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Der Geburtstag Ferdinands fällt auf den achtzehnten August. Allen österreichischen Generationen von 1848 bis zum großen Umsturz war's ein wohlbekanntes Datum, ein hoher Staatsfeiertag, denn er bedeutete das Geburtsfest des alten Kaisers, der aus legendarischer Zeit unerschüttert in die Gegenwart hereinragte. Dieser Tag hatte seinen besonderen, freudigen Geruch. Allenthalben wurden Feste gefeiert, Gottesdienste gehalten, Triumphpforten errichtet, Blumen- und Koriandolischlachten geschlagen, Illuminationen vorgenommen, Feuerwerke abgebrannt. Das Kind hatte sich einen prächtigen Geburtstag ausgesucht und empfand die allgemeine Festlichkeit als einen Teil seiner eigenen Feier.
Zugleich aber bezogen im Monat August die einzelnen Truppenteile und -gattungen die Übungslager, wo zuerst korpsweise feldmäßige Ausrückungen und Kampfhandlungen stattfanden, um sich dann, nach Zusammenschluß größerer Verbände, zu den bedeutungsreichen Herbstmanövern zu steigern. Am Tage nun, da Ferdinand fünf Jahre alt wurde, lag das Regiment seines Vaters in einer durch ihre Heilquellen bekannten Gegend des Landes. Es fanden die sogenannten Korpsmanöver statt. Das heißt, die beiden Divisionen, die das Armeekorps der Hauptstadt bildeten, lagen in angenommener Fehde und markierten einen blutigen Feldzug. Dem Oberst war in diesem Krieg eine Feldherrnrolle zugefallen. Er befehligte eine der beiden Brigaden, aus denen sich jene Armee zusammensetzte, die von der andern durch ein weißes Band auf der Kappe jedes Soldaten unterschieden war. Papa und sein Brigadestab hatten in einem weitgedehnten Marktflecken Quartier bezogen. In der gleichen Ortschaft aber befand sich auch der Stab des Korpskommandanten, der die Manöver leitete. Feldzeugmeister Baron Röthel war ein liebenswürdiger alter Herr mit lila lächelnden Backen, der sich weit eher durch seine Lebenslust und sein Genußverständnis einen Namen gemacht hatte als durch eine hervorragende strategische Eignung. Er führte einen recht bunten Stab mit sich, der bei allen ernsthaften Offizieren, wie der Oberst einer war, eine mißbilligende Verwunderung erregte. Natürlich fehlte keine der vorgeschriebenen Chargen; aber was hatte die (wenn auch reizende) Kollektion von Damen im Reitkleid und Zylinder an der Front zu suchen? Wie die Dinge lagen, konnte sich der General vielleicht den Wünschen einiger extravaganten Gräfinnen, die ein Manöver in der Nähe miterleben wollten, nicht sperren; daß aber auch der Operettenstern Magda von Seilern im Feldherrnstab paradierte und der Komiker Siegfried Löwe vor der glanzvollen Herrenrunde allabendlich gepfefferte Jargonwitze zum besten ab – das war, wenn man sich vorsichtig ausdrücken will, unangemessen. Die ernstgesinnten Herren gesetzteren Alters schüttelten den Kopf. Sie dachten an die Kriegsgefahr, die von den Zeitungen alle halben Jahre an die Wand gemalt wurde. Der Balkan, hieß es dort, sei ein »Pulverfaß«, dem nur der Funke fehle, und der »russische Bär« schiele gierig nach Konstantinopel. Die Parlamente der beiden Reichshälften bewilligten keine Militärkredite, und die höhere Führung zeigte sich, wie dieses Beispiel bewies, ausnehmend sorglos ... Die jungen Herren hingegen und die Reserveoffiziere waren entzückt, daß man auf kotig-holprigen Landstraßen dann und wann einem eleganten Frauenflor begegnen durfte.
Den Eingeweihten galt es als selbstverständlich, daß zum Vergnügungschef, Hofmarschall und Zeremonienmeister des lebensfrohen Korpsstabs niemand anderer erlesen worden war als Onkel Bogdan. Schon in der Garnison galt der »fidele Veselovich« als erklärter Liebling des Feldzeugmeisters. Kein Wunder also, daß ihm die Stabsadjutantur während der Übungszeit übertragen wurde. Es wäre ungerecht zu behaupten, daß der Oberst in diesen Tagen mehr Plage und Arbeit hatte als der Rittmeister. Die Aufgabe Papas war schwierig, aber mannesschlicht, während Onkel Bogdan meist nicht wußte, wo ihm der Kopf stand, so diplomatisch verschlungen und listenreich war die Tätigkeit, die er entfalten mußte. Mama war sich durchaus im klaren darüber, daß Bogdan und nicht der Oberst das schwere, wenn auch reizvollere Amt versah. Sie hatte mit Ferdinand und Barbara die Sommerfrische in einem kleinen Bad bezogen, das nur eine schwache Wagenstunde von dem Markt entfernt lag, wo sich die Stabsquartiere befanden. Es verging auch kaum ein Tag, an dem sie diese Wagenfahrt nicht unternahm. Manchmal, wenn gerade eine Übung stattfand, bekam sie ihren Gatten gar nicht zu Gesicht. Aber der General und seine Umgebung empfingen sie freudig und huldigten ihrer Schönheit.
Der achtzehnte August war selbstverständlich Fest- und Rasttag. Im Tagesbefehle wurde den Truppen ein ausführliches Programm verlesen: Am Morgen Kirchgang, Hochamt, Predigt des Divisionsgeistlichen, nachher feierliche Ansprache der Herren Regimentskommandanten in den Truppenquartieren. Mittags: aufgebesserte Menage mit doppelter Ration für Unteroffizier, Mann und Pferd. Speisentafel: Linsensuppe mit Wurst, Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, sodann Zwetschkenkolatschen. Danach freier Ausgang bis elf Uhr abends. Nachmittag: ab vier Uhr Platzmusik der Regimentskapelle Nr. 73. Reihenfolge der Nummern. Erstens: Märsche. Zweitens: Dorfschwalben aus Österreich, Walzer von J. Strauß. Drittens: Ouvertüre zur Oper »Die diebische Elster« von G. Rossini. Viertens: Phantasie aus der Oper »Die verkaufte Braut« von F. Smetana. Fünftens: Der Traum eines Reservisten, großes militärisch-musikalisches Lebensbild. Sechstens: Die Volkshymne. Bei Anbruch der Dunkelheit: »Kolossales Brillantfeuerwerk (abgebrannt von Mannschaften der Batterie I des Korpsartillerieregimentes Nr. 8) und Abendkonzert mit freiem Programm.« Soweit die Festlichkeiten, die man der Mannschaft und Ortsbevölkerung zugedacht hatte.
Für die Feiertagsbedürfnisse der Herren Offiziere war nicht minder liebevoll vorgesorgt. Jede einzelne Messe veranstaltete ein üppiges Festmahl, der große Stab aber ein Bankett, dessen Menü mindestens acht Gänge umfaßte. Zum dritten Gang schon war Champagner von edler Marke vorgesehen.
Der Streit wegen dieses Banketts war die erste Wolke, die den Unglückstag verdüstern sollte. Der Oberst und Mama waren natürlich eingeladen. Da Papa während der Manöver die Rolle eines Brigadechefs spielte, gehörte er formal nicht zu den Regimente, dessen Befehlshaber er war. Es lag für ihn also keine Notwendigkeit vor, der Offiziersmesse seines Regimentes an diesem Tage zu präsidieren. Zu Mamas allergrößtem Verdruß aber hatte er sich beim Feldzeugmeister entschuldigt und die Nichtannahme der Einladung damit begründet, daß er bei Gelegenheit des kaiserlichen Geburtsfestes seinen engeren Kameraden nicht untreu werden wolle. Ferdinand war freudig bewegt, denn Papa hatte ihm versprochen, daß er an dem feierlichen Mahl der Regimentsoffiziere werde teilnehmen dürfen. Mama aber weinte, tobte, bekam schwere Zustände, drohte, daß sie zurückfahren werde, besann sich wieder anders und schwor, sie wolle nötigenfalls auch ohne Papa beim Generalsbankett erscheinen. Es währte volle zwei Stunden, ehe der Oberst seine Gattin durch die geduldigste Erschöpfung zwingender Gründe von diesem skandalösen Vorhaben abbringen konnte, dessen Verwirklichung ihn als Ehemann unmöglich gemacht hätte.
Der Friede, der geschlossen wurde, war nur ganz oberflächlicher Natur. Mama erschien zwar beim Essen der Regimentskameraden, aber sie ließ lange auf sich warten. Dem Oberst, der mit Ferdinand schon eine halbe Stunde müßig unter den Offizieren saß, war dies sehr peinlich. Dieses Festmahl bedeutete eine männliche, eine soldatische Sache. Er empfand die Anwesenheit einer Frau bei solchem Anlaß und in diesem Kreise überhaupt als ungehörig. Nun aber war der Höchstkommandierende selbst für derartige Neueinführungen verantwortlich, da an seiner Tafel nicht eine, sondern sieben Damen saßen. Was sollte er tun? Ein Feiertag! Olga war ins Lager gekommen. Er konnte sie nicht allein zum Exzellenzbankett gehen lassen, aber auch an einen Katzentisch setzen konnte er sie nicht. Welch ein Affront, daß sie nicht pünktlich kam ...
Sie erschien in einen Schleier von unnahbarer Überheblichkeit gehüllt. Bei Tisch saß sie zwischen dem Oberstleutnant und dem ältesten Major. Sie brachte die erstaunliche Leistung zustande, während des Mahles fast kein Wort zu sprechen. Ihre Nachbarn gerieten immer mehr in Verlegenheit, der jähzornige Major wurde plötzlich dunkelrot und wandte sich brüsk ab. Papa versuchte anfangs die Situation zu retten und ließ ein paar flügellahme Scherze los. Man lachte kaum pflichtgemäß. Da verdüsterte er sich und blickte nicht mehr von seinem Teller auf. Die Peinlichkeit wurde noch dadurch vermehrt, daß der Oberst im Gegensatz zur gültigen Gepflogenheit vergaß oder es unterließ, das Kaiserhoch auszubringen. Die Herren tuschelten untereinander und erwogen, ob man dem Chef in zarter Weise dies sein Versäumnis zur Kenntnis bringen solle. Der Regimentsarzt Doktor Lederer aber, der in seelischen Fragen eine gewichtige Stimme besaß, winkte mit einer matt-beredten Handbewegung ab: Wozu?
Das betretene Schweigen breitete sich aus wie vergossenes Wasser auf einem Tischtuch. Selbst das sonst so heitere »Haus der Gemeinen«, wie von alters her das untere Tafelende hieß, wagte kein lautes Wort. Dort saß auch Ferdinand, von Fähnrich und Reserveleutnant betreut. Der Knabe fühlte genau den Zwist seiner Eltern und die unerträgliche Auswirkung dieses Zwistes. Aber er machte sich nichts wissend und verbarg seine Verstörtheit, indem er die Geburtstagsgeschenke immer wieder hervorholte und seinen Nachbarn zeigte. Diese Gaben bestanden in einem Buch mit Abziehbildern, in einem Steinbaukasten und einem recht großen, dem Leben genau nachgebildeten Dragoner zu Pferde. Daß dieses Geschenk von Onkel Bogdan stammte, muß nicht erst erwähnt werden.
Die Ordonnanzen hatten den schwarzen Kaffee noch nicht gereicht, als sich Mama unvermittelt erhob. Auch der Oberst schnellte fast gleichzeitig auf. Einen Augenblick lang schloß er die Augen und zeigte die Zähne. Dann aber erschuf er in seinen Zügen ein breites Lächeln und rief mit besonders markiger Stimme: »Mahlzeit, meine Herren!« Auf diese Weise gelang es ihm, dem unerhörten Vorstoß seiner Gattin, die hier nicht Hausfrau war, zu begegnen. Er entschuldigte sich für eine Weile bei der Versammlung und folgte Mama, die den Saal ohne Rücksicht auf die geringste Höflichkeit verließ, in den Vorraum.
Die Offiziersmenage war in dem großen Schulhause des Marktes untergebracht. Ferdinand, der mit seinen Eltern gegangen war, sah auf dem Gange die Abbildungen verschiedener Vogel- und Insektenarten. Papa hatte seine Ruhe wiedergewonnen. Nur die Hand, in der er die Zigarette hielt, zitterte ein wenig. Aber diese Hand mit der Zigarette zitterte fast immer. Er fragte in sehr gleichgültigem Ton:
»Was hast du für den Nachmittag vor?«
Mama gab die trotzigen und gewählten Antworten einer Angeklagten:
»Ich fühle mich zwar durchaus zu keiner Rechenschaft verpflichtet. Aber bitte sehr ... Ich bin zu einer Partie auf den Kleebühl verabredet. Übrigens weißt du es ja selbst. Wir fahren um vier Uhr ...«
»Wer, wir?«
»Auch diese Frage ist überflüssig, denn du kannst dir die Antwort selber geben: Exzellenz, die andern Damen und so weiter ...«
»Es wäre mir lieber, wir könnten die Nachmittagsstunden gemeinsam verbringen.«
Mama nahm den Rückzug in diesen Worten wahr. Sie schaltete deshalb einen vorwurfsvollen Klang ein:
»Lieber Freund, deine Haltung ist nicht danach, daß ich Lust auf eine derartige Idylle hätte.«
Der Oberst ließ eine unsichere Pause eintreten. Wie jeder ehrliche Mann war er durch Antastung seines Schuldgefühles leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Seine Stimme sehnte sich jetzt nach Ruhe:
»Und wann gedenkst du heimzukehren?«
Mama brachte zum Ausdruck, daß an ihrem Entschluß kein Mensch etwas Unerwartetes zu finden habe:
»Ich bleibe heute abend hier.«
Papa gewann sofort seine gleichgültige Kälte wieder:
»Eine zweite Verabredung wohl?«
»Gewiß! Aber nur en petit comité. Die Gräfinnen Schlick und einige Herren vom Stab ...«
»En petit comité? Sehr schön.«
»Es ist unangenehm genug, daß du nicht mit mir erscheinst. Aber du schließt dich ja selber aus. Immer die alte Geschichte. Du stößt die Menschen vor den Kopf, die dir wohlmeinen. Auf diese Art werden wir nie einen halbwegs möglichen Verkehr haben.«
Der Oberst ließ dieses bekannte Lied ohne Wimperzucken über sich ergehen, ehe er antwortete:
»Ich habe im Gegensatz zu den Herrschaften eine andere Auffassung meiner Pflichten. Für morgen ist eine entscheidende Übung angesetzt.«
Mama deutete durch eine Miene an, daß sie dieser entscheidenden Übung nichts in den Weg zu legen gedenke. Der Oberst seinerseits schien sich mit dem petit comité abgefunden zu haben. Er fragte in der überlegend-abgehackten Art älterer Offiziere:
»Und wo wirst du nächtigen?«
Mit herausfordernder Seelenruhe erklärte Mama:
»Veselovich hat für das Kind, Barbara und mich zwei Zimmer im Hotel reservieren lassen. Es soll gar nicht so unmöglich sein, dieses sogenannte Hotel.«
Mamas Vermutung war nicht ungerechtfertigt. Da in der Nähe dieses Ortes einige Fabriken und große Güter lagen, besaß er einen überraschend geräumigen Gasthof. In diesem Hotel war auch der größte Teil des Korpsstabes untergebracht, während Papa und seine Kanzlei sich mit einem größeren Bauernhaus zufriedengeben mußten.
Aus der Offiziersmesse drang jetzt ein sattes, zuvorkommendes Gewieher, wie es auf eine Zote zu folgen pflegt, die ein »Höherer« herablassend-ordinär zum besten gibt. Der Oberst blickte, gestört, die Tür an. Dann wandte er sich mit einem unbegründeten Lächeln an seine Frau, als verberge er höflicherweise arge Kopfschmerzen:
»Ich glaube, wir haben nun alles besprochen und können Abschied nehmen?«
Mama fragte jetzt etwas kleinlaut:
»Werde ich dich morgen wiedersehen?«
Der Oberst nahm den Ausdruck schwierigen Erwägens an:
»Morgen? Wie? Nein, ich glaube nicht.«
Ferdinand, dem das Gespräch seiner Eltern zu lang geworden war, saß auf den Stufen und hielt seinen Dragoner auf den Knien. Etwas aber zwang ihn jetzt, aufzustehen und genau die Mitte zwischen Vater und Mutter zu suchen. Unschlüssig und mahnend sah er beide an. Mama wartete noch eine Weile, dann sagte sie weicher und ängstlicher als sonst:
»Vielleicht findet sich doch eine Gelegenheit morgen, daß ich dich sehen kann ... Die Übung wird ja nicht bis in die Nacht dauern ...«
Papa schien dieses schuldbewußte Entgegenkommen zu überhören. Geistesabwesend stand er da, während neuerliches Gewieher aus dem Speisesaal drang. Da sagte Mama spitz:
»Komm, Bubi!«
Ferdinand machte einen gehorsamen Schritt. Der Oberst aber stieß einen merkwürdig keuchenden Ruf aus und war mit einem Sprung bei dem Kinde. Er riß es an sich heran und preßte ihm wütend die Hände. Mama stand unentschlossen am Kopf der Treppe. Ferdinand, dem des Vaters umklammernder Griff einen wütenden Schmerz zufügte, beherrschte sich tapfer und gab keinen Laut von sich.