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Vierzehntes Kapitel.
Räuber Janetschek, die Schlange und der Fluß

Der nächste Tag war einer der ereignisvollsten in Ferdinands Kindheit, obgleich nichts Wichtiges oder Folgenreiches an diesem Tage geschah und seine Stunden recht undramatisch verliefen. Dennoch haftet er mit all seinen unwesentlichen Einzelheiten klarer in des Mannes Gedächtnis als etwa die verhängnisvolle Nacht des Kaisergeburtsfestes und der schreckliche Augenblick, da er seinen Vater im Marodenzimmer der Kaserne sterben sah.

Franta vor allem! Franta war Barbaras Neffe, der Sohn ihres Bruders, des Bergmannes, der auf dem kleinen elternererbten Anwesen lebte. Dieser Junge zählte um zwei oder drei Jahre mehr als Ferdinand. Aber an Gestalt und Kräften überragte er ihn um das doppelte Altersmaß. Dies allein war schon Grund genug für Ferdinands hingebungsvolle Bewunderung. Dazu kam der Unterschied der Gewandung. Ferdinand trug einen dunkelblauen Matrosenanzug mit blauweißgestreiftem Reverskragen, der in weitem Ausschnitt ein hellgelbes Plastron umsäumte, in dessen Mitte ein Anker eingestickt war. Unterhalb des Kragens hing ein nachlässig geschlungener schwarzseidener Schifferknoten hinab. Die Hosen verbreiterten sich in modischer Weise nach unten, was Ferdinand nicht leiden konnte. In dem schicken Zuschnitt dieses Anzugs kamen die letzten Reste von Mamas Walten zur Geltung. Es gehörte zu den Eigenheiten des Knaben, daß er schon als kleines Kind Widerstand gegen elegante Kleidungsformen zeigte. In einem Kinderkonfektionsgeschäft kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen ihm und Mama. Er weinte grimmige Tränen über das hübsche Modegewand, das sie für ihn ausgesucht hatte. Dieser Widerstand entstammte nicht allein der tiefliegenden Abneigung gegen alles Gezierte, sondern auch einer schamhaften Angst, sich durch eine weichliche Auffälligkeit von anderen Jungen abzuheben. Noch heute trägt der Schiffsarzt nur seine bescheidene Marineuniform oder einen blauen Anzug. Farbenfreudige Krawatten verschmäht er; sie würden ihm ein unbehaglich verlegenes Gefühl bereiten. Mama verstand damals natürlich nichts von dieser Scham und ärgerte sich über seine Ungezogenheit, die sich boshaft gegen etwas Schönes und Elegantes wehrte.

Franta gegenüber artete dies geradezu in Kleinmut aus. Der Bauernbub trug halblange Hosen, einen groben Janker und eine verwegene Mütze. Überdies ging er barfuß. Das feingekleidete Stadtkind erkannte zu seiner Trauer, daß es niemals mit Frantas ländlich-praktischer Kraft den Wettkampf werde bestehen können. Franta aber war ein gutmütiger Bursche, der sich des seltsamen Besuches freute und Ferdinand seine Überlegenheit nur in der milden Form freundlicher Ironie zu verstehen gab. In seiner Seele begab sich wohl das Umgekehrte. Die gewählte Kleidung des vornehmen Herrensohnes flößte ihm Respekt ein. Da durch diese Umstände gegenseitige Achtung entstand, war am frühen Morgen schon die Freundschaft geschlossen.

Sie zogen aus. In Franta brannte der Eifer des Lokalpatrioten, der einem Fremden die Schätze seiner Heimat zeigen will. In Ferdinand aber lebte der glückselige Schauder eines Weltfahrers, dem unbetretene Erd-Geheimnisse sich öffnen. Franta hielt sich nicht lange damit auf, seinen Gast auf dem väterlichen Hof herumzuführen. Er dachte sich, daß dem Sohn eines Obersten der kleine Kuhstall, der Ziegenkotter und die Scheune mit der Grummetmahd nicht sonderlich imponieren werde.

»Mein Alter«, sagte er entschuldigend und in der erwachsenen Ausdrucksweise aller Proletenkinder, »der ist gar kein Bauer. Die Mutter macht hier die Wirtschaft ganz allein.«

Eine wegwerfende Handbewegung deutete an, daß man Wichtigeres zu tun habe und nicht gezwungen sei, nur von der Bäuerei zu leben.

Hernieder glühte einer von jenen gewaltigen Sommertagen, die den Kessel der Natur zum Übersieden bringen. Die kraftgeladenen Strahlen zerrten an der Erde, als wollten sie bis zur Stunde der Scheitelhöhe jeden Brocken des toten Stoffes in organisches Leben verwandeln. Bei einem abgelegenen Tümpel in der Nähe der Ortschaft machten die Knaben halt. Es gehörte zu den Gewohnheiten Frantas – fast glich es einer Zeremonie –, daß er stets diese Lache zum Ausgangspunkt seiner Streifzüge machte. Er warf sich am Rande nieder und beugte das Gesicht über die schlammig-grüne Wasserfläche, die er mit gerunzelter Kennermiene betrachtete. Ferdinand hatte einige Besorgnisse zu überwinden, ehe er sich an Frantas Seite zur Erde gleiten ließ. Die zweischneidige Verlegenheit zuerst, entweder blöde abseits zu stehen, oder es diesem Beherrscher und Meister des Erdbodens ungeschickt-aufdringlich gleichzutun; schließlich auch die Angst, den feinen Matrosenanzug zu beschmutzen. Nach kurzem Zögern aber lag auch er bäuchlings auf dem Boden und starrte ins Wasser. Ein Schleier von Gelsen überspielte mit giftigem Summen den kleinen Spiegel. Fette Zöpfe von Sumpfgras schwammen obenauf und ein paar dunkelgrüne großmäulige Wasserblumen. »Hundert Frösche«, erklärte Franta, und Ferdinand sah, wie die erregten Scharen der kleinen Amphibien von einem Sprungstand aus sich ins Wasser stürzten, sportlich sinnlos, menschlichen Schwimmern ähnlich, die einen Wettkampf ausfechten, aber mit einer spreizbeinigen, fast unanständigen Geste. Nach einer Weile sprang Franta auf, meldete: »Würmer«, und stieß mit dem Fuß einen größeren Stein beiseite. Ferdinand konnte sich wirklich von dem widerlichen Gewurle überzeugen, das unter dem Stein sein Unwesen trieb. Aber schon hatte Franta an einer anderen Stelle einen Aufwurf trockenen Heus weggescharrt, ein Brett gelüftet und einen hölzernen Gegenstand aus der Grube gezogen. »Schiff«, sagte er, indem er den Gegenstand, der diese Bezeichnung nicht verdiente, Ferdinand unter die Nase hielt. Er sprach mit dem Gaste nur in kurz hingeknallten Hauptwörtern, so wie man mit Säuglingen, mit Schwerhörigen oder mit Wilden spricht. Offenbar glaubte er, sich auf solche Art diesem fremdartigen Wesen, das seine Tante ins Haus gebracht hatte, leichter verständlich machen zu können. Ferdinand erzählte daraufhin der Wahrheit gemäß, daß er zu Hause ein wirkliches Schiff besitze, einen Raddampfer namens Bohemia, der ganz gut in der Badewanne schwimmen könne. Franta aber, der für das Besitztum anderer Leute wenig Vorstellungskraft und kein Interesse hatte, versenkte sich mit gerunzelter Aufmerksamkeit in die Betrachtung seines eigenen Schiffes. Er warf einen Blick auf den Tümpel und schloß wiederum in knappen Hauptworten seine Meinung ab: »Kein Regen! Schlechter Wasserstand!« Dies bedeutete, daß er entschlossen war, seine Barke heute nicht schwimmen zu lassen. Er brachte sie sorgsam wieder an Ort und Stelle. Ohne weitere Erklärung pfiff er jetzt und schnalzte mit dem Finger. Ferdinand verstand sogleich, daß es ein Aufbruchszeichen sei.

Der Weg, den nun Franta vorantrabte, führte im Zickzack über Feldraine, über Viehweiden, an Hafelgestrüpp vorbei in den Buchenwald. Wie alle Knaben liefen sie nicht geradeaus, sondern immer ein wenig seitab ihres Weges, wobei sie gebahnte Pfade möglichst vermieden, wie es die schweifende ordnungswidrige Natur verlangt, die in Kindern steckt. Nur einmal, als Ferdinand eine ganze Strecke lang durchs Getreide stapfte, erwachte in Franta der Bauernjunge, und er zog den Städter am Arme aus der reifen Frucht. Mitten im Lauf ergab sich für Ferdinand eine peinliche Schwierigkeit, denn ein Zaun mußte überklettert werden. Mit einem Schwung war Franta hinüber. Ferdinand mühte sich verzweifelt und schmachbeladen ab. Der andere verschränkte in pädagogischer Unerbittlichkeit die Arme und gab dem Zappelnden Anleitungen, wohin er die Füße setzen müsse, um das Hindernis zu bewältigen! Endlich gelang es. Nach dieser ansehnlichen Leistung fühlte sich Ferdinand hochbefriedigt und das erstemal seinem neuen Freunde gegenüber ganz frei.

Im Buchenwald – es war eigentlich ein gemischter Wald, teils Laub-, teils Nadelholz – wies Franta auf eine ziemlich geräumige Grube: »Räuberhöhle«, erklärte er mit seiner stoßweisen Einsilbigkeit. Räuber, dieses Wort war ein wichtiger Bestandteil jener Erzählungen, die Ferdinand aus Barbaras Munde kannte. Ehrfurchtsvoll fragte er:

»Da wohnen Räuber drin? Und was für Räuber?«

Franta meldete dumpf: »Janetschek!«

Ferdinand konnte Furcht kaum bezwingen:

»Janetschek? Ist das ein großer Räuber?«

»Der größte, den wir bei uns haben ...«

»Und lebt er noch?«

»Ja, er wird vielleicht noch leben ...«

»Und wohnt er dort unten?«

»Vielleicht wohnt er dort ... Aber nur in der Nacht.«

Dieses »Vielleicht« und die unsichere Wortfolge von Frantas Bericht, der Hinweis darauf, daß die Höhle nur zur nächtlichen Behausung des Räubers Janetschek diene, gaben Ferdinand allen Mut zurück. Zugleich aber mit dem Mut stellte sich eine warme Sympathieregung für Janetschek ein, die dadurch nicht vermindert wurde, daß sich auf dem Boden der Grube zwei rostige Töpfe, verkohltes Holz und andere Überbleibsel menschlichen Wohnens zeigten. Dies waren gewiß die Spuren des verfolgten Helden. Ein leidenschaftlicher Einfall wandelte Ferdinand an:

»Wir müssen Steine hertragen und um die Höhle eine Mauer bauen ...«

Jetzt war es an dem verständigen Franta, zu staunen:

»Wozu das?«

»Damit er sich besser verstecken kann, der Janetschek.«

Und schon begann Ferdinand mit seinen ärmlichen Kräften einen Stein herzuwälzen. Franta, der sich mit diesem Unsinn nicht anfreunden konnte und der zu dem kleinen Buben doch nur ein väterlich-herablassendes Verhältnis unterhielt, machte sich dennoch auch an die Arbeit. Die Leidenschaft in Ferdinands Wesen und die Phantastik seines Planes wirkten als Autorität. Franta hatte schon ein paar Steine zugetragen, als er innehielt:

»Was soll es denn werden?«

»Ein Fort. Weißt du, was ein Fort ist?«

»Nein! Wie kann ich das wissen?«

»Sie haben das beim Militär ...«

»Woher weißt du es?«

»Von meinem Papa.«

»Aber dieser ... dein Papa ... ist doch schon tot?«

»Ja, er ist tot.«

»Und er ist etwas sehr Hohes gewesen, was?«

Ferdinand dachte an die Salve bei Papas Begräbnis und verkündete, jedes Wort betonend:

»Kaiserlich und Königlicher Oberst, Kommandant des Infanterieregiments Numero dreiundsiebzig.«

Franta erschauerte:

»Oberst! Das kommt gleich nach dem Kaiser, was?«

»Ja, da kommt nur noch der General vorher.«

»Aber ein Feldwebel, der ist auch etwas, nicht?«

Ferdinand zog ein verächtliches Gesicht:

»Feldwebel? Weißt du denn nicht, daß der nur Mannschaftsperson ist?«

Franta zeigte sich durch diese Antwort beleidigt. Er wisse sehr gut, daß der Feldwebel, den sie vor zwei Jahren als Einquartierung im Hause hatten, ein großes Tier sei. Ferdinand, der den militärischen Schematismus mit der Muttermilch eingesogen hatte, erklärte dem Bauernjungen, daß so ein Feldwebel weniger sei als ein Fähnrich, durch welche von oben herab erteilte Belehrung Franta sich immer gedemütigter fühlte. Dieses Gespräch bewirkte, daß nicht nur der Räuber Janetschek samt seiner Höhle in Vergessenheit geriet, sondern auch Franta sich nunmehr achtungsvoll regelrechter Sätze anstatt kahler Hauptwörter befleißigte:

»Wollen wir baden gehn?« fragte er höflich.

Auf dem Weg zum Fluß mußten die beiden ein Abenteuer bestehen. Franta hatte sich im Walde einen großen Stock abgeschnitten. Nun, da sie über eine Geröllhalde liefen, hieb er immerzu im Takt gegen die Steinhaufen. Dadurch geschah es, daß er unversehens eine Kreuzotter aus ihrem Schlafe schreckte. Das gereizte Tier stellte wütend seinen Kopf auf. Ferdinand schrie und konnte sich nicht vom Fleck rühren. Bisher hatte er Schlangen nur auf Bildern gesehen, aber dieser Anblick schon war ausreichend gewesen, Grauen und Ekel vor diesen höllischen Kreaturen in ihm wachzurufen, der durch Barbaras Abscheu vor ihnen noch gesteigert wurde. Nun zeigte sich, was er mehr für märchenhafte Ausgeburt denn für Wirklichkeit gehalten, als lebendige Gefahr. Nicht nur Furcht bannte ihn an seinen Ort, sondern die häßliche Zauberinnengewalt dazu, die er in dem Geringel des Schlangenleibes spürte. Franta war zurückgesprungen. Doch sogleich raffte er seine Courage zusammen; eine glänzende Gelegenheit bot sich, vor dem Sohn eines Obersten seine wilde Unerschrockenheit zu beweisen. Er zielte und ließ dann den Stock auf die Schlange niedersausen. Ein Held! Mit dem ersten Hiebe schon hatte er den Unhold betäubt. Jetzt aber setzte ein wütendes Gemetzel ein. Franta ruhte nicht früher, bis er das dreieckige Köpfchen mit einem großen Stein plattgequetscht hatte. Ferdinand wandte sich ab. Er glaubte, ihm müsse übel werden. Der Held arbeitete sachlich. Während ihm der Siegerstolz das Blut erhitzte, sagte er wegwerfend, um sich ja keine pathetische Blöße zu geben:

»Bei der Bezirkshauptmannschaft kriegt man fünf Sechser für eine tote Schlange.«

Er riß ein paar große Huflattichblätter ab, pendelte den Kadaver mit dem Stock auf diese Unterlage und häufte Steine darüber. Er zeigte damit seine Absicht, sich die fünf Sechser keineswegs entgehen zu lassen. Kaum war die Schlange verschwunden, als sich der Schreckensbann von Ferdinand löste und ihn eine dankbare Begeisterung für den Drachentöter ergriff.

Das seelische Gesellschaftsleben der Menschen besteht, wenn man aufrichtig sein will, aus einem unablässigen Kampf um Überlegenheiten, wenn auch zumeist um Überlegenheiten der lächerlichsten Art. Wie man den Luftdruck nach »Atmosphären« mißt und die elektrische Stromspannung nach »Volt«, so könnte man die seelische Spannung des menschlichen Verkehrs nach »Überlegenheitseinheiten« messen, die dem Selbstgefühl zugeführt oder entzogen werden. Die Güte eines Menschen erweist sich nirgends reiner als in der Großmut, mit welcher er den Reichtum seines Nächsten an solchen Überlegenheitseinheiten anerkennt und erträgt. Die Wagschale von Frantas Überlegenheit schnellte nach dem Schlangenabenteuer hoch empor. Ferdinand seinerseits gab sich restlos der Bewunderung hin.

Dort, wo sie ans Ufer kamen, gibt sich der Fluß ein ziemliches Ansehen. In mehrere Wasserarme zersträhnt, bildet er einige leere Sandbänke und auch ein paar kleine Inseln, die mit ihrem Urwaldanflug die Rolle geheimnisvoller Erdteile spielen, die auf den Karten mit weißen Flecken verzeichnet zu werden pflegen. Auch hier hatte heute die Energie der Sonne das Leben zum tropischen Übermaß umgefälscht. Die Uferpartie selbst war abwechselnd grasig, sandig oder lehmig. An einigen böschungsniedrigen Stellen hatte der Fluß das Land angefressen. Hier stand das dichte Schilf und Riedgras. Darunter aber, von zuckenden Libellenblitzen überzittert, brodelte es, und ein atemloses Quaken und Unken machte sich breit. Von einer der Inseln plätterte jetzt eine Kette großer Vögel ins Blau. Das gab einen kurzen scharfen Lärm, wie wenn man ein festes Stück Leinwand mitten durchreißt. Das Wasser zog langsam und schmalspurig dahin. Es war ja sozusagen ein Sekundärfluß, der nur eine mäßige Verkehrsaufgabe zu lösen hat. Immerhin beherbergte auch er seine Fischvölker, und hin und wieder durchbrachen silbrige Schemen den Spiegel, um in einer Hundertstelsekunde ihre Insektenbeute zu schnappen; viele metallgrüne Fliegen surrten dicht über der Fläche. Ferdinands Augen wurden ganz schwer von der Betrachtung all dieses unbekannten Lebens. Franta aber kümmerte sich nicht darum, sondern warf eilig die Kleider ab und schritt in den Fluß:

»Zieh dich aus«, rief er zurück, »und komm!«

Ferdinands Herz blieb stehen. Das »Erstemal« ist immer mit Furcht und Grauen verschwistert. Darum bedeutet die Kindheit das eigentliche Heldenzeitalter des Menschen, denn jede Stunde ist voll von Entdeckertaten und Forschergefahren. Ferdinand war noch nie unter freiem Himmel im Wasser gewesen. Daheim im Bade zu sitzen, das rief angenehme Gefühle hervor. Doch dieser Fluß hier wuchs in dem Augenblick, da es notwendig war, Frantas Befehl zu gehorchen, zu einem unerbittlichen Ozean. Kläglich sah er auf die Wasserfläche hinaus. Seit Mamas Flucht erschien ihm alles Gewässer (der Parkteich) so drohend und unheimlich. Was aber konnte er tun? Unmöglich, da Franta schon kühn in den Fluten plätscherte, sich hinzusetzen, zu warten oder gar, wie's ihm wirklich zu Mute war, in Tränen auszubrechen. Hatte er es von Papa gelernt, daß man solche Anwandlungen verbeißen müsse? Nein, in seinem winzigen Leben konnte er noch nichts erlernt haben, aber ererbt hatte er von seinem Vater das blutgedrillte Muß, vor einer bitteren Sache nicht auszukneifen. Was blieb ihm übrig? Er durfte nicht zurückbleiben.

Ferdinand ist weder ein tapferer Mensch noch ein Feigling. Wie bei den meisten Leuten besteht sein Mut in der Feigheit, den Mut zu seiner Feigheit zu haben. Auch jetzt wagte es der kleine Knabe nicht, sich seiner Furcht hinzugeben, sondern legte mit ungeschickten Bewegungen seine Kleider ab, da Barbaras Hand ihm fehlte. Nackt stand er da. Aber es war eine andere Nacktheit, als er sie bis nun an sich kennengelernt hatte, es war eine andere Nacktheit als die zu Hause. Ganz unbekannt kam ihm sein schwacher Körper vor, der in der Sonne wie ein fremdes Wesen aufleuchtete. Er sah sich selbst zum erstenmal im Freien. Die Bloßstellung erfüllte ihn mit heiklen Verpflichtungsgefühlen Franta, dem Fluß und der offenen Welt gegenüber.

»Komm endlich!« ertönte es mahnend. Keine Rettung! Ferdinand schloß die Augen, berührte mit den Zehen das Wasser und zuckte zurück. Franta höhnte. Da spürte Ferdinand, daß er nun ganz gewiß weinen werde. Dies aber wäre das Allerpeinlichste gewesen! Auf keinen Fall durfte der andere die Tränen sehen, die sich unter seinen Lidern sammelten, und den Mund, der sich schon verräterisch zu krausen begann. Er holte tief Atem und verzerrte sein Gesicht. Wie einer, der sich selbst aufgibt, den Atem krampfhaft festhaltend, ging er tapfer auf die Stelle zu, wo Franta stand. Mit Messerschärfe zerschnitt Zoll um Zoll das Wasser seine weiche Haut. Nun reichte es ihm an die Brust. Aber der Schreck hatte nur einige Augenblicke gedauert. Schon erfüllte eine wunderbare Wärme, eine überirdische Leichtigkeit seinen Leib. Er öffnete die Augen, von denen jetzt ungehemmt die Tränen rannen. Frantas Hände erfaßten ihn. Der Himmel wogte.

Ferdinand stieß einige plärrende, dann ein paar fröstelnde Laute aus, die von der überstandenen Angst beschattet waren, und nun brach ein kreischendes Gelächter aus seinem Herzen, das sich zu Jubelschreien steigerte. Er begann mit beiden Armen das Wasser zu peitschen, das Wasser, das er so furchtsam besiegt hatte. Franta tauchte immerzu unter. Ferdinand aber sandte seine wilden Glücksschreie in die Welt.


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