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Zwei Jahre vergingen ohne nennenswerte Reibung, ehe Steidlers Haß zu einem Schlage ausholte, der schwere Folgen nach sich ziehen sollte.
Ferdinand hatte sich sehr bald in den soldatischen Zwang der Militärschule eingelebt. So zarte Nerven er auch besitzt, er ist niemals wehleidig gewesen und wußte gar nicht, daß man sich über das Leben beklagen könne. Bei wem auch hätte er sich beklagen sollen? Ebensowenig wußte er, daß es in anderen Schulen, in den Gymnasien zum Beispiel, weit weniger hart zuging, und daß man dort freundlichere Kameraden und verständnisvollere Lehrer finden konnte als die seinigen. Ehe es ihm in ganzer Schärfe bewußt wurde, fühlte er doch schon sehr früh die unpersönliche Gleichgültigkeit des Abstraktums, das nun sein Vater war. Wenn die andern etwas anstellten, im Rang herabrückten oder bestraft wurden, galt ihre Verzweiflung weniger diesem Mißerfolg als dem häuslichen Nachspiel, das ihrer wartete. Eine der ärgsten Drohungen der Lehrer lag in der Absicht, die »Herren Eltern« von dem Unwesen eines Sprößlings in Kenntnis zu setzen. An manchem Tag teilte der oder jener Kadett beim Mittagessen blaß der Runde mit: »Heut geht mein Alter zum Alten«, wobei mit dem zweiten »Alten« der Schulkommandant gemeint war.
Ferdinand hatte nur vor diesem zweiten Alten zu zittern, und er wurde oft glücklich gepriesen, daß bei ihm eigentlich nichts »herauskommen« könne und er nicht zwischen zwei Feuern stehe. In seinem Fall war der Schulkommandant der absolute Alte, und niemand besuchte die Sprechstunde, um seine Sache zu vertreten. Der Kommandant aber, im Vollbewußtsein dieses Faktums, vermied es nicht, diesbezügliche Andeutungen fallen zu lassen, wie: »Sie hätten allen Grund, einen besonderen Fleiß zu zeigen.« Oder: »Das Ärar nimmt Sie an Kindes Statt an, nährt und kleidet Sie – aber ich mache Sie darauf aufmerksam, wir sind nicht gezwungen dazu, wir können Sie ebensogut in eine Erziehungsanstalt stecken, wo Sie ein Handwerk erlernen und später als Infanterist Ihre drei Jahre dienen werden.«
Von Zeit zu Zeit nahm sich Ferdinand solche Schicksalsmahnungen bitter zu Herzen, und dadurch gelang es ihm, einen mäßigen Mittelrang zu halten. In manchen Gegenständen erwarb er die Sympathie, in manchen die neutrale Gleichgültigkeit seiner Lehrer, in manchen versagte er. Obgleich er ein ganz guter Turner und Fechter war, beim Exerzieren und Kommandieren haperte es. Hier machte sich eine bedrohliche Schwäche der Aufmerksamkeit und des Selbstbewußtseins geltend. Dies alles aber war es nicht, was Ferdinand bedrückte. Die Wochentage ließen sich ertragen. Ganz anders jedoch stand es um die Sonntage und um die kleinen oder großen Ferien.
Für die ersten Sommerferien hatte ihn Tante Karolin auf ihr Gut nach Ungarn geladen. Es war eine sehr langweilige Zeit für ihn. Er spielte weniger die Rolle eines einzigen Schwesterkindes als die Rolle eines »armen Verwandten«, an den man kaum das Wort richtet. Höchstwahrscheinlich hat er seinen neuerworbenen Onkel nicht minder gelangweilt, denn die Einladung wurde nicht mehr wiederholt. Daran aber trug auch das beginnende Unheil Schuld, das sich über Karolins Ehe zu senken begann. Der Graf bekam die ersten Anfälle eines schweren Rückenmarkleidens, mit dem man, wie der Arzt behauptete, hundert Jahre alt werden kann, was für Karolin keine heitere Aussicht bedeutete. Nicht minder zerrüttet erwies sich auch die Wirtschaft, und die Tante sah sich gezwungen, das Erbe ihres Zahnarztes in Dampfpflüge, Dreschmaschinen und Pumpanlagen hineinzuschustern. Ihre Verarmungsangst, die sie auch in guten Zeiten geplagt hatte, erwies sich nach und nach als gerechtfertigt.
Im nächsten Jahr gelang es Barbara, den Knaben zu den Ihren aufs Land mitzubekommen. Es war eine sehr schöne Zeit. Franta, fast schon ein erwachsener Kerl, zeigte zuerst eine düster-ablehnende Haltung vor Ferdinands Kadettenuniform. Nach Überwindung des anfänglichen Mißtrauens vertiefte sich ihre Freundschaft um so inniger. Schnell aber gingen die vier Wochen des Glücks vorüber. Ferdinand wußte natürlich nicht, daß Barbara um dieser Ferien willen ihre Stellung in der Stadt eigens gekündigt hatte. Im dritten Jahre – Barbara mußte mit ihrer Herrschaft verreisen – zeigte sich nichts. Da die Anstalt sommerüber geschlossen war, wurde Ferdinand in irgendeine widerwärtige Ferialkolonie mit Hunderten von Kindern in allen Altersstufen gesteckt. Das waren nur die großen Ferien. Aber Ostern und Weihnachten? Und die vielen Sonn- und Feiertage? Wer kann ermessen, was es heißt, in der kahlen Kinderkaserne allein zurückzubleiben, wenn am Sonntagmorgen die gnadenlos freudige Horde ausfliegt, jeder einzelne nach Haus oder wenigstens in die Freiheit einer bürgerlichen Wohnung? Dieses Zurückbleiben erlebte Ferdinand jedesmal, wenn ihn Weber nicht mit zu seinen Verwandten nehmen konnte oder wenn es die Verhältnisse nicht gestatteten, daß er Barbara aufsuche. Seitdem sie beide voneinander geschieden waren, wechselte die Kinderfrau unaufhörlich ihre Stellungen. Sie, die sonst so Stetige und Ergebene, hielt es nun in keinem Hause und bei keinem Kinde länger als ein paar Wochen aus. Ihre Dienstherren, die mit dieser Perle immer zufrieden waren, wunderten sich über die Unruhe der Person, die plötzlich und ohne Angabe näherer Gründe den Posten kündigte. Keine Lohnaufbesserung, keine lockende Versprechung konnte sie festhalten. Barbaras Wandertrieb aber war nichts anderes als eine Form der Treue, die sie ihrem Ferdinand wahrte. Stets brachte sie ihm brieflich ihre Veränderungen zur Kenntnis. Im Schulgebäude jedoch besuchte sie ihn niemals.
Die Sonntage, an denen sie ihren vertragsgemäßen Ausgang hatte und Ferdinand sie besuchte, waren ihr schönstes Glück. Sie konnte wie in früheren Zeiten mit ihm spazierengehen, oder der Kadett saß bei ihr, was soviel heißen soll, daß er im Dienstbotenzimmer und in der Küche mehr oder minder begüterter Bürgerhäuser saß. Ja, in häßlich-engen Dienstbotenzimmern und in dunstigen Küchen saß der Offizierszögling bei der Magd, und sie sahen einander an und redeten dies und jenes.
Manchmal machten sich andere Bedienstete im Raum zu schaffen, um ihre Neugier für das sonderbare Paar zu befriedigen. Manchmal kam die Hausfrau selbst herein, um eine Anordnung zu treffen. Sie aber waren so in ihr Beisammensein versunken, daß sie die Störung kaum bemerkten. Meist brachte Ferdinand Wäschestücke zum Ausbessern mit, und Barbara stürzte sich mit Nadel, Zwirn und Stopfholz darauf, denn so ließ es sich besser reden.
Mit Steidler trugen sich in dieser Zeit auffällige Veränderungen zu. Er, der bisher einem kühnen Wegelagererideal gehuldigt hatte, nahm auf einmal ein manieriertes Wesen an. Es begann mit dem Kragen seiner Kadettenuniform, der sogenannten Egalisierung. Der Vorschrift gemäß durfte er nicht höher sein als vier Zentimeter. Steidler erhöhte das Maß eigenmächtig auf sieben Zentimeter. Sein kleiner Kopf mit den leicht abstehenden Ohren wuchs nun aus einer beängstigend engen und langgezogenen Röhre. Hierzu kam noch ein Monokel, das er bei jeder Gelegenheit, sogar während der Unterrichtsstunden, ins Auge drückte. Wegen dieser Vergehungen wurde er zweimal in Strafe genommen. Die Folge war, daß er sich wochentags vorsichtiger benahm, beim Sonntagsausgang aber um so frecher mit den Sinnbildern seiner neuen Elegance prangte. Zugleich gewöhnte er sich eine Ausdrucksweise an, die sich der allgemeinen Verständlichkeit entzog. Er sagte etwa zu einem ahnungslosen Mitschüler: »Auf dich werd ich nicht Platz setzen.« Oder er wandte tagelang ein sinnloses Eigenschaftswort auf alles an, was ihm in den Sinn kam, zum Beispiel das Wort »nervos«, wobei er den Umlaut unterdrückte, was ihm als Gipfel aller Vornehmheit erschien. Nicht nur das Wetter war dann nervos, sondern auch Krispins Lackstiefel und das Rindfleisch beim Mittagessen. Eine dritte Art seines neuerworbenen Sprachschatzes bestand aus dunklen Fachwörtern, die dem Vokabular lebemännischer Verkommenheit anzugehören schienen. Daß die Kadetten der obersten Klasse »gestern mullatiert hatten«, das ging noch, denn einige wußten, daß es sich dabei um ein wüstes Trinkgelage handelte. Was aber das Wort »Breigel« bedeutete, das Steidler allen andern Neubildungen vorzog, läßt sich schwer feststellen. Er warf damit unausgesetzt herum: »Morgen wird es einen Breigel geben.« »Das geht mich einen Breigel an.« Und so fort. All diese Prachtausdrücke entstammten Steidlers neuem »außerdienstlichen« Verkehr, mit dem er jederzeit aufdringlich prahlte. Immer führte er jetzt stallduftende und champagnerhaltige Namen im Munde. Neben einem Baron Elemer von Marosfalva tauchte ein Graf Taresani auf, ganz zu schweigen von einem wirklichen Prinzen Rhodenspoek. Steidler war der Sohn eines untergeordneten Steuerbeamten, auf dessen unscheinbar-kleinbürgerliche Existenz er wenig Wert legte. Allwöchentlich beschwindelte er den Alten, indem er behauptete, er könne am Sonntag nicht nach Hause kommen, weil ihn Schulaufgaben in der Anstalt zurückhielten. Indessen aber verbummelte er den Rasttag in Gesellschaft dieser volltönenden Namen, unter denen er die Rolle eines hübschen Benjamin spielte. Die andern, Schüler der berühmten S.schen Akademie, waren weit älter als er. Ferdinand lernte die Bande auf eine unerwartete Art kennen. Es geschah zur Zeit, da man Weber in eine Heilanstalt nach Istrien gebracht hatte. Ferdinand wußte nichts davon und vermutete, sein Freund sei noch immer im Hause der hiesigen Verwandten bettlägerig. Weber lebte nicht bei seinen Eltern. Der Vater war als Militärintendant einer dalmatinischen Garnison zugeteilt. An einem Frühjahrssonntag wollte Ferdinand den Kranken besuchen. Von den Verwandten erfuhr er aber, daß man Weber zur Ausheilung seiner schweren Lungenentzündung vor drei Tagen nach dem Süden gesandt hatte. Der Vereinsamte kehrte in die Militärschule zurück. Er war überzeugt, den Schlafsaal so leer wie immer am Sonntag zu finden. Diesmal aber hatte er sich getäuscht. Ein paar ortsfremde junge Leute lagen in leichtbekleideter Verfassung lachend auf den Kavaletts. Als Ferdinand eintrat, fuhr ihn Steidler an:
»Hast du was gesehen?«
Ferdinand wußte nicht, was er gesehen haben könnte. Eine fade Stimme fragte:
»Wer ist das?«
Steidler wandte sich in seiner unentwirrbaren Geheimsprache an die Stimme:
»Der g'hört nicht zu uns. Das ist ein Weitverbreiteter.«
Die fade Stimme entschied:
»Dann gehn wir halt ...«
Steidler aber faßte mit giftiger Zärtlichkeit den Ahnungslosen unters Kinn:
»Maul halten, Schakerl, Maul halten, sonst ...«
Ferdinand maß dieser Szene keinerlei Bedeutung bei. Webers Tod verdrängte sie aus seinem Gedächtnis. Vierzehn Tage später nämlich ließ Major Krispin bei seinem Eintritt in die Klasse die Kadetten nicht niedersetzen, sondern machte ihnen in scharfen Worten, als wären sie alle schuldig an diesem Unglück, die Mitteilung, daß ihr Kamerad Weber in einer istrianischen Heilanstalt seinem Lungenleiden erlegen sei. Der Major fügte hinzu, daß er es der Klasse anheimstelle, durch freiwillige Sammlung einen Kranz zu erstehen, um mit ihm das Grab Webers auf dem Militärfriedhof von Triest zu schmücken. Der Primus fertigte sogleich einen Namenszettel an, worauf er die kleinen Beträge verzeichnete, die von den Kadetten zu diesem Zweck entrichtet wurden. Die Wirkung der Todesnachricht auf die Mitschüler war sonderbar. Sie zollten dem Dahingegangenen durchaus kein Mitleid und keine Erschütterung, sondern gerieten durch Webers Ende in eine Art unwillkommener Verlegenheit, als wäre der Tod eine überhebliche Sache, die dem Komment einer Knabenkameradschaft widerspricht. Selbst Ferdinand, den ein wahrhaft schwerer Verlust traf, konnte in sich keinen Schmerz entdecken. Auch dieser Tote entschlüpfte ihm sofort zu jenem unzugänglichen Totenort, wo er sich gut verstecken konnte. Wie hatte Weber bloß ausgesehen? Immer wieder zerrann das Bild des Freundes. Obgleich Ferdinand zu seiner eigenen Verwunderung keine tiefere Trauer zu empfinden glaubte, ging er doch viele Tage halbbetäubt umher.
Barbara hatte wieder einmal ihre Stellung gewechselt. Diesmal aber schien sie es besonders gut getroffen zu haben. In einem sehr großen Hause nahm sie nun den Posten einer Beschließerin ein, was soviel bedeutete, daß sie dem Küchenpersonal und der übrigen Bedienung vorzustehen hatte. Als Ferdinand sie an dem Sonntag aufsuchte, der jener Todesnachricht folgte, fand er sie in ihrer Küche sehr beschäftigt vor. Sie richtete Schüsseln mit Brötchen und Bäckereien her. Das Haus war voll Bewegung.
»Die großen Kinder haben Gesellschaft«, sagte Barbara traurig, während sie an der Anrichte ihres Amtes waltete. Ferdinand setzte sich still hin und sah ihr zu. Ein verknäulter Schwall schriller Stimmen prellte durch die halboffene Tür. Der Kadett zuckte zusammen. Unbehagen wuchs in seinem Körper empor. Sollte er nicht aufspringen und sich rasch davonmachen? Er blieb wortlos sitzen. Auch Barbara, die vielleicht ein ähnliches Unbehagen empfand, arbeitete, ohne Ferdinand anzusehen. Der Stimmenschwall verstärkte sich. Man konnte die häßlichen Rabenlaute mutierender Knabenkehlen unterscheiden. Jetzt durchtollte die Gesellschaft den Vorraum, der an die Küche stieß. Ferdinand schloß die Augen, so stark schlug ihm die Unabwendbarkeit des Schicksals entgegen. Die Tür wurde aufgerissen. Etwa zwölf halbwüchsige Jungen überschwemmten den Raum und stürzten sich gefräßig auf Barbaras Schüsseln. Mitten aber in dem Höllenlärm stand vor Ferdinand ein zweiter Kadett, Steidler. Beide sahen einander sehr lange starr an und sagten kein Wort. Dann machte Ferdinand eine leichte Bewegung mit dem Kopf und blickte regungslos seitwärts. Steidlers Mund öffnete sich zu einem Lachen, pfiffige Funken spritzten aus seinen Augen, er schwenkte die Arme, als wolle er den gesamten Chor herbeiholen. Im letzten Augenblick aber besann er sich anders und verließ, ohne Ferdinand weiter zu beachten, die Küche. Auch die übrigen zogen sich, stiller geworden, zurück, indem sie den Kadetten in dieser Umgebung mit erstaunten Blicken ansahen.
Ferdinand verabschiedete sich diesmal sehr früh von Barbara, die ihn, obgleich sie die ganze Szene nicht verstanden hatte, mit Angst im Herzen ziehen ließ. Heimgekehrt, erklärte er der Zimmerordonnanz, schreckliche Kopfschmerzen zu haben, und legte sich sogleich nieder. Als am Abend die andern Kameraden nach Hause kamen und mit wüstem Lärm und erbarmungslosem Gelächter zu Bette gingen, lag Ferdinand schon in einem wirren, ahnungsschweren Halbschlaf. Worte und Blicke umsangen ihn wie Stechmücken.
Als sich am Morgen die Kadetten im Klassenzimmer versammelt hatten, trat Steidler bedeutungsvoll auf ihn zu:
»Hallo, einen Moment, bitte.«
Er nahm Ferdinands Arm und ging mit ihm seitab:
»Ich schicke voraus, daß ich bis auf weiteres nicht reden werde.«
Neuerdings hatte sich Steidlers gezierte Sprechweise den Aktenstil politischer Wichtigkeiten zugelegt:
»Dafür kann ich von dir Offenheit fordern.«
Ferdinand suchte Raum zu gewinnen:
»Was denn?«
»Mach keine Geschichten! Du weißt doch selber sehr gut, daß du nicht Offizier werden kannst, wenn es herauskommt.«
»Was redest du da für Blödsinn?«
»Ich wundere mich nur darüber, wie geschickt ihr das gemacht haben müßt, damit es aus den Dokumenten nicht ersichtlich wird.«
»Welche Dokumente, Herrgott?«
»Tu nicht so, mein Kind! Du bist zwar ein Trottel, aber so ein Trottel bist du wieder nicht. Du weißt es schon, daß der Sohn einer Illegitimen nicht Offizier werden kann.«
»Was heißt das: illegitim?«
»Ich mache dich aufmerksam, daß es einen großen Breigel geben wird, wenn du so fortfährst. Mich interessiert nur, wer deiner Frau Mama jetzt die Alimente zahlt.«
Diese gemeinen, undeutlichen Worte, mit denen Steidler herumwarf, trafen Ferdinand schmetternd. Die verschleierte Art dieses niederhagelnden Angriffs ließ alle seine Verteidigungskräfte versiegen. In ihm entstand keine Wut, nur ein maßloses Unglücksgefühl. Am liebsten hätte er losgeheult. Aber er sagte:
»Ich hab ja gar keine Mama.«
Steidler zeigte sich gekränkt:
»Weißt du, das ist nicht schön von dir, daß du deine Frau Mama verleugnest.«
Ferdinand stöhnte gequält auf:
»Aber ich verleugne sie ja gar nicht.«
Unbetrügbar ging Steidler auf sein Ziel los:
»Schau, ich komm auch nicht aus der Familie eines Statthalters oder Korpskommandanten. Ich sag's offen, mein Papa ist nur ein hoher k. k. Staatsbeamter. Und auch du mußt offen sagen, meine Frau Mama ist eine Köchin. Also sag's!«
Ferdinand konnte sein Weinen nicht länger besiegen:
»Nein, das ist nicht wahr, das ist nicht wahr!«
Steidler redete ihm innig zu:
»Also sag schön: Meine Frau Mama ist eine Köchin. Dann werde ich schweigen, widrigenfalls ...«
Die Tür tat sich auf, und der Katechet trat in die Klasse, denn die Lehrstunde, die auf dieses Gespräch folgte, war der Religion gewidmet. Während der Unterricht abrollte, konnte Ferdinand kaum zu sich kommen. Jede Vernunft, jede Einschätzung der Wirklichkeit verließ ihn. Er war überzeugt davon, daß seine Laufbahn zu Ende sei, wenn Steidler die Drohung wahrmache und ihn als Illegitimen, als Sohn einer Köchin ausposaune. In die Verwirrung seiner Denkkraft mischten sich Gewissensbisse. Sooft die Kadetten am Sonntag ihre Ausgangszettel verlangten, mußten sie in der Schulkanzlei den Ort angeben, wohin sie zu gehen gedachten! Diese Verordnung wurde übrigens von einem gutmütigen Unteroffizier nicht sehr streng gehandhabt. Wenn Ferdinand zu Barbara ging, hatte er sich meist um eine Angabe seines Aufenthaltes herumgedrückt oder eine beliebige Adresse angegeben. Jetzt glaubte er fest, das Verbrechen dieser Vertuschung werde an den Tag kommen und ihm den Kragen brechen. Der furchtbarste Mißlaut in seiner Not aber war die Verleugnung. Ja, er hatte Barbara verraten, er hatte sie nicht beschützt, er war von ihr abgefallen. In seinem schweren Kopf entstand die krankhafte Einbildung, er habe mit dem Bekenntnis gelogen, daß er keine Mama besitze. Seine wirkliche Mutter fiel ihm gar nicht ein. In seinem Geiste brannte die Schmach, daß er sich Barbaras geschämt hatte.
Nach der Religionsstunde streifte Steidler noch einmal an Ferdinand vorüber:
»Ich habe mich entschlossen, dir bis zwölf Uhr Bedenkzeit zu geben.«
Der Unterrichtsplan sah von neun bis zehn Exerzieren vor. Die Kadettenhorde wurde auf den Hof getrieben. Fachlehrer im Exerzieren war ein rüder längerdienender Feldwebel, der jetzt an seinen Untergebenen dafür Rache nahm, daß sie einmal seine Vorgesetzten sein würden. Noch niemals hatte Ferdinand so viele Fehler verbrochen wie heute. Hieß es »Doppelreihen rechts um«, schwenkte er links. Mußte er den Zug führen, gelang es ihm nicht, die befohlene Richtung einzuhalten. Bei den Gewehrgriffen verwechselte er die einzelnen Tempi. Die Folge war, daß ihn der Lehrer zum Nachexerzieren verdonnerte, das heißt, wenn den andern eine Rast vergönnt wurde, mußte er entweder »wippen« oder den mühsamen Marsch-Eins, die österreichische Form des Parademarsches, unermüdlich üben. Das Unangenehmste an diesem Einzelexerzieren war der Umstand, daß die mokante Gesellschaft der Kameraden in behaglicher Zuschauerruhe ihre Witze über den Sträfling reißen konnte. Steidler trat vor die lockere Reihe und machte knappe und unverständliche Zeichen zu Ferdinand hin, die diesen noch mehr verwirrten. Die schneidende Stimme des Feldwebels klatschte über das Gesicht des Gemaßregelten: »Marsch Eins – Zwei! Eins – Zwei!« Die Hände über den Rücken gekreuzt, schleuderte Ferdinand das linke Bein weit vom Leibe, faßte vornübergeneigt Stand und zog den rechten Fuß mit feinfühlig die Erde streifenden Zehenspitzen nach, wie der Finger eines Geigers beim Lagenwechsel kaum merklich über die Saiten schleift. »Eins – Zwei!« Steidler hatte sich jetzt ganz nahe herangemacht und betrachtete die Strafübung, wie sich ein Müßiggänger einen Straßenunfall ansieht. Als Ferdinand dicht an ihm vorüberstampfte, sagte er sehr ernsthaft:
»Du hast recht. Denk nur fest an deine Frau Mama.«
Der Marschierende stockte mitten im »Eins«, zog bei »Zwei« den rechten Fuß nicht nach und senkte den Kopf. Der Lehrer klatschte ungeduldig in die Hände: »Eins – Zwei!« Und noch einmal: »Eins – Zwei!« Ferdinand rührte sich nicht. Der wütende Unteroffizier sprang dicht zu ihm heran und brüllte:
»Werden Sie gehorchen, Sie elende Mißgeburt?«
Der Beschimpfte hob langsam die Augen, um den Quäler anzusehen. Aber nun geschah etwas, was ein ganz ferner Teil seines Wesens selber mit wachsendem Entsetzen beobachtete. Seine Augen sahen den Feldwebel nicht. In einer unordentlichen Dämmerung schwankte der Hof. Ein grauenhaftes Außersichsein, eine verzweifelte Glut, eine unbekannte Ichzersprengung hob den Vierzehnjährigen fast vom Boden auf. Bis zum letzten Augenblick hatte er das Gefühl, er könne sich noch zurückreißen. Aber etwas Lustvolles reizte ihn gerade, sich ins Unbekannte hinein zu steigern. Er warf sich auf den Unteroffizier und trommelte mit beiden Fäusten auf ihn los. Ebensoleicht aber hätte er sich auf einen Kameraden oder einen Baum gestürzt, wenn er in der kürzesten Linie gestanden wäre. Es war kein Angriff, es war eine Flucht nach vorne, das unsinnige Rütteln an einem geschlossenen Notausgang, wenn das Feuer im Rücken wütet. Der Feldwebel schleuderte ihn mit einem Faustschlag zu Boden. Dort blieb er zusammengekrampft liegen. Man holte den Anstaltsarzt. Dieser untersuchte als erstes Ferdinands Faust daraufhin, ob der Daumen eingezogen sei.
Der Knabe verbrachte eine Woche im Krankenzimmer. Während dieser Zeit trat das Kollegium der Lehrer zusammen und beriet darüber, was mit Ferdinand zu geschehen habe. Insubordination und tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten, das sind in militärischen Augen unsühnbare Verbrechen. Anderseits mußte man dem Schüler wohl Sinnesverwirrung und einen Anfall zubilligen, welcher der Epilepsie nicht unähnlich sah. An eine gründlichere Aufklärung des Falls dachte niemand, so etwas widersprach den Traditionen der Militärschule. Alles in allem: Keine soldatische Natur! Darin stimmte der Lehrkörper mit Einhelligkeit überein. Von oben kamen immer schärfere Erlässe, die Ausmusterung der Offiziere betreffend. Daran mußte man sich halten.
Meldung, Bericht, Anfrage, Antwort, einige Bogen Kanzleipapier wuchsen zu einem Akt, der von der militärischen Behörde dem Pflegschaftsgericht zur gefälligen dortamtlichen Einsichtnahme beigeschlossen wurde. Darauf erschien jener gleichgültige Herr, der die Rolle von Ferdinands Ex-officio-Vormund spielte, im Marodenzimmer und eröffnete eine von Warnungen strotzende Unterhaltung über die Frage, was mit dem kränklichen Missetäter zu geschehen habe. Ferdinand stieß mit zitternder Stimme immer wieder den gleichen Wunsch hervor: »Nur fort von hier!« Der Vormund gab ihm zu verstehen, daß ein Mann wie er ein Anrecht auf wertvollere Mündel zu haben glaube. Dann schied er, einige dunkle Versprechungen zurücklassend. Die bürgerliche Behörde entschied den Fall im eigenen Wirkungskreis. Eines Tages tauchte in der Militärschule ein Laienbruder auf, der Ferdinand mit sich nahm. Das Alumnat eines gelehrten Ordens öffnete ihm seine Pforten. Sein neues Leben begann damit, daß er innerhalb eines Jahres die Wissenschaft des gesamten Untergymnasiums nachholen mußte. Ferdinand bewies seine Kraft. Es gelang ihm.