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Dreizehntes Kapitel.
Richtgang

Es war noch nicht vier Uhr morgens, als Ferdinand in den Unterkünften seiner Kompagnie erschien und die Leute weckte. Er selbst war nicht aus den Kleidern gekommen und hatte die Nacht auf jener Halde zugebracht, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Die Soldaten sahen den Leutnant mißtrauisch an, denn er zeigte eine strenge Härte, die noch niemand an ihm bemerkt hatte. Unnachsichtlich machte er Stichproben, ob die Ausrüstung der Mannschaft in Ordnung sei, und drohte einem Gefreiten, der eine seiner drei Konserven verzehrt hatte, er werde ihn anbinden lassen. Um halb fünf schon mußte alles antreten. Ferdinand ging dreimal die Reihen durch, und bei jedem Gang zog er ein paar Burschen, die ihm besonders unsympathisch waren, vor die Front. Endlich hatte er drei Gruppen von je acht Mann ausgeschieden. Die Gewehre wurden peinlich untersucht, und wenn ein Verschluß nicht frisch geölt war, regnete es Flüche. Feldwebel Hafenrichter kam ganz bestürzt herbeigelaufen. Seine rechte Backe war von einem großen Brotbissen vorgewölbt, und die Bluse hatte er noch nicht zugeknöpft. Er knautschte:

»Herr Leutnant! Es war ja gestern schon alles eingeteilt.«

»Schweigen Sie«, schrie Ferdinand ihn an, worauf sich der Gekränkte nun selber auf die Mannschaft stürzte und sie beschimpfte. Um fünf Uhr war die eingeschüchterte und verdüsterte Kompagnie vor dem Gefangenenhaus gestellt.

Beim Tore wartete schon der Feldkurat in zappelnder Erregung, ein ziemlich junger Mensch noch, der jene groteske Uniform trug, welche den Zuschnitt kriegerischer Wehrhaftigkeit und seelsorgenden Priestertums in sich vereinigt. Der Kurat hatte die schwarze Kappe abgenommen. Unter dem dünnen Scheitel sammelte sich der Schweiß und rann in fetten Tropfen über die kräftige Stirn.

»Du hast natürlich auch nicht geschlafen, Herr Leutnant«, begrüßte er Ferdinand. »Schlafen, wie denn schlafen?«

Da der Leutnant Exekutionskommandant sich in kein Gespräch einließ, kam der Seelsorger zur Überzeugung, eine ungewöhnlich abgehärtete Seele vor sich zu haben, was seinen Jammer vermehrte:

»Lieber Freund, du hast gewiß draußen furchtbare Sachen miterlebt. Abgerissene Glieder, verspritztes Hirn, stinkende Leichenfelder, bitte sehr, ich weiß schon. Aber ich kann dir sagen, nichts ist schrecklicher als das hier, gar nichts ... Es ist schon meine siebente in diesem Jahr, und noch immer hab ich mich nicht daran gewöhnt! Im Gegenteil. Jedesmal wird es schwerer für mich. Und du? Bist du das erstemal kommandiert?«

Als Ferdinand antwortete, »Jawohl, zum erstenmal«, glaubte er, seine Stimme ertöne viele Meilen weit von ihm entfernt. Der Feldpriester zog eine Kognakflasche aus seinem kriegerischen Gottesrock, tat einen Schluck und prustete dann: »Brrr«, womit er sein Entsetzen über die Schärfe des Getränks und die unerbittliche Furchtbarkeit des Lebens kundgab: »Du wirst noch schaun, wie das ist ...«

Er zögerte einen Moment, ob er dem Leutnant einen Trunk anbieten solle. Weil er aber den Verdacht hegte, daß Ferdinand ein »streberischer Reservezwockel« sei, bestrafte er ihn und steckte die Flasche wieder ein.

Endlich öffnete sich das Tor. Im selben Augenblick fiel Ferdinand ein brennender Krampf im Zwerchfell an, so daß er mit zusammengebissenen Zähnen den Oberkörper nach vorne beugen mußte. Aber nicht nur er, auch die Soldaten sahen auf einmal hohl und verfallen aus; man hätte meinen können, eine Parade von Totenköpfen halte die Wacht.

Ferdinand schloß feige die Augen, um die Unglücklichen nicht sehen zu müssen. Aber er wußte trotzdem alles, auch ohne daß er es sah. Er wußte, daß Teinfalt kindisches und sinnloses Zeug plapperte und sich immer wieder selber einzureden suchte, das Ganze sei nur ein Strafmanöver um der Angst willen. Er wußte auch, daß der Profos dem kleinen Bauernjungen auf sein jämmerliches Gefrage mit trostreich-ausweichenden Antworten diente: »Ja, ja! ... Mag schon sein! ... Ich darf nichts sagen, aber vielleicht hast du recht! ... Das könnt' am End' so kommen!« Er wußte, daß Schwec noch schwerer vom Tode volltrunken sei als gestern und zwischen zwei Wachtsoldaten, die ihn am Arm hielten, torkelte. Er wußte, daß Franta Pacak ganz in sich versunken dastand und gar keine Augen mehr hatte. Die Stimme des Feldkuraten keifte ihm jetzt ins Ohr:

»So eine Gemeinheit! Der Herr Auditor und der Herr Regimentsarzt drücken sich. Das ist nur bei dieser Saudivision möglich, wo der Kommandant sich um nichts kümmert und ein frecher Lausbub regiert. Paß auf, es wird bei uns noch einen großen Pallawatsch geben. An deiner Stelle würd ich die beiden Herrschaften holen lassen. Wieso komm ich dazu?«

Ferdinand beachtete diese Einflüsterung gar nicht. Wiederum hörte er seine Stimme, die ferne und scharfe Stimme eines ungerührten Befehlshabers: »Abmarsch!«

Der rangälteste Unteroffizier hob die Hand:

»Erster Zug! ...«

Gleichtritt klappte in den Morgen hinein. Ferdinand stand mit dem Rücken zur Truppe. Dort läuft der Hafenrichter davon, wie vom Teufel gehetzt, stellte er fest. Erst als der Marschklang ihm sagte, daß die letzte Doppelreihe vorbei sei, schloß er sich dem Zug an. Ohne daß er den Befehl dazu gegeben hätte, hielt die Kompagnie ein mäßiges Tempo ein. Ferdinand erinnerte sich der Vorschrift im Dienstreglement. »Langsamer«, befahl er, und dieser Ruf pflanzte sich schallend bis zur Spitze fort. Hundert Kehlen wiederholten befriedigt: »Langsamer!« Aufschub des Gräßlichen, wenn auch nur um wenige Minuten. Dann ließ sich in der langen Abteilung kein Wort, kein Flüsterlaut mehr vernehmen. Nicht nur die Delinquenten, sondern all diese Menschen schienen bis zu einem gewissen Grade vom Tode trunken oder schläfrig zu sein. Ein einheitlicher, aber schleppender und schwankender Rhythmus bewegte die Kolonne vorwärts.

Doch auch die Umwelt nahm an diesem widerwilligen Weitermüssen teil. Obgleich die Uhren schon eine Viertelstunde nach fünf zeigten, ließ sich in dieser Ortschaft, die einen »überzähligen Truppenbelag« aufwies, kein Feldgrauer auf der Straße blicken, nicht einmal ein Pferdeknecht mit dem Tränkeimer. Niemanden weckte das gespenstige Schnarren dieser vielen, in die Verdammnis marschierenden Füße. Ebenso wie die Zeit verdickt war, schien auch das Morgenlicht verdickt zu sein, eine trübe Molke, aus Dunst und Strahlenrahm gepanscht. Die strohbedeckten Ruthenenhütten zeigten deutlich den Willen, abweisend dazustehn. Kein Hahn, kein Hund, keine Schwalbe meldete sich. Und selbst der Krieg dort draußen bewahrte während dieser Frist verächtliches Schweigen und murrte mit keiner Granate und keifte mit keinem Maschinengewehr, als habe er sich selbst schon satt.

Der Kurat hatte aus einem Futteral ein schwarz-silbernes Kruzifix hervorgeholt, das er mit beiden Händen umfaßte und emporhob, während er neben den Verurteilten in der Mitte einherschritt. Aber es sah aus, als trage er das Gottesbild nicht den Bedürftigen voran, sondern halte sich selber in seiner Verzweiflung daran fest und lasse sich widerwillig von ihm vorwärtsschleifen. Lächerlicher Kerl, ärgerte sich Ferdinand, und so etwas hätte ich selber werden sollen. Dies war einer der seltenen klaren Momente des Marsches, die ihm seine qualvolle Betäubung gewährte. Daß aus ihm nicht einmal ein Feldkurat geworden war, sondern ein elender Reserveleutnant ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, das freilich fiel ihm nicht ein. Seine Hauptbeschäftigung, während er hinter dem Todesmarsch einhertrottete, bestand ausschließlich aus mißlungenen Denkversuchen. Was aber draußen auf der Halde geschehen würde, die letzte Entscheidung, die ihm bevorstand, dies entzog sich selbst den mißlingenden Gedanken. Kam er in die Nähe der entsetzlichen Vorstellung, verschwand alles und nur Ohrensausen blieb übrig. Deshalb verlegte er sich auf Einbildungen, die ihm gestattet waren, zum Beispiel auf die Hoffnung, ein weittragendes Geschütz des Feindes sei schon mit zielgerichteten Elementen bereitgestellt, sich auf diese Straße hier einzuschießen, wobei im nächsten Augenblick ein Volltreffer ihn, die drei Delinquenten und die halbe Kompagnie verwunden werde. Oder: Ein Befehl des A. O. K. sei eben eingetroffen, der die irreguläre Erledigung von Hochverrätern wieder verbiete. Der Unteroffizier mit dem Widerruf renne schon atemlos, um die Marschkolonne einzuholen. Oder: Der harmlose Hügel am Horizont sei ein Vulkan und warte nur darauf, im letzten Augenblick mit feuerspeiender Vernichtung auszubrechen. Diese Phantasterei spann er am längsten und sogar mit einem besonderen Traumgenuß aus. Das Wichtigste aber war, den Fortschritt der Kompagnie zu hemmen. Als ein Gefreiter zu ihm mit der Frage gelaufen kam, ob Pacak rauchen dürfe, ließ er haltmachen, suchte lange in seinen Taschen und schickte dann eine hölzerne Zigarettendose vor. Am Ortsende bog aus einer Seitengasse ein Sanitätswagen ein. Auch diese Gelegenheit wurde benutzt, die Zeit zu strecken.

Die Straße senkte sich ein wenig. Ferdinand wußte jetzt, da er in der Nacht den Weg mehrmals abgemessen hatte, daß nur mehr zweihundert Schritte zurückzulegen seien. Mit einem Schlage fiel ihm das Wissen aufs Herz, daß er selber nicht mehr weiterleben könne, wenn das Gräßliche wirklich unter seinem Kommando geschehen sollte. Gestern war von Barbara ein Brief gekommen. Sie war glücklich, ihn außerhalb der Gefahrenzone zu wissen. ›Wenn ich's tue, werde ich ihr nie mehr im Leben schreiben.‹ Dies dachte er einige Male vor sich hin, während eine knirschende Ungeduld ihn überfiel und er sich zurückhalten mußte, nicht »Laufschritt« zu befehlen.

Die Halde! Ein langer Ruf erschallt. Die Truppe steht. Ferdinand geht im Chausseegraben, der den Anger von der Straße trennt, die Reihen entlang. Er hat dabei das peinliche Bewußtsein, sich etwas zu vergeben, weil er als Offizier auf einem niedrigeren Niveau schreitet als die Mannschaft. So groß ist die Macht der soldatischen Zwangsvorstellungen. Der Zug zerfällt in zwei Teile, die durch einen mehrere Schritte breiten Zwischenraum voneinander getrennt sind. In diesem inneren Raum, im Schranken, steht das Opferhäuflein. Die drei Verurteilten, der Kurat, der Profos und sechs Wachtsoldaten, für jeden der Todgeweihten zwei. Quälende Einzelheiten bohren sich in Ferdinands Hirn. Pacak hält eine Zigarette zwischen den Lippen, die nicht brennt. Soll er, der Exekutionskommandant, befehlen: »Zu Ende rauchen!?« Ist überhaupt »Zu Ende rauchen« ein zulässiges und im Reglement vermerktes Kommando? Dann: Der Seelsorger hält jetzt das Kruzifix vor sich hin wie eine Frau den Handspiegel, seine Kappe sitzt schief, und er kratzt mit der freien Hand den Kopf vor Nervosität. Soll er, der Kommandant, diese Jammergestalt herrufen und anordnen, sie möge Würde bewahren? Von den Soldaten sieht keiner ihn an. Er erinnert sich an ein altes Christusbild, das im Dom seiner Vaterstadt hängt. Der Leidensmann folgt dem Betrachter überall hin mit seinen schwermütig-bohrenden Augen. Das Gegenteil tun diese Infanteristen hier. Sie weichen ihm überall hin mit ihren Augen aus.

Höchste Zeit! Jetzt muß etwas geschehen. Es genügt nicht, die Reihen auf und ab zu laufen. Der Militärteufel sitzt Ferdinand brennend im Genick. Denn wirklich und wahrhaftig verschwindet in den nächsten Sekunden jeder andere Beweggrund vor der Furcht, sich angesichts der Untergebenen nicht befehlshaberhaft genug zu betragen. Diese Furcht fördert den scharfen Anruf zutage: »Feldwebel, zu mir!« Als aber der Unteroffizier zuspringt, weiß Ferdinand nicht, was er von ihm will. Er muß eine Weile schmerzhaft nachdenken, ehe er hervorstößt:

»Vorwärts! Direktion Böschung!«

Dieser Befehl ist immerhin eine kleine Erlösung, denn bis er ausgeführt ist, werden zwei Schonungsminuten vergehen. An einer Stelle ist der Chausseegraben mit Balken überbrückt. Die Mannschaft mitsamt den Opfern benutzt diese Brücke, was dem Leutnant fast ein gereiztes Lachen abnötigt, so sinnlos erscheint es ihm, den Todesgang über einen bequemeren Umweg zu beschreiten. Er für seine Person springt über den Graben. Siebzig Schritte mißt hier die steinige Halde, er weiß es genau, dann wirft sich die hohe, mit Scherben und Abfällen besäte Böschung auf. In der Nacht, wenn schwüler Sommerdunst hinabsinkt, strömt hier Unkraut, Brennessel und Himbeergestrüpp einen leimigen Samengeruch aus. Ein paar große Holunderbüsche stehen in übermäßiger Blüte.

Neuerlich: »Halt!« Und was jetzt? Er denkt krampfhaft an die auswendiggelernten Seiten des Dienstreglements, erster Teil, Vollziehung einer Todesstrafe:

»Feldwebel!«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

»Offenes Karree mit Front zur Böschung.«

Der Feldwebel, der alle Vorschriften genauso gründlich studiert hat wie Ferdinand, ist sich über die notwendige Formierung längst im klaren. Sein Kollege Hafenrichter hat ihn darauf aufmerksam gemacht, daß der Leutnant ein weichherziger »Nervenbinkel« sei, den man am besten von der ganzen Geschichte ausschalte. Wendungen, kurze Vor- und Rückmärsche, Kehrteuchrucke klappen. Binnen einer Minute ist der Befehl erfüllt. Weiter! Die drei, der Profos und der Kurat stehen jetzt inmitten des zerzogenen Rechtecks. Pacak hat die tote Zigarette noch immer im Mund. Teinfalt, das farbenfrohe Jahrmarktsspielzeug, ist zu einem verrenkten Habtacht erfroren, als läge in krampfhaft soldatischer Strammheit die letzte Rettungsmöglichkeit. Schwec brüllt in langen Pausen immer dasselbe unflätige Wort über den Platz, während ihm der Profos mit ruhiger Freundlichkeit zu verstehen gibt:

»Was hast du davon, Bruder? Das kennt man ja. Was nützt dir das?«

Alle drei sind gefesselt. Der Kurat aber fuchtelt mit dem Kruzifix blasphemisch in der Luft herum, sieht die Unglücklichen nicht an und sticht die dünn-hysterische Stimme eines Weibes ins Leere, das mit seinem Mann keift:

»Burschen! Nur keine Angst! Angst ist nicht nötig! Alles geht in Ordnung. Gott hilft!«

Dann steht er unversehens neben Ferdinand und quäkt ihm ins Ohr:

»Du solltest unbedingt um drei Sessel schicken. Man bindet sie daran an und fertig. Im Sitzen ist es viel menschlicher. Bei der dreiunddreißigsten Division am Isonzo machen sie es immer so. Es ist viel praktischer und menschlicher als das Niederknien. Mein Wort darauf!«

Auch der Kurat, dessen Gesicht schweißübergossen ist, ringt um Aufschub. Aber Ferdinand versteht ihn nicht. Er sieht lauter schwarze verweste Gesichter, wie er sie zwischen den Gräben so oft in der Sonne platzen sah. Eine kurze und letzte Schwächeanwandlung fährt ihm in die Gurgel: Warum hört dieser Krieg nicht auf. Dann ist er wiederum nichts als Mechanismus:

»Feldwebel!«

»Befehlen, Herr Leutnant?!«

»Die drei Abteilungen vor!«

Zugleich mit diesem Befehl springt der ratternde Zeitmotor in eine rasende Geschwindigkeit über. Ferdinand muß jetzt nicht mehr selber denken und handeln. Das Schicksal scheint eigenmächtig und ohne sein Zutun abzulaufen. Er findet sich am Ende des linken Flügels. Wollte er sich dem bloßen Zuschauen ergeben, würde sich dennoch alles glatt und blitzschnell abwickeln. In den Feldwebel und in den Profosen ist mit einemmal die Hölle gefahren. Sie, die bisher allem Anscheine nach keine Rohlinge waren, stürzen sich grausam auf die Opfer, reißen sie mit hartem Griff vorwärts und stellen sie, nicht wie Menschen, sondern wie verhaßte Dinge, mit dem Rücken zum Kugelfang der steilen Deckung auf. Aber auch die dreimal acht Gesichter, die sogleich das Gericht zu vollbringen haben werden, sind vom besessenen Abgrund gezeichnet. Die Augen glitzern grün, und zwischen lüsternen Lippen und grinsenden Zähnen tritt bei manchem die Zungenspitze vor. In seiner Erregung vergißt der Profos, die Verurteilten, wie es die Vorschrift befiehlt, auf die Knie zu zwingen. Der Feldwebel keucht vor Ungeduld: Er reißt sich höher als er ist und donnert:

»Gewehr bei Fuß!« Die Kolben stampfen die Erde.

Ferdinand aber, der durch die Erregung der anderen immer traumhaft ruhiger wird, winkt ab:

»Feldwebel! Ich ... kommandiere.«

Noch einmal jault das fieberfröstelnde Keifen des Kuraten auf:

»Burschen! Macht euch nichts draus! Gott geht in Ordnung. Denkt ans Jesulein!«

Er weiß nicht mehr, was er redet. Seekrank schwankt der silberne Christus über den Köpfen. Ferdinand zieht das Taschentuch und ruft mit leisem und knappem Ton:

»Gewehr in die Balance!«

Die Griffe klirren. Jetzt überlegt er sehr fachlich: Noch drei Kommandobewegungen. Fertig! Setzt an! Und dann das Letzte. Die Vorschrift fordert, daß diese Befehlsreihe ohne die geringste Verzögerung zu erfolgen habe. Ferdinand weiß noch immer nicht, was geschehen soll, als er schon längst, und jetzt mit gellender Stimme, kommandiert hat:

»Schultert!«

Die enttäuschte Ewigkeit einer leeren Sekunde. Dann klappern neuerdings Gewehrgriffe, und die dreimal acht Mannlicher hängen wieder über den Achseln. Und jetzt geht Ferdinand – er fühlt ein angenehm müdes Schwingen in den Knien – auf die drei Männer zu, die tief zu schlafen scheinen:

»Profos! Die Fesseln abnehmen!«

Der Gefangenenaufseher, der in dem allen eine höhere Absicht vermutet und nach der Spannung der letzten Minuten seiner selbst noch nicht mächtig ist, gehorcht auf der Stelle, läuft aber sofort wieder hinter die Front zurück, als fürchte er seine eigene Justifizierung. Ferdinand betrachtet die gelb verschwommenen Ohnmachtsgesichter Schwecens, Teinfalts und Pacaks eine lange Weile, indessen kein Atemzug geschieht, dann sagt er sehr laut:

»Laufschritt! Abfahren!«

Weder die Opfer bewegen sich noch die drei Exekutionsgruppen, noch auch die Reihen der Kompagnie. Ferdinand weiß, daß er nur einmal noch die Kraft haben wird, seine Worte zu wiederholen, denn schon rüttelt ein Schluchzen an seiner Stimme:

»Abfahren! Laufschritt! Rettet euch!«

Wiederum die lauschende Ewigkeit einer leeren Sekunde. Dann faucht vom entferntesten Flügel der Reihen eine Stimme her:

»Laufschritt!«

Dies ist ein Signal: »Laufschritt, Laufschritt, Laufschritt«, heult es nun von allen Seiten. Die vierundzwanzig zur Vollstreckung des Urteils Bestimmten, die eben noch die stummen Fratzen von lustmörderischen Wasserspeiern gebleckt hatten, gebärden sich wie wahnsinnig, werfen die Arme, tanzen am Ort und brüllen die Opfer an, die nicht so schnell bereit sind, aus dem Tode zurückzukehren:

»Laufschritt! Laufschritt!«

Da dies alles nichts hilft, reißen die Reihen auseinander, und die starr ausgerichteten Glieder der Kompagnie verwandeln sich in eine Horde von tobenden Menschen. Die höheren Chargen, der Feldwebel und drei Zugsführer, stehen mit offenem Munde abseits, während die anderen vorwärtsstürzen und die Delinquenten mit Geld, Zigaretten und mancherlei aus schmutzigen Taschen hervorgeschabten Lebensmitteln überschütten. Ein Wirbel von Ratschlägen prellt durcheinander:

»Auf die nächste Bahnstation!« ... »Aber nicht nach Złoczów!« ... »Im Tender nehmen sie täglich Schwarzfahrer mit!« ... »Nein! Versteckt euch lieber am Tag! Versucht es in der Nacht!« ... »Reißt euch die Regimentsaufschläge herunter!« ... »In drei Tagen könnt ihr beim grünen Kader sein, dort findet ihr hundert solche Kameraden, wie ihr seid!« ... »Wer kann euch was nachweisen?« ... »Ihr habt ja keine Legitimationskapsel bei euch!« ... »Prokopec und Mrazek, gebt ihnen eure Urlaubsscheine!« ... »Ihr könnt ja melden, daß ihr sie verloren habt.« ... »Das ist wahr, Herrgott Sakrament!« ... »Gebt ihnen die Urlaubsscheine!« ... »In vierzig Minuten seid ihr auf der Station.« ... »Um acht geht ein Zug nach Lemberg, mit dem bin ich schon gefahren.« ... »Nein! Steigt nicht in Lemberg aus! Die Militärpatroull am Bahnhof könnt euch verhaften. Der Zug fährt langsam. Springt auf der Strecke ab.« ... »Mit den Urlaubsscheinen kann euch nichts geschehn.« ... »Nur keine beschissenen G'sichter machen, sonst kommt ihr gleich in Verdacht.« ... »Ihr habt ja zwei Stunden Zeit, eh' sie euch nachtelephonieren werden.« ... »Vorher steht bei der Division keiner der Herren auf.« ... »Überlegt es euch, Brüder!« ... »Seid geschickt, Brüder!« ... »Laufschritt, Laufschritt!«

Der erste, der sich von der Todesumschlingung befreite, war Schwec. Er stieß laut den Atem aus, schüttelte den ihn umringenden Haufen ab wie ein Wild die Meute und rannte, ohne sich umzusehen, die Böschung hinan, hinter der er verschwand. Teinfalt, der ihm nachstrebte, fiel vor Benommenheit dreimal zusammen, ehe er die Höhe erreichte. Franz Pacak zeigte, wie zu erwarten stand, die größte Gelassenheit. Auf der Erhebung oben angelangt, blieb er stehen, schwenkte die Kappe und schrie:

»Brüder! Auf Wiedersehen in der Freiheit! Es lebe der Leutnant!«

Und jetzt ereignete sich etwas Einzigartiges. Pacaks Ruf, »Es lebe der Leutnant!«, hatte Ferdinand plötzlich in den Mittelpunkt des Vorgangs gerückt. Die Soldaten begriffen das Ungeheure seiner Tat. Ein einzelner Mensch hatte sich der millionenfach gesicherten Maschine der militärischen Befehlsgebung entgegengeworfen und sie, ohne sich selber zu »decken«, mit einem einzigen Hieb zerstört. Und dieser bescheidene Leutnant hier, ein junger Mensch, der keinem der eingebildeten Brüllaffen glich, er hatte diese unfaßbare Tat gewagt. Aus der gedrillten Abteilung von stumpfen Soldaten war eine Masse begeisterter Menschen geworden, die den Helden dicht umdrängte. Es muß wahrheitsgemäß festgestellt werden, daß wenigstens die Hälfte dieser abgebrühten und durch das Grabenleben verrohten Männer Tränen in den Augen hatte. Ein alter Landsturmmann umarmte und küßte Ferdinand. Nachdem sich die erste Erregung gelegt hatte, riefen viele Stimmen sogleich:

»Herr Leutnant, wir werden Sie schützen! Wir decken Sie! Wir dulden nicht, daß Ihnen etwas geschieht! Wir nehmen es auf uns!«

Jetzt, in dieser Stunde, war der Haufen apathischer Kriegsteilnehmer zu wirklichem Heldenmut bereit. Ein junger Mensch hatte dem ganzen Staat und dem ganzen Krieg zum Trotz drei Verlorenen das Leben geschenkt. Er hatte das Beispiel einer Kühnheit gegeben, die größer als alle jene Heldentaten war, für die man die Goldene verliehen bekam. Aus seinem Innern war das seltenste Gedicht des Lebens gesprungen, die echte revolutionäre Tat. Die dumpfigste Seele hier auf der Halde von Kolkow spürte das und war ein paar Minuten lang bereit, diesem Manne Gefolgschaft zu leisten.

Immer wieder erneuerte sich der Sturm um Ferdinand. Der Profos und die höheren Chargen waren die ersten, die verlegen wurden. Der Feldkurat hingegen schien außer sich vor Begeisterung zu sein und röchelte immerzu:

»Herr Leutnant, Gott segne dich! Aber du wirst draufzahlen!«

Dann drehte er sich der Mannschaft zu:

»Ihr seid alle Zeugen! Ich bin von der Geschichte krank geworden und muß mich gleich hinlegen. Ich hab damit nichts zu tun. Meldung mache ich keine. Fällt mir nicht ein. Das ist Sache des Herrn Auditors. Gott soll dir helfen, Herr Leutnant! Du bist ein Mensch! Ich geh, ich geh ...«

Mit zitternden Händen verpackte er seinen silbernen Gott in dem Wachstuchfutteral, worin er einer Waffe glich oder bestenfalls einem Musikinstrument.

Jetzt erst verfiel Ferdinand, der bisher träumerisch abwesend dagestanden war, in einen leichten Weinkrampf. Der alte Landsturmmann streichelte ihm die Hände. Die anderen redeten wirr auf ihn ein, indem sie ihm rieten, ebenfalls die Flucht zu ergreifen. Einer, der ihn für so selbstlos hielt, daß er nicht um sein eignes Schicksal bange, suchte ihn über die Zukunft der Geretteten zu beruhigen. Ferdinand aber, für den es den mißbehaglichsten Zustand bedeutet, einen Mittelpunkt des Gefühls zu bilden, riß sich los. Nun wieder ganz und gar Offizier, kommandierte er:

»Feldwebel! Vergatterung! Nach Hause!«

Erst als der Marschtritt der Kompagnie auf der Straße verhallt war, machte sich Ferdinand selber auf den Weg. Den Gedanken an eine eigene Flucht verwarf er sogleich. Sie konnte nicht gelingen. Und dann entsprach sie nicht der Lebenskraft, die ihn von Schritt zu Schritt stolzer durchströmte. Er war, um es richtig auszudrücken, jetzt und hier in seinem ganzen Dasein das erstemal auf der Höhe seines reinsten Selbstbewußtseins. Aus dieser Harmonie quoll die Lebenskraft und auch die klare Denkschärfe, die ihn gelassen die Zukunft überprüfen ließ.

Mit eisiger Folgerichtigkeit legte er sich die Möglichkeiten von Steidlers Rache zurecht, die seiner harrten. Der normale Fall: Er wird bei seiner Heimkunft verhaftet, kommt vors Kriegsgericht und wird entweder zum Tode oder zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. Das Kriegsgericht dürfte keinesfalls in dem beschränkten Rahmen einer Divisionsauditur vor sich gehen. Man würde hier nur die Vorvernehmung pflegen und ihn höchstwahrscheinlich dann dem Armeegericht in Lemberg überstellen. Dadurch wird sich der Fall ziemlich in die Länge ziehen. Seine Tat gehört nicht in das Kapitel »Hochverrat«; nach dieser Seite kann sie die Militärjustiz beim besten Willen nicht drehen. Er hat das schwere Verbrechen der Befehlsverletzung und Insubordination begangen, jedoch nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Kriegführung und auch nicht unter ehrlosen Begleitumständen. Da er weder einer meuternden Nation angehört, noch sonst politisch verdächtig ist, drei Jahre urlaublos im Felde steht und einige Auszeichnungen besitzt, so scheint gerechte Hoffnung vorhanden, daß man ihn als Sohn seines Vaters nicht zum Tode verurteilen werde. Das weiß der kluge Steidler ebenso wie er und weiß außerdem, daß eine Amnestie oder das Kriegsende derartige Gefängnisstrafen aufheben können. Nein, er wird seinen Rachedurst phantasievoller kühlen. Steidler ist nicht der Mann, sein Opfer rein aktenmäßig einem zweifelhaften Gerichtsverfahren abzutreten. Aber was sonst? Wird er ihn in seine Kanzlei befehlen und dort niederschießen? Kaum! Steidler ist ein Feigling. Die Warnung, die er gestern ausgesprochen hat, dürfte eine aufgeplusterte Prahlerei sein. Mißhandlung freilich und Soldatenmord könnte man ihm schon zutrauen. Aber, da es sich um einen Offizier handelt, wäre er zur Rechtfertigung gezwungen, die er gewiß fürchtet. Noch eines! Ferdinand fühlt mit großer Sicherheit, daß Steidler eine Begegnung mit ihm, seinem Züchtiger, vermeiden wird, denn seit gestern abend ist er geschlagen und im Sinn der Offiziersanschauung der Ehre verlustig. Vielleicht hat doch jemand, Jozsi oder einer der Schreiber, seine Schmach durchs Schlüsselloch beobachtet, und er fürchtet nichts mehr als eine Begegnung mit Ferdinand vor Untergebenen, die möglicherweise Zeugen waren. Fürchtet er aber nicht auch die kriegsgerichtliche Verhandlung, wobei der Auftritt von gestern abend zur Sprache kommen könnte? Plötzlich steigt eine wichtige Tatsache, an die er noch nicht gedacht hatte, grell vor Ferdinand auf. Unter dem Exekutionsbefehl steht Steidlers Namenszug. Hat er überhaupt das Recht, solche Befehle auszufertigen? Ist das nicht Sache des Divisionärs? Wer ist denn dieser Steidler? Ein kleiner Generalstäbler, der seinen beurlaubten Chef vertritt. Ist er in seinem Machtrausch nicht allzu frech geworden? Ist nicht die Unterfertigung solcher Urteile eine verbrecherische Anmaßung, die ihm den Kragen kosten kann? Unzweifelhaft hat er hundert Feinde, die unter seinem Übermut knirschen und sich nach der Gelegenheit sehnen, die Schweinerei der Kommandoverhältnisse bei der Division aufzudecken!

Als Ferdinand sein Zimmer betrat, ahnte er, daß auch unter Steidlers Füßen der Boden zitterte. Ruhelos ging er auf und ab. Keine Angst, aber eine verzehrende Neugier vor dem Kommenden hielt ihn gepackt. Es kam aber erst nach einigen Stunden um die Mittagszeit. Zwei Offiziere, ein Hauptmann und ein Oberleutnant, erschienen im Zimmer und forderten Ferdinand auf, sich fertigzumachen.

»In die Divisionskanzlei?« fragte er.

»Keine Spur«, hieß es, »du wirst zum Abschnitt Sarcic transferiert ...«

Dieser harmlose Satz wogte wie eine warme Befreiung durch Ferdinands gespannte Nerven. Dann blickte er den Offizieren ins Gesicht. Sie sahen genauso aus, wie er sich die Freunde und Gesinnungsgenossen Steidlers vorstellte. Sogleich wurde er mißtrauisch. Die beiden verzogen keine Miene. Was wußten sie? Der Oberleutnant reichte ihm einen Dienstzettel. Ferdinand sah, daß er diesmal vom Feldmarschalleutnant selber unterzeichnet war:

»Leutnant Ferdinand R. hat sich unverzüglich zum Abschnittskommando Ferdinandowka zu begeben und sich dortselbst bei Herrn Oberstleutnant Sarcic zu melden.«

Weiter nichts als diese unauffälligen Worte. Was bedeuteten sie? Ferdinand wandte sich an den Hauptmann:

»Wer übernimmt meine Kompagnie?«

»Sie ist schon vor einer Stunde an ihren Frontabschnitt zurückgegangen.«

Mit entsetzten Grimassen stopfte Josef die Siebensachen seines Herrn in den Rucksack. Mit großer Höflichkeit erklärte der Hauptmann:

»Wir haben dich bis zum Abschnittskommando Ferdinandowka zu bringen. Der Wagen wartet unten. Hast du noch irgendwelche Verfügungen zu treffen?«

Kaum war dies ausgesprochen, als sich die Tür öffnete und der vor dieser Versammlung erbleichende Engländer im Rahmen stand. Er hatte gestern und heute eine unbezwingliche Sorge um Ferdinand empfunden und war trotz des Verbotes zu Fuß hieher durchgebrannt. Ferdinand umarmte den Kanonier, der noch niemals einen unmilitärischeren Anblick geboten hatte als in dieser Minute:

»Schön, daß ich dich noch vor meinem Abmarsch sehe. Du kommst gerade im letzten Augenblick.«

Engländer stolperte ins Zimmer und grüßte die beiden Offiziere, indem er mit unnachahmlichem Ungeschick die Hacken zusammenschlug und sich hochriß. Dann stand er unglücklich im Wege und wagte kein Wort zu sprechen. Der Oberleutnant machte eine Kopfbewegung nach Josef hin:

»Nimmst du deinen Burschen mit?«

»Nein! Josef, melden Sie sich beim Herrn Major Prechtl!«

Er schrieb ein paar Zeilen auf:

»Bringen Sie ihm das hier!«

Nun entstand eine peinliche Pause, die der Hauptmann dadurch abkürzte, daß er seine Armbanduhr studierte. Ferdinand mußte wohl oder übel selber den Anfang machen. Josef trug, sein Leid eifrig emporschnupfend, den Rucksack in den eleganten Wagen des Divisionskommandos.

Ferdinand drückte dem armen Engländer, der immer noch kein Wort herausgebracht hatte, die Hand, als nähme er keinen sonderlich wichtigen Abschied:

»Servus, Engländer! Auf Wiedersehn! Laß dir's gutgehn!«

Bei diesem Abschied blickten sich die beiden Freunde Steidlers an. Dann nahmen sie Ferdinand als ihren Gefangenen in die Mitte. Er rief noch einmal:

»Servus!«

Jetzt öffnete sich Engländers angstversiegelter Mund zum erstenmal:

»Komm bald zurück!«

Er hob den rechten Arm hoch, während seine Hacken wieder unnachahmlich zusammenschlugen, um den Vorgesetzten die Ehrenbezeigung zu leisten. Die beiden Offiziere schüttelten sich vor Lachen.


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