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Geheimnis? Nein! Ferdinand verbirgt nichts Derartiges, wenigstens kein spannendes oder absonderliches Geheimnis. Es ist wohl wahr, daß er nicht nur von Sonin, sondern auch von mehreren Kollegen und zweimal sogar vom Kapitän dabei beobachtet wurde, wie er in völliger Geistesabwesenheit, ohne den Anruf zu bemerken, einen Punkt anstarrte. Ein und der andere äußerte daraufhin die Meinung, daß es im Kopfe des Doktors nicht ganz richtig zugehe. Aber diese Ansicht verlor sich schnell, denn man kann Ferdinand beim besten Willen nicht einmal für einen Träumer halten. Seinen Dienst übt er pünktlich aus. Weder zerstreut noch nervös, zeigt er dabei einen Zug von gleichmütiger Pedanterie, der Vertrauen erweckt. Er ist zuvorkommend und hilfsfreudig, weshalb er sich immer wieder Sympathie erwirbt, die jedoch selten jenen Punkt überschreitet, den seine stille und entfernte Art bedingt. Niemand aber bis auf Sonin zerbricht sich über den Schiffsarzt den Kopf oder wittert gar ein Geheimnis hinter ihm.
Wenn man nun will, hat Ferdinand wirklich ein Geheimnis, und zwar das einer ganz seltenen und mächtigen Erinnerungskraft. Es gibt sehr wenig Menschen, in denen ein ähnlich umfänglicher und farbenprächtiger Bilderschatz lebt, der bis in die tiefste Kindheit hinabreicht. Die Seelentätigkeit des Vergessens und Einschmelzens scheint in dieser Natur merkwürdig vermindert zu sein. Wo bei anderen Menschen über der dumpf-verlorenen Begleitung des Gewesenen die scharfe Melodie des Augenblicks hinschwingt, herrscht bei Ferdinand eine erstaunliche, eine kaum erträgliche Gleichzeitigkeit. Es ist so, als sei ihm das Lebenselement des Dunkels zum größten Teil entzogen, jene Fülle des täglichen Todes, die wir zum Dasein nicht minder brauchen als unsere Ration an Wasser und Kohlenhydraten. Dies ist natürlich kein währender Zustand. Ferdinand erleidet stärkere oder schwächere Anfälle von Erinnerung. Dann geschieht es eben, daß er regungslos stehen bleibt, irgendwohin starrt und seinen eigenen Namen überhört. Wie einen hingebungsvollen Zuschauer ein Bühnenvorgang, so hat ihn das Drama der toten Bilder und Gestalten eingefangen, die in ihm selber, von seinem Willen unabhängig, auferstehen. Bemerkenswert bleibt es, daß all diese auffälligen Bilder und Gestalten dem Lebensinhalt angehören, den er vor seinem dreißigsten Jahre gesammelt hat. Wer den Schiffsarzt während solcher Anfälle erblickt, dem kann man es nicht übelnehmen, daß er die leisen Zweifel an Ferdinands Vollsinnigkeit nicht von sich weist.
Vielleicht ist jedes innerliche, jedes erinnerliche Leben Krankheit. Es kann der Sinn des hinjagenden Augenblickes nicht sein, daß man, seine Wirklichkeit nicht kostend, hinter starren Pupillen vor sich hingespenstert.
Wir gehen über die Straße: Männer, Frauen, Bahnen, Wagen, Läden, Szenen, Fahnen, Stimmen! Aber da gibt es solche Menschen, die gar nichts von dem leidenschaftlichen Knäuel der unenträtselbaren Vielheit bemerken, darein sie verwickelt sind. Sie sind nicht allein tagblind, sondern tragen überflüssigerweise ihre eigenen Straßen, ihre eigenen Männer, Frauen, Bahnen, Wagen, Läden, Szenen, Fahnen, Stimmen in sich. Wozu dieser Kontrapunkt innerer Bilder und Gesichte, der nichts Neues bringt und den frischen Marsch der Minute nur verwirrt? Wenn aus diesem Mosaik Kunst entsteht, gut! Aber Ferdinand ist alles eher als ein Künstler. Er erinnert sich nur viel mehr als andere Menschen an Tatsachen, an ganz ferne, oft kleinliche, meist unwichtige Tatsachen, die für ihn plötzlich die grelle Farbe künstlich beleuchteten Lebens annehmen. Vielleicht ist, wie gesagt, diese besondere Schärfe des Gedächtnisses, der Lebenswiederherstellung eine Krankheit! Vielleicht ist sie nur eine gesteigerte Abart egozentrischer Veranlagung. Jedenfalls aber wird sie durch das seemännisch-müßige Leben eines Schiffsarztes begünstigt, durch die Einförmigkeit des Meeres und einer Genießer-Menschheit auf Bord.
Die Erinnerung der meisten Leute reicht kaum bis zum fünften Lebensjahr zurück. Es scheint, als ob der Todesschlaf, der unserer Geburt vorangeht, sich nur schwer und widerwillig von den Lidern der Erwachenden lösen wollte. Von unserm Morgentraum wissen wir am wenigsten, obgleich man annehmen müßte, daß grade das erste Eindringen von Licht, Form, Farbe, Welt unsere Seele so gewaltig zusammengerüttelt habe, daß alles Spätere eher abstumpfbar und vergessenswürdig sei.
Ferdinand trägt nun wahrhaftig Bilder in sich, die noch aus seinem frühesten Leben stammen. Und diese Bilder sind von wunderbar sanften Gefühlen begleitet, gleich den Lebensresten einer jenseitigen Vorwelt, auf denen noch der Tau engelhafter Sphären schimmert. Er spürt sich zum Beispiel ganz deutlich in einem weißen Kinderwagen wohlgebettet liegen und durch die Hauptallee eines öffentlichen Gartens gefahren werden. Eine eigenartige, höchst beglückende Lage ist dies, ein welteinverstandenes Ruhen, wie es sich im künftigen Leben niemals mehr wiederholen wird, denn kein Glied lehnt sich gegen die wohlige Lähmung auf, die den ganzen Körper mit willenloser Süßigkeit erfüllt. Ebensowenig macht eine Pflanze die ehrgeizige Anstrengung, sich von der Wurzel loszureißen. Leise-schwebend vollzieht sich die Bewegung der Fahrt, und das Gesicht bleibt regungslos dem Himmel zugewendet. Der Himmel aber ist ein ungeduldiger, ein überstürzter Wolkenzug, ein Strom im Eisgang, der von den schwankenden Platanenwipfeln der Allee wie von einem buschigen Ufer eingefaßt wird. Manchmal verschwindet der Himmel, denn Barbaras großes Gesicht schiebt sich vor und beugt sich über Ferdinand. Und nicht nur ihr Gesicht, auch der feine Geruch von Weichselholz, der von ihrem Scheitel ausgeht, kommt ihm nahe. Den Kragen ihrer Bluse verschließt eine große dunkle Brosche, in deren Mitte eine winzige Elfenbeinschnitzerei glänzt. Der kleine Ferdinand möchte darnach greifen ...
Oder Papa – Oberst und Kommandant des k. u. k. Infanterieregimentes Nr. 73 – trägt ihn die Treppen der Kaserne empor. Auch diese schwebende, hingegebene Bewegung wird sich nie wieder ereignen. Es sind breite, niedrige Treppen, die Papa langsam und heiter hinaufsteigt; vorzeiten war die Kaserne ein glänzender Palast. Die Fensteröffnungen in den meterdicken Mauern gleichen Schießscharten. Die Sonne wirft schwarze Kreuze an die Wand. Ein unermüdliches Getrampel und Gescharre herrscht auf Gängen und Stiegen. Soldaten, blecherne Schalen in der Hand, eilen auf und ab. Sobald sie aber Papa und ihn erblicken, faßt sie irgendein Entsetzen an, sie erstarren zu flachen Bildern, sie kleben sich selbst an die Mauer. Ferdinand fühlt sich in den Armen, die ihn so liebreich tragen, ausgezeichnet und über die niedere Menschheit emporgehoben wie ein Königskind. Betritt er an Barbaras Hand die Kaserne, um Papa abzuholen, so erwecken in ihm die Soldaten eine ehrfürchtig-sehnsüchtige Scheu. Jetzt aber wendet er sich stolz von ihnen ab. Sein Blick liegt auf Papas blauem Waffenrock, er läuft bewundernd die blanken Knöpfe empor, er vertieft sich in den Uniformkragen, auf dessen breiter schöngestickter Goldborte rechts und links je drei silberne Sterne prangen. Von einem der Sterne hat sich ein Seidenfaden gelöst und hängt herab. (Solange Ferdinand leben wird, so lange wird auch dieser Seidenfaden herabhängen.) Der Faden stört Ferdinand wie eine heimtückische Unordnung. Er traut sich aber nicht, die Hand auszustrecken. Papas Wangen und sein Kinn sind unnachsichtig rasiert. Sie glänzen braunrot, von Wind und Wetter, Ritt und muttrunkener Anständigkeit aufgerauht. Der weiche Schnurrbart hängt voll über die Oberlippe. Die Nase, von Ferdinand aus gesehen, ist groß und gebogen wie ein Bergland, voll von Rissen, Gruben, Unebenheiten. Auch die Brauen sind zwei volle Schnurrbärte unter der Stirn, die man aber nur selten zu sehen bekommt, weil sie zumeist der glänzende Schild der schwarzen Kappe verdeckt. Wird die Kappe aber gelüftet, so läßt sie auf der Stirne eine breitumlaufende rote Narbe zurück.
Mit Papas Augen ist es eine heikle Sache. So klein Ferdinand ist, vermeidet er es, in diese Augen zu schauen, weil sie weh tun. Echte Schützenaugen, nehmen sie das Ziel höher, sie sehen es mit unentfliehbarer Schärfe an, ohne es anzusehen, dann aber lösen sie ihren Blick selbst in einen weichen liebenswürdigen Spott auf. Ferdinand täuscht sich nicht. Dies war Papas Gesicht, von dem er leider kein anderes Bild besitzt als diese unverwischbare Photographie, die er im Hirn trägt. Oft denkt er darüber nach, warum der Vater so »bildlos« gestorben sei und ihm nicht einmal eine Gruppenaufnahme hinterlassen habe, wie sie gewiß von ihm in Gemeinschaft mit seinen Offizieren mehrfach hergestellt worden war. Nach gerechten Erwägungen aber findet der Sohn diese Bildlosigkeit für den Charakter des Obersten außerordentlich bezeichnend.