, suchte andere Auswege:
»Kennen Herr Leutnant niemanden bei der Division?«
Ohne recht einen Gedanken fassen zu können, tat Ferdinand so, als denke er über diese Frage nach, vergaß aber zu antworten. Der Feldwebel spann seinen Faden weiter:
»Leider ist der Herr Generalstabsoberleutnant Colombo auf Krankenurlaub. Das war ein sehr netter Herr, mit dem man reden konnte. Als sein Vertreter ist ein junger Generalstäbler da, noch keine siebenundzwanzig alt, ein großer Feschak, wie die Leute sagen, der beim Alten alles durchsetzt. Er hat schon kolossale Auszeichnungen und ist überhaupt eine prima Nummer. Herr Leutnant werden ihn vielleicht kennen.«
»Wie heißt er?«
»Hauptmann Steidler!«
»Hauptmann Steidler? Nein, ich glaub, den kenn ich nicht.«
»Er ist jetzt der alleinige Macher oben. Der Alte nämlich soll vom Alkohol schon ganz sanftmütig sein. Er bleibt gern im Hintergrund, denn man hat ihn bereits einmal absägen wollen. Vielleicht, wenn Herr Leutnant ...«
Ferdinand unterbrach den Feldwebel. Er hatte wieder das verhängnisvolle Schriftstück hervorgeholt und versenkte seine angestrengten Blicke in eine Zeile:
»Sagen Sie, Hafenrichter, hier steht: ›erwiesenermaßen‹! Wieso erwiesenermaßen? Wie kann man das erweisen?«
»Daß ich nicht lach, Herr Leutnant! Die armen Teufel sind nämlich die einzigen, die nicht zu den Russen hinübergekommen sind. Am fünfzehnten ist ihre Kompagnie schön gemütlich auf die andere Seite spaziert. Sie müssen nun das Ganze ausbaden.«
»Aber dann sind sie ja gar nicht schuldig ...«
»Schuldig? Das ist schwer zu sagen, Herr Leutnant! Einer für alle! Bei den Achtundzwanzigern, die mit diesen Geschichten angefangen haben, hat man es genauso gemacht. Wer zurückbleibt, der bekommt die Mischung. Da kann man halt nichts machen.«
Ferdinand schluckte wie ein Kranker:
»Vielleicht sind sie ... aus Anständigkeit ... zurückgeblieben?«
Hafenrichter ergab sich einem genußreichen Hohngelächter:
»Wir sind beim Militär, Herr Leutnant! Anständigkeit schützt vor Belohnung nicht.«
Ferdinand war aufgestanden und lehnte, der Berührung nicht achtend, an der nassen Mauer des schmutzigen Lochs. Aus entsetzensleeren Augen stierte er seinen Untergebenen an:
»Mein Gott! Mein Gott!«
Hafenrichter zog einen gezierten Mund:
»Ich hab zwar nur das Untergymnasium besucht, Herr Leutnant, aber ich kenne dafür das Leben und die Menschen. Im Frieden war ich Personalchef einer sehr großen Textilfabrik bei Reichenberg. Ich kann nur sagen, was jetzt hier bei uns geschieht, ist ein hirnverbranntes Verbrechen. Da ist immer die Rede vom neuen Kurs, von der kommenden Amnestie, vom baldigen Frieden und von anderen schönen Dingen, die in der Zeitung stehn. Die großen Herren beim Militär aber machen, was sie wollen. Diese Bluturteile ohne Kriegsgericht, die ein Herr Hauptmann Steidler einfach in die Schreibmaschine diktiert, sind eine Schmach, die wir alle büßen werden. Ich bin ein guter Patriot, hab meinen Posten verloren und steh seit vierzehn im Feld. Herr Leutnant werden mich sicher nicht verraten ...«
Es kam wie ein leiser Schrei:
»Etwas muß ich doch tun, Hafenrichter!«
Der Feldwebel erwog bei sich: Er schaut wirklich so aus, als könnte er sich marod melden. Aber dann hab ich die Scherereien. Guten Appetit! Und laut mahnte er:
»Herr Leutnant dürfen nicht die Legitimationskapseln vergessen.«
»Die Legitimationskapseln«, wiederholte Ferdinand aufatmend, als gäbe ihm dieses Wort seine Haltung zurück. Er zog den Riemen des Überschwungs fester und nahm die Handschuhe vom Tisch. Dann befahl er:
»Geben Sie mir eine Charge mit, Hafenrichter!«
Der Feldwebel schrie einen Zugsführer heran und schickte ihn dem Leutnant nach, der sich zum Divisionsarrest verfügte.
Es war keineswegs ein finsterer Kerker oder Kotter, den der Profos aufschloß, sondern ein weißgetünchtes Amtszimmer des ehemaligen Kreisgerichts, durch dessen große Fenster staubige Sonnenstrahlen schwirrten. Ein orgelartiger Klang schwoll dem Eintretenden entgegen. Armeekorps von Fliegen in voller Kriegsstärke durchsurrten den Raum und verursachten neben ihrem gehaltenen Baßton auch noch das Geräusch von aufzischendem Wasser, das sich über eine glühende Herdplatte ergießt. (Das erbarmungslose Fliegengeschlecht des Ostens bildet eine der verhaßtesten Kriegserinnerungen Ferdinands.) In die Mitte des Zimmers waren drei Pritschen gerückt. Auf ihnen lagen die Verurteilten. Der Mittlere erhob sich sofort vorschriftsmäßig, riß seine Gestalt zusammen, nahm Habtachtstellung und rief mit heller dienstbeflissener Stimme:
»Herr Leutnant, meld gehorsamst drei Arrestanten!«
Der zweite setzte sich langsam und unwillig auf, während der letzte, ohne den Fremden zu bemerken, sich stöhnend und ächzend auf der Pritsche herumwarf.
Der Mittlere, der solch eine stramme Meldung geleistet hatte, war ein semmelblonder Bauernjunge mit spitzem Näschen, knallroten Backen und einer putzigen Gestalt, die einem Jahrmarktsspielzeug glich.
»Das ist der Teinfalt«, stellte ihn der Profos vor und zwinkerte zu Ferdinand hin: »Er ist der beste von ihnen.«
Teinfalt trat sogleich auf den Leutnant zu, schlug die Hacken übereifrig zusammen und blinzelte vertraulich, als könne wegen eines kleinen störenden Vorfalles zwischen ihm und dem Offizier nicht das geringste Mißverständnis entstehen. Er plapperte unaufhaltsam im gleichen Ton und trennte seine Sätze nicht durch Senken der Stimme, sondern durch ein kurzes besserwissendes Kichern, das an Stelle von Punkt und Komma trat. Er schien mit einem immer sprungbereiten Lachen kaum fertig werden zu können und brachte damit zum Ausdruck, daß er auch einen grausamen Spaß verstehe und gutmütig durchschaue, ohne ihn übelzunehmen:
»Herr Leutnant, bitt gehorsamst, das ist doch nicht möglich, das ist doch einfach nicht wahr, was uns der Herr Auditor wegen morgen vorgelesen hat. Ich sag es den Burschen hier die ganze Zeit. Das ist euch nur so eine Drohung wegen der Disziplin, mein ich. Wie kommen wir Unschuldige denn dazu? Befehl ist Befehl, und deshalb haben die Herren das veranstaltet. Aber so dumm werden wir doch nicht sein, zu glauben, daß man uns mir nichts, dir nichts morgen ... haha, hehe ... ›Schaut's‹, sag ich ihnen, ›wenn man bei uns zu Haus einen Dieb fängt, der nur eine saure Gurke beim Greisler gestohlen hat, wird er von den Gendarmen beim Bezirksgericht abgeliefert. Dort machen sie ein genaues Protokoll, dann kommt er vor den Untersuchungsrichter, der ein ganzes Buch mit ihm aufnimmt, damit er in Ordnung vors Strafgericht in der Stadt kommen kann. Das muß alles seinen Weg gehn. Was aber war denn das für eine Ordnung bei uns?‹ Das hab ich ihnen gesagt. Man kann doch nicht gleich ... haha, hehe ... Nicht wahr, Herr Leutnant, es muß doch ein Verhör geben, es muß doch etwas geschrieben werden? Das geht doch nicht, daß der Herr Auditor nur so daherkommt, uns anschaut, und wenn man was sagen will, mit der Hand winkt: ›Laßt das, Jungens, und erzählt mir nichts!‹ Nicht einmal einen Bleistift hat er bei sich gehabt. Wenn man aber ein neues Paar Stiefel braucht, werden zwanzig Eingaben gemacht. Hab ich recht? Seht ihr's, der Herr Leutnant glaubt auch nicht dran. Wie kommen wir dazu? Warum nur? Wir haben ja nichts angestellt. Ich, bitt gehorsamst, habe noch nie eine Strafe gehabt: Kein Anbinden, nicht einmal Menageentzug! Und weil die anderen zu den Russen gelaufen sind? Wir sind ja nicht gelaufen. Sagt uns der Herr Auditor, ihr habt von der Verabredung wissen müssen, und eure Pflicht war es, alles anzuzeigen. Weil ihr das nicht getan habt, schon seid ihr Hochverräter und habt Seiner Majestät, dem Kaiser, euren Soldatenschwur gebrochen. Herr Leutnant, bitt gehorsamst, hat das einen Sinn? Wer weiß von einer Verabredung? Ich weiß von keiner Verabredung! Und selbst dann, wenn sich die andern verabredet hätten, kann ein Kamerad das anzeigen? Sie würden ihn ja gleich erschlagen. Herr Leutnant, das Ganze ist doch so dumm und kindisch ... hehe, haha ... Und da kommt der Herr Auditor und liest uns sowas vor, wo man in diesem Krieg da schon genug ausgestanden hat. Aber es ist ja nur wegen der Angst, sag ich euch. Und der Herr Leutnant weiß es ganz genau und darf es nicht eingestehen. Wie käme denn mein Alter dazu? Er ist Müller in Přestitz und Gemeinderat. Mit den hohen Behörden ist er auch bekannt. Man wird ihm das doch nicht antun ... heha ... Aber, das ist alles nur wegen der Angst, mein ich. Todesurteile muß alle der Kaiser unterschreiben. Das weiß doch jedes alte Weib bei uns. Und der junge Kaiser ist ein braver Herr ...«
Jetzt unterbrach der auf der Pritsche sitzende Mann den absatzlosen Redeschwall:
»Schwätz nicht so viel und schäm dich!«
Franz Pacak, so hieß er, war gewiß kein Bauern- und Besitzerssohn wie der putzige Teinfalt, sondern offenbar ein junger Arbeiter aus der Stadt. Das eingefallene, überanstrengte und jetzt von bitterem Nachdenken verdüsterte Gesicht sprach dafür. Ohne Zweifel, diese Stirn mit dem scharfen Einschnitt über der Nasenwurzel gehörte einem slawischen Fanatiker an, der zu seinem Unglück in einem ganz anderen Verhältnis stand als Teinfalt. Da nun dessen Stimme wieder einen weinerlichen Zipfel vorstreckte, fuhr Pacak wütend auf:
»Kusch! Was kommen wird, wird kommen!«
»Sag das nicht, Franta«, schmeichelte Teinfalt, »du siehst doch, der Herr Leutnant ist ein sehr guter Mensch. Der hat ein goldenes Herz, Franta, mein ich.«
Pacak wandte sich mit Widerwillen ab:
»Du Schwachkopf! Hör endlich auf mit dem Gewimmer! Was ist denn schon ein Leutnant? Grad so ein Dreck wie du! Er ist selber froh, wenn ihn die Herren leben lassen ...«
Ferdinand hörte zum erstenmal seine Stimme in diesem Raum:
»Ich muß Ihnen die Legitimationskapseln abfordern!«
Dieses Wort schleuderte den heiteren Teinfalt auf seine Pritsche, als wäre damit erst der buntbemalte Vorhang von dem Grauenbild der Wahrheit weggerissen worden. Er sperrte den Mund auf und ließ ein leises Winseln vernehmen, in dem unfaßliches Erstaunen lag. Pacak aber zog gemächlich die Legitimationskapsel hervor und reichte sie Ferdinand.
»Da drinnen ist die Adresse meiner Mutter. Wenn Sie ein anständiger Mensch sind, verlang ich von Ihnen, daß ihr die Wahrheit geschrieben wird und nicht am End zur Volksberuhigung, daß ich den Heldentod vor dem Feinde gestorben bin, wie den Herren das vielleicht tempieren ...«
Ferdinand trat zur dritten Pritsche. Der Mann, der sich keuchend auf ihr herumwälzte, machte einen völlig vertierten Eindruck. Teinfalt trug kaum noch einen hellen Bartflaum auf den Wangen, Pacak schien mit peinlicher Sorgfalt scharf ausrasiert zu sein, Schwec aber war bis über die Backenknochen von dichten drahtigen Borsten überwachsen. Hände und Haut zeigten noch dicke Krusten von Grabenschmutz. Dieser Mensch sah aus, als sei er nicht von Rum, sondern vom Tode betrunken. Speichel rann ihm aus dem Mund. Er rülpste und knurrte ohne Scham.
Ferdinand nahm seine Kraft zusammen:
»Die Legitimationskapsel!«
Der Mann richtete sich halb empor und sah den Leutnant mit seinen Gallert-Augen an, die aus fürchterlichen Träumen langsam zurückkehrten. Als er die Offizierskleidung erkannte, kniff er die Lider zusammen, blies beide Backen auf, die sich krebsrot färbten, und krächzte inbrünstig:
»Leck mich ...«
Der Profos hob die Hand, um ihn zu züchtigen. Aber Ferdinand riß diese Hand herab. Endlich übergab ihm der Zugsführer auch die dritte Legitimationskapsel, und er durfte gehen.
Auf der Straße vermeinte er, irgendeine Macht habe ihm den ganzen Körper abgebunden, wie ein Arzt ein Glied abbindet und es damit blut- und gefühllos macht. Ferdinand war sich selber gefühllos geworden, dermaßen, daß seine Sohlen kaum die Erdberührung spürten. Josef fragte, ob der Herr Leutnant zu Mittag in die Offiziersmesse gehen werde oder ob er ihm das Essen nach Hause bringen solle. Er wolle zu Hause speisen, entschied Ferdinand. Und wirklich, er aß die Portion schnell und säuberlich auf, so daß ihn mancher um seinen Appetit beneidet hätte. Dabei aber starrte er mit blinden Augen in die Luft. Während der Mahlzeit kam, von Mitleid getrieben, Feldwebel Hafenrichter:
»Herr Leutnant brauchen sich um gar nichts zu kümmern. Es wird von selbst gehen. Ich hab alle Vorbereitungen getroffen, daß der Herr Leutnant morgen früh nur mitmarschieren müssen.«
Nach Tisch warf sich Ferdinand, was er sonst nie tat, aufs Bett und schlief sogleich ein. In der vielfältigen Welt dieses Schlafes taten sich seinem Bewußtsein grelle Durchblicke auf. Er hatte die Vorstellung, daß Franz Pacak, der fanatisch tapfere Gefangene, gar nicht Franz Pacak sei, sondern Franta, Barbaras Neffe und sein eigener Kindheitsfreund. Doch nicht genug damit! Auch Franta war nicht eigentlich Franta und Barbaras Neffe, sondern Barbaras Sohn, jenes kleine Wesen, das ihr in grauer Vorzeit gestorben war, so daß dieser Franz Pacak zum Kinde Barbaras wurde, das sich hinter dem Rücken der Welt zu der schwermütigen Gestalt des Verurteilten entwickelt hatte. Mit dieser schwierigen und geheimnisvollen Verwandlung konnte Ferdinands Geist nicht fertig werden. Endlich schlug der Schläfer die Augen auf. Es war Nacht. Mit einem kurzen Schreckensschrei sprang er vom Bett. Neun Uhr! O Gott, wie hatte er nur schlafen können! Er fuhr mit dem Kopf in einen Eimer kalten Wassers. Acht Stunden noch, dachte er, und, jetzt nur wach sein! Was er tun werde, wußte er nicht. Er rannte in die Nacht hinaus.