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»... non sordidi lucri causa nec ad vanam captandam gloriam, sed quo magis veritas propagetur et lux eius, qua salus humani generis continetur ...«
Gleichgültig näselnd leierte ein unbewegter, von grauen Fransen umhangener Mund diese Promotionsformel, die träge in dem Hörsaal nachhallte, wo die Feier stattfand. Die abgestandene Sphäre des städtischen Junitages gerann in diesem brütenden Raum zu einer Art von Fettluft, die man nur schwer atmen konnte. Matt funkelte die Goldkette des Rektors. Die uralten Worte klangen wie leere Zaubersprüche, deren Gebrauchs man sich schämt. Bei allen großen Anlässen des Menschenlebens klingen sie so, bei Begräbnissen, Trauungen, Taufen. Sie bewirken fast immer eine unmerkliche Verlegenheit. Man schlägt die Augen nieder, weil ihr Sinn unverständlich bleibt, weil sie aus einer längst versunkenen Welt herlauten, und weil jedermann den Funktionär für einen gleichgültig-ungläubigen Pfaffen hält, der sich bei seinem Hokuspokus nicht einmal Mühe gibt, die Scheinheiligkeit zu wahren.
»Haec vos ex animi vestri sententia spondebitis ac pollicebimini.«
Auf dem Podium standen heute in einer lockeren Reihe vier Mediziner, um ihr Doktordiplom zu empfangen. Einst hätte man sie für recht verbummelte Studenten und bemooste Häupter gehalten, denn jeder von ihnen hatte schon das dreißigste Jahr hinter sich. Der zugleich feste, wie auch freudlose Ausdruck ihrer Gesichter bewies, daß für diese Männer die ehemals so goldene Romantik des Alkohol-, Kommers- und Mensurstudententums einer etwas lächerlichen Vorzeit angehörte, die man kaum mehr dem Hörensagen nach kannte. Alle vier hatten ihre Jugend im Kriege verloren. Drei Jahre mußten ihnen genügen, um den großen Stoff zu bewältigen, für den sich eine frühere Jugend vier, ja fünf Jahre Zeit lassen durfte. Sie waren alle arm.
Es gab in Wien, bis auf die prächtigen Sumpfgewächse am Rande des Elends, kaum eine Familie, die im Kriege oder im Zusammenbruch der Währung nicht das meiste eingebüßt hatte. So bildete selbst der büffelnde Fleiß noch einen Luxus, den man sich durch andre Arbeiten, Erniedrigungen, zweifelhafte Geschäfte und Durchstechereien erkaufen mußte. Dies war der Grund, warum die Gesichter der Doktoranden so nüchtern und unlustig aussahen, bis auf eins, das einen völlig geistesabwesenden Eindruck machte.
Pyrrhussiege erwecken keine Freude, sondern nur Müdigkeit und eine angeekelte Verwunderung darüber, daß etwas Unmögliches, ja Unerlaubtes gelungen ist. Und was war schließlich schon gelungen? Ausgepumpt stand man am Start eines ziemlich hoffnungslosen Wettrennens.
Die vier Gestalten, die hier an diesem Berufs-Start standen, drückten durch Haltung und Anzug deutlich die trüben Illusionen aus, die sie sich vom Glanze der Zukunft machten. Einer war schon recht dick und glatzköpfig. Er trug am lichten Tage einen Smoking, in dem er wie ein Kellner aussah, was er auch fallweise gewesen war. Ein andrer unterstrich den »Werkstudenten«. In seinem blauen Anzug bot Ferdinand weitaus den besten Anblick, obgleich die letzten Jahre für ihn noch verwickelter gewesen waren als für seine Kollegen. Er dachte aber jetzt nicht an diese Jahre, an die unermüdlichen, oft phantastischen Versuche, Geld zu verdienen, an die überraschenden Berufe, die sich ihm eines Tages öffneten, um drei Wochen später wieder so sagenhaft zu sein wie vorher.
Und dennoch, das Elendsjahr von 1913 hatte Ferdinand weit mehr mitgenommen als das aberwitzige Getriebe des Nachkriegs, das auch manchen armen Mann leidlich ans Ufer brachte. Die Leute klagten zwar tief erbittert. Alles wäre tausendmal schlechter als einst. Nach Ferdinands Erfahrung aber war der einzelne viel weniger verstoßen und verloren als in den gepriesenen Zeitläuften des Friedens. Die Revolution hatte ihre erstaunlichen Folgen gehabt.
Der Aderlaß des Kapitals, der ängstliche Unglaube des Reichtums an sich selbst, die ewige Furcht vor dem sozialen Umsturz, dies alles schuf in diesen Tagen nicht nur (wie die Unzufriedenen schmähten) die große Arbeitslosigkeit, sondern auch eine Fülle unregelmäßiger Einnahmsquellen für viele. Das Ewig-Starre war in Fluß gekommen, die eingeborene Herzenshärte des Besitzes hatte sich in schaumige Gier aufgelöst, die allerlei Volk zugute kam. Aber mehr noch, das kalte hornige Gewissen der alten Welt war, wenn auch nicht bekehrt, so doch mürbe geschlagen. Die ehernen Gegensätze von einst, sie konnten nicht weiter bestehen. Nur mit Grauen sah ein offenes Auge jetzt jene Zinskasernen von dazumal, deren Baufläche zu vier Fünfteln in Massenquartiere verwandelt war, damit die heilige Tasche des Hausherrn ja nicht abmagere. Unerträglich erschien fortan das licht- und lustlose Schreckenssymbol der proletarischen Wohnstätte, das den Namen »Lichthof« trug. Mächtige Volksbauten schossen aus der Erde mit weiten rasenbestandenen Höfen, die Gärten glichen. Heime und Pflegestätten für Kinder wurden in allen Bezirken aufgetan, damit kein unschuldiges Geschöpf mehr unter die Räder einer Weltordnung gerate, die es sich nicht ausgesucht hatte. So unvollkommen dies alles noch sein mochte, es bildete doch den ungeheuren Wert der Revolution. Jenseits alles erregten Geredes und Gefuchtels durchbrach ein neues Gesicht der Welt die platzende Maske. Tief litten jene, die beim Umbau der Bühne mit der alten Dekoration in die Versenkungen gegangen waren. Aber es litten auch Glücklichere, die sich einbildeten, Gott habe ihnen vertraglich garantiert, das irdische Gleichgewicht ihrer Jugendzeit für immer zu bewahren. Nie noch hatte Ungerechtigkeit verstockter die guten Dinge der Erneuerung geleugnet. Aufgewühlt war in allen Menschen nicht nur die wache Interessenkampfbereitschaft, sondern mehr noch die dunkle, väterererbte. Und aus ihr strömte das dumpfeste, irrationalste Wesen oder Unwesen, das sich für die Vernunft schlechthin hält, die Politik. Die einen lobpriesen, die andern verdammten, und keiner von beiden ahnte das Leben.
Es gibt keinen Fortschritt, und es gibt keinen Stillstand. Die Zeit ist keine Touristin und Gottes verschlungene Kurve kein markierter Weg.
Eines steht fest, Ferdinand schlug sich in diesen Jahren besser durch als einst. Die Nachhilfestunden, die er gab, wurden menschlicher bezahlt als vor dem Krieg. Die neue Kaste sparte nicht.
Sie bezog nun die Schlösser, Paläste, Patrizierwohnungen und zögerte nicht, einen Informator, dem man die bessere Herkunft anmerkte, zum Zeugen ihres Wohllebens zu machen. Der Gebildete bekam die Aufgabe, Bibliotheken einzurichten, Bücher, die man gelesen haben mußte, anzuempfehlen und die neuen Reichen in die Handlung berühmter Opern und Schauspiele einzuweihen, damit sie sich vor den geldälteren Bekannten im Theater nicht blamierten. Aus seiner Erfahrung her war Ferdinand der Ansicht, daß die neuen Reichen den alten unbedingt vorzuziehen seien. Sie hatten das Würde-Pathos des Geldes noch nicht entdeckt, sie sahen mit Erstaunen seine eigenwilligen Sprünge, sie glaubten nicht an seine Dauer und waren deshalb im gewissen Sinne demütig und freigebig. Der Spuk solcher Anstellungen ging aber jedesmal schnell zu Ende. Ferdinand hatte gemäß seinem Wesen und Schicksal nur zweimal das Glück gehabt, an derartige Leute zu geraten. Weit öfters waren es recht dunkle Berufe, die er ergreifen mußte. Als es ganz schlecht um ihn stand, hatte er sogar als Zeitungskolporteur gedient. Ein andermal war er Gehilfe eines vorstädtischen Heilkünstlers gewesen, der kein Doktorat besaß und daher die Öffentlichkeit scheute. Zu seinem eigenen Erstaunen fand er sogar mehrere Monate lang seinen Verdienst als Aushilfsmitglied des Burgtheaterchors.
Doch nicht an all dies Schattenhafte dachte er jetzt, während er das Diplom empfing. Seine Geistestätigkeit konnte man überhaupt nicht Denken nennen, sondern nur den Versuch, mit dem eigenartigen Zustand, der ihn beherrschte, fertigzuwerden.
Ihm war, als seien nicht Jahre, sondern nur Stunden, ach, vielleicht nur Augenblicke vergangen, seit ... ja, seit wann? Seit den vier Tagen, die er im Polizeigewahrsam hatte zubringen müssen? Nein! Seitdem er zum letzten Male im Säulensaal gesessen? Nein! Seit der Morgenfrühe auf der Halde von Kolkow? Nein! Seit der Nacht, da er zum erstenmal im Leben in einer Etappenstadt Champagner getrunken? Nein! Seit den dämmrigen Stunden im Alumnat des Churhauses zu Sankt Stephan, als Engländer vor ihm die Christuswelt auferbaute und zugleich den kleinen Seminaristen entschlüpfen ließ? Nein! Seit der Militärschule? Nein! Seit seiner Kindheit? Auch nicht! Ihm schien, als seien nur einige gespenstische Minuten vergangen seit dem Nichts, seit der toten Ewigkeit, seit dem Noch-nicht-Sein. Dennoch aber kam er sich so abgelebt und alt vor. War dieser Zustand noch immer eine der Folgen seiner Verwundung? Oder bedeutete er eine übersinnliche Anwandlung, die er, Ferdinand, allein unter allen Menschen bestehen mußte? Nicht ungefährlich war sie, denn ohne äußeren Grund begann das Herz wahnsinnig zu klopfen, als müsse es einen Feind abwehren, der immer näher dringe.
Ferdinand versuchte, sich von solchen unerkannten Erkenntnissen loszureißen, und ließ seinen Blick auf der kleinen Versammlung unten im Auditorium ruhen. Es saßen etwa zehn Leute in den Bänken, Angehörige und Freunde der Doktoranden. Ferdinand begann jetzt ein wenig pflichtschuldig zu lächeln. Er hatte Mary erkannt.
Als er nachher mit ihr die Rampe der Universität hinunterging und auf die junivergoldete Ringstraße trat, war die Verwirrung noch immer von ihm nicht gewichen. Er brachte kein Wort heraus. Doch mit aller Kraft scheltend, redete seine Seele sich selber zu:
Ich muß sie lieben, ich muß ihr dankbar sein, ich muß sie lieben. Was alles hat sie in den letzten zwei Jahren für mich getan! Und ich bin ihr jetzt so fern, ich gehe neben der Reizenden wie ein gleichgültiger Fremder. Ich sollte sie viel, viel mehr lieben! Wäre nicht jeder andere glücklich und würde Opfer bringen, um an meiner Stelle zu sein? Und ich mache nicht den Mund auf, denn etwas Unbeherrschbares zieht mich fort. Zwei Jahre schon hält sie es mit mir aus. Warum nur? Sie ist jung und bildhübsch. Jeder sagt das. Und ich bin ein elender Schlucker, ein Bettler. Gut, das wäre nicht das Schlimmste. Aber ich hab weder Talente noch einen Geist, der brillieren kann. Mit mir steckt sie keine Ehre auf. Dabei bin ich ja im Grunde meines Wesens ein kalter, tauber Egoist, der durch nichts zu binden ist. Sie weiß es. Und doch ist sie unendlich gütig und bringt einem solchen Menschen Glück über Glück, der ihr kein Glück bringt und ihrem Schicksal nur im Weg steht. Warum liebt sie mich? Und warum bin ich jetzt so weltenfern von ihr? (Wo sind wir nur?) Wenn sie zu mir kommt, bringt sie immer eine Gabe, eine Hilfe mit. Und ich? Ekelhaft! Sie ist doch so schön! Dankbar müßte ich sein und sie anders lieben ...
Diese Denkanstrengung zur Liebe aber war ebenso vergeblich, als der Versuch gewesen wäre, sich zu freuen, daß er nun sein Studium unter den schwersten Umständen vollendet hatte, Doktor war und bürgerlich eingeordnet.
Mary hingegen schien sich innig zu freuen und so tief zufrieden zu sein, daß sie gar nicht nach einem Gespräch verlangte.
Ferdinand sah sie von der Seite an. Ihr Kopf war leicht gegen die rechte Schulter geneigt. Sie hielt die Augen vor der starken Sonne geschlossen. Die Nasenflügel zuckten manchmal leise. Er hatte das so gern an ihr. Mary war sehr gut gekleidet. Ihr weiter und schöner Schritt, ihre schwingende Gestalt verrieten den Freimut eines selbständigen Wesens. Sie leitete gemeinsam mit einer berühmten Tänzerin eine tanzgymnastische Schule, die auf den neuen Grundsätzen der körperlichen Erziehung beruhte. Ihr eigentliches Fach aber war die Musik. Sie hatte die Staatsprüfung als Pianistin abgelegt. So wandelte Mary mit ihren dreiundzwanzig Jahren auf einem festen, gesicherten Weg, während Ferdinand mit dreißig noch immer ein blutiger Anfänger war. Wer weiß, vielleicht liebte sie ihn gerade deshalb. Solch lebensfrische Frauen wie sie fühlen sich ja oft zu Männern hingezogen, die nur mit halber Aufmerksamkeit kämpfen. Es ist nicht allein die mütterliche Hilfsbereitschaft, die sich mit Lustgefühlen des Hilflosen erbarmt, sondern die verehrende Ahnung eines Adels, der jede witternde Strebsamkeit verschmäht. Mary und Ferdinand sahen sich nicht allzu oft, meist nur am Sonntag, da ihr Beruf sie während der Woche nicht freiließ. Auch dann geschah es, daß Ferdinand oft halbe Stunden lang nichts sprach. Mary kannte das. Deshalb bekümmerte sie jetzt seine Schweigsamkeit nicht weiter. Sie machte den Eindruck einer heiteren Frau, die sich einer lieben Stunde entgegenfreut, deren glückliche Veranstaltung sie mit Umsicht selber getroffen hat.
Es ist doch zu dumm, daß ich so auf den Mund gefallen bin, knirschte Ferdinands Gewissen! Und mit einer gegen seine Absicht unfrohen Stimme fragte er:
»Was hast du vor? Wohin gehn wir?«
Mary nannte ein Restaurant in der Nähe der Oper. Dort hatte sie ein kleines Sonderzimmer reservieren lassen und ein festliches Mahl bestellt, um Ferdinands Ehrentag gebührend zu feiern.
»Das ist eine glänzende Idee«, sagte er und litt darunter, daß er den richtigen Gefühlston noch immer nicht finden konnte. Von seiner Wertlosigkeit erdrückt, ging er weiter neben ihr her, ohne ihr sein Gesicht zuzuwenden. Er sah immer vor sich hin zur Erde, wo Marys schmale Beine sich bewegten wie eine helle schnelle Musik. Wie lieb war sie. Seine Schwere, sein Schweigen verstimmten sie, wie es schien, noch immer nicht. Sonst nahm er auf Spaziergängen stets ihren Arm unter den seinen. Heute aber hinderte ihn der widrige, unbekannte Gefühlszustand an dieser kleinen Zärtlichkeit. Fast war es wie eine heimliche Tücke, die jedoch nur zum geringsten Teil in ihm selber lag. Von außen her drang dieser hemmende Einfluß auf ihn ein. Mary gab durch nichts zu erkennen, daß ihr Ferdinands Kälte weh tue und ihre Freude herabmindere. Da verführte ihn sein Schuldgefühl zu einem kleinen Fehler. Er tat einen der schmerzhaften falschen Griffe in den empfindlichen Saitenbezug, der über den Resonanzboden einer Liebe gespannt ist. Es war ein Nichts, aber brachte einen Wechsel der Tonart. Ferdinand legte plötzlich ohne jeden Übergang und mit einer unwahren, allzu großen Bewegung seine Hand um Marys Taille. Sie blieb abweisend stehn und schob die Hand fort. Ihr Gesicht war streng und böse. Was eine Geste der Einigung hätte werden sollen, war zu einer Geste der Entfernung geworden. Im selben Augenblick – sie standen auf einer Straßenkreuzung – sauste dicht an Mary, die sich zu weit vorgewagt hatte, ein Auto vorbei. Ferdinand riß sie zurück. Der Lenker drehte sich um und schimpfte. Eilig überquerten sie die Fahrbahn. Die Verstörte duldete Ferdinands Arm nicht, der sie führen wollte. Am andern Ufer aber überwand sie sich und sagte nichts.
Alle Säle des Restaurants waren überfüllt. Die Menschen saßen nun wieder vor bunt und prasserisch hergerichteten Schüsseln. Jeder schien fest entschlossen zu sein, mehr zu essen und zu trinken, als er vertragen konnte. Das dritte und vierte Jahr nach dem Kriege stand im Zeichen einer angestrengten Schwelgerei. Das Geld war nichts wert, und darum mußte sein Scheinwert, der den Tag kaum überlebte, zwischen Morgen und Abend ausgemünzt werden. Zwar erhoben die Zeitungen ein tägliches Jammergeschrei und verkündeten das Ende Europas, das tausendjährige Reich der wirtschaftlichen Vernichtung, aber die abgehärtete Zeitgenossenschaft, die an mancherlei Untergang schon gewöhnt war, ließ sich den Genuß nicht versalzen. Wohl sangen die Leute das Katastrophenlied willig mit, sie behaupteten, die Welt sei tot und verödet, aber noch nie, seitdem sie existierten, waren Europas Städte unter einem ähnlichen Hochwasser von Taumel und Rummel gestanden. Die heiligsten Güter bekam man um starke Valuta und Jedenmann und Jedefrau auch um schwächere. Die allgemeine Gier aber hatte ihre Ursache nicht nur in dem gesteigerten Appetit der Welt, sondern noch in einem andern Beweggrund. Der Mensch mußte sich immer wieder versichern, daß der Krieg und seine gräßlichen Entbehrungen zu Ende seien, daß man nunmehr alles haben könne, daß keine Macht der Erde den Genuß einzuschränken wage, daß man tun und lassen dürfe, was immer einem beliebe. Wie der Erwachende an der Grenze des Morgenschlafes sich ungläubig der neugeborenen Wirklichkeit versichert, so versicherte sich die Menschheit dieser Jahre allstündlich ihrer Genußfreiheit. Wohl schien der Alptraum der Schützengräben, Fliegerangriffe und Brotkarten längst vergessen zu sein, aber wenn auch die Köpfe seiner nicht mehr dachten, die dumpfen Glieder waren noch immer schwer von ihm.
Überall nisteten sich Bars, Tanzdielen, Räumlichkeiten eines stickigen Vergnügens, ein. Trotz Gold und Modearchitektur hatten sie vorerst noch ein ungesundes, ein provisorisches Aussehn; sie verrieten einen buntangestrichenen Baracken-Charakter und somit ihre Herkunft aus der Kriegswelt. Aber das änderte sich von Tag zu Tag. Immer solider wurde die entfesselte Lebensgier untermauert. Was war aus den Straßen geworden? Die Propheten, die eine grasbewachsene Verödung gekündet hatten, sie konnten sich heimgeigen lassen. Selbst in einer »sterbenden Stadt« besaß jeder Börsenjunge sein Auto. Zur rechten Zeit stellte sich die rechte Musikbegleitung ein. Noch waren die Friedensverträge nicht unterzeichnet, und schon durchstampften Amerikas Tanzrhythmen alle geselligen Räume und erfüllten ihre naturgewollte Aufgabe, die Todesangst der Welt und ihren apokalyptischen Kater mit der smarten Wurstigkeit verkehrt betonter Taktteile zu betäuben.
Selbst das altberühmte Stadtrestaurant, dessen Hauptsaal Ferdinand und Mary jetzt um drei Uhr mittags durchschritten, wurde vom unwiderruflichen Pochen eines Foxtrotts geprügelt.
Ein winziges Zimmer! Blumen auf dem Tisch:
»Das hast du wirklich entzückend gemacht, Mary! Ja, das bist du! ...«
Während des Essens zeigte sich Ferdinand gänzlich verwandelt. Er redete unablässig und entwickelte sogar Zukunftspläne, was er sonst niemals tat. Nun aber wurde Mary immer stiller, immer einsamer, immer abweisender. Sie hatte alles so schön hergerichtet und für gute Dinge gesorgt. Das kleine Festmahl aber, das sie ihrem Freunde zugedacht, es schien ihr mit einemmal keine Freude mehr zu machen. Sie aß – es lag ein gewisser Nachdruck in ihrer Mäßigkeit – fast gar nichts und gab nun ihrerseits auf alle Fragen nur knappe und entfremdete Antworten.
Von jeder Speise war Ferdinand stürmisch begeistert. Er beschwor Mary, nicht gar so fein zu sein und ihm doch beizustehn. Da diese Versuche, ihre Stimmung zu heben, nichts fruchteten, verlegte er sich aufs Erzählen. Er hatte in dieser Woche zwei Erlebnisse gehabt, von denen das andere merkwürdig genug war. Also zuerst: Ronald Weiß habe ihn besucht. Ein Wiedersehn nach fast drei Jahren. Er sei völlig unverändert. Immerhin ein starker Beweis für einen Menschen. Jetzt gehe Weiß nach Rußland, um die Sowjet-Verhältnisse zu studieren. Auch darin liege eine große Treue. Wiewohl ihm, Ferdinand, dies alles sehr gefalle, so habe bei der Begegnung mit dem alten Kameraden doch gar nichts innerlich angeklungen:
»Bin ich selber so sehr verändert, Mary? Ja, ich glaub, du hast mich verändert.«
»Ist das ein leiser Vorwurf?«
»Um Gottes willen, nein ...«
Keine Frau findet sich so leicht mit der Vergangenheit ihres Geliebten ab, und nicht nur mit der weiblichen. Ferdinands ehemalige Freunde, die sie aus seinen Erzählungen kannte, waren Mary fast durchwegs unsympathisch. Jetzt fragte sie, beinahe lauernd:
»Und das andere?«
»Du weißt doch, wer Gebhart ist. Ich hab öfters von ihm gesprochen. Der bedeutendste Mensch, dem ich im Leben begegnet bin. Trotz allem. Ich glaub, ich hab dir einmal etwas von Gebhart zu lesen gegeben ...«
»Stimmt! Ich hab kein Wort davon verstanden. Ihr seid damals mit solchen Worten wie ›genial‹ und ›bedeutend‹ sehr freigebig gewesen.«
Ferdinand dachte lange nach, wie er das Verzwickte erklären solle:
»Auf das, was er geschrieben hat, kommt's gar nicht an. Auch was er gesprochen hat, hält nicht stand ... Es läßt sich schwer definieren ... Ein Kokainist, ein zerstörter Mensch, ein Narr ... Nicht was aus ihm kam, war groß, er selber war groß ... Das ist ebenfalls nicht richtig gesagt ... Man hat ihn sehn müssen ...«
»Und auch er hat dich besucht?«
»In gewissem Sinne, ja ... Also denk dir, vorgestern komm ich nach Haus und finde ein großes Paket ... Was kann das sein? ... Es war schon acht Uhr und ziemlich dunkel ... Stell dir das vor ... Man öffnet nichtsahnend eine dunkelbraune Pappendeckel-Schachtel und findet eine Totenmaske ... Zuerst hab ich wegen der wunderbaren Nase geglaubt, es sei die bekannte Maske Napoleons ... Aber wie ich zum Fenster geh, erkenn ich Gebhart ... Auf diese Art hab ich erfahren, daß er gestorben ist ... Eine recht ungewöhnliche Parte ... Und dann ... Wer hat mir die Maske gebracht? ... Meine Wirtin kommt nach Haus und findet sie vor der Tür ... Eine höchst dunkle Geschichte ... Nicht mehr festzustellen ... Vielleicht ist es wirklich ein Vermächtnis des Toten an mich ... Übrigens, das schönste Menschengesicht, das ich mir denken kann ... Ich schau mir die Maske immer und immer an ... Du mußt sie sehen ...»
Mary lehnte schaudernd ab:
»Totenmasken sind für mich überhaupt das Ärgste ... Ich lauf aus dem Zimmer ... Als Kind schon hab ich's nicht ausgehalten ... Papa mußte das Leichengesicht Beethovens meinetwegen wegräumen ... Wenn ich je wieder zu dir kommen soll, versprich mir, daß du das Ding versteckst, aber ja nicht in der Nähe ... Am besten, du verschenkst es ...«
Die Totenmaske Gebharts war durchaus nicht angetan, Marys ermattete Freude wieder flügge zu machen.
Als die Walderdbeeren kamen, verlangte Ferdinand vom Kellner ein Kursbuch. Er stellte dieses Verlangen mit der aufgeschreckten Betonung eines Menschen, dem ein wichtiges Versäumnis plötzlich einfällt. Nun er sich aber mit Eifer in den Fahrplan zu vertiefen begann, sagte Mary:
»Wozu machst du dir die Mühe? Du weißt doch den Zug genau, mit dem du fahren wirst.«
Ferdinand blinzelte sie mit ungenügender Verwunderung an. Er war trotz seiner Statistentätigkeit am Burgtheater ein sehr schlechter Schauspieler. Mary aber hielt seine Aktentasche im Schoß. Statt Büchern und Schriften brachte sie umständlich ein paar Wäschestücke zum Vorschein und ein Säckchen mit Kamm und Bürste. Ferdinand stotterte:
»Ich hab das für alle Fälle eingepackt ... In der Früh war ich noch ganz unentschieden ...«
Er gab keine nähere Auskunft über seine Reiseabsichten. Mary fragte auch nicht. Obgleich er nur sehr selten, ja fast niemals mit ihr über diese Seite seines Lebens gesprochen hatte, so wußte sie doch alles. Langsam räumte sie die Sachen wieder in die Tasche zurück:
»Auf dem Weg von der Universität hierher ist es mir immer klarer geworden, daß du heute wegfahren wirst ...«
»Aber gerade auf diesem Weg«, sagte er ganz erstaunt, »hab ich gar nicht daran gedacht. Ich geb dir mein Wort ... Eigentlich hab ich da nur an dich gedacht ...«
Sie suchte seinen Blick:
»Du weißt, was ich von dir halte ... Aber warum bist du so ein versteckter Mensch?«
»Das bin ich nicht, Mary.« – Er war ehrlich erschrocken. – »Es wird mir nur so schwer zu sprechen ... wirklich ...«
Sie hatte jetzt die leicht gekränkte Unbefangenheit einer Frau, welche die Partei einer andern nimmt:
»Ich wundre mich nur, daß du's nicht schon längst getan hast in all diesen Jahren ...«
Sein Gesicht verkrampfte sich:
»Ich kann mir's ja selber nicht erklären, Mary ... Eine verrückte Angst ... Wie sollst du das verstehn? ... Du bist ein unbeschwerter tagklarer Mensch ... Das ist herrlich ... Aber ich ... Ich kann dir's und keinem Menschen erklären, daß man soviel Angst haben kann vor seiner eigenen Seele und vor ...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, als er bemerkte, daß in ihm das Wort »Liebe« vorkommen werde. Dann setzte er noch einmal an:
»Vielleicht verstehst du das ... Ich kenne eine ganz bestimmte Stadt, die es gar nicht gibt, von der ich aber sehr oft träume ... Das ist ja nichts Besonderes ... Auch du hast sicher so eine Traumstadt ... Aber mir passiert dort immer die gleiche unangenehme Geschichte ... Mein Zug hält auf einem kleinen offenen Bahnhof ... Man sieht sehr gut in die Stadt hinein ... Ich erkenn ein gar nicht weiter charakteristisches Haus ... Aber ich weiß genau, daß ich in diesem Haus jahrelang gelebt hab und daß mich dort jemand fahrplanmäßig erwartet ... Der Kondukteur öffnet die Türen und ruft eine Station aus, deren Namen ich mir nie merken kann ... Einige Leute steigen aus, einige bleiben sitzen ... Ich will aufstehn und mir die Handtasche aus dem Netz nehmen ... Unmöglich, denn ich bin an allen Gliedern gelähmt, und was die Sache noch komplizierter macht, die andern Passagiere sollen meine Schmach doch nicht sehn ... Ich bemüh mich also, ganz gleichgültig auszuschaun und niemandem die trostlose Situation zu verraten, in der ich bin ... Das Schrecklichste aber ist, daß der Zug einen ziemlich langen Aufenthalt hat und daß ich deutlich die Fenster des alten Hauses sehn muß, in dem ich so lang gelebt hab ... Noch immer könnt ich aussteigen, denk ich mir, aber ich kann's nicht ... Dann werden die Türen zugeschlagen ... Zuerst hör ich das Pfeiferl vom Kondukteur, darauf das Horn des Zugführers, und schließlich tutet die Lokomotive ... Langsam geht's los ... Und ich seh immer noch das Haus ... Stell dir nur das Gefühl vor!«
Er stand auf und setzte sich neben Mary:
»Ich sollte dir solchen Blödsinn gar nicht erzählen.«
Sie hatte lange nachgedacht:
»Jetzt bin ich aber wirklich froh, daß du fährst.«
Ferdinand beugte tief den Kopf über ihren Schoß:
»Es ist so schön, daß du das sagst ...«
Nun konnte sie wieder lachen:
»Du hast noch rund zwei Stunden Zeit, ehe du auf den Franz-Josef-Bahnhof mußt. Siehst du, ich kenne die böhmischen Züge auch ohne Fahrplan ...«
Die sonderbare Starrnis zwischen den beiden löste sich.
Sie umarmten einander. Dennoch waren ihre Liebkosungen bis zum Rand gefüllt mit der nervösen Unaufmerksamkeit des Abschieds.