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Barbara! Ein letztes, fernstes Bild an der Eingangspforte des Lebens. Winter, Morgengrauen. Ein stumpfes Nebellicht schlägt ans Fenster. Ferdinand erwacht in seinem Gitterbett, das ihm hoch und undurchdringlich erscheint wie ein hoffnungsloser Kerker. Er friert, denn die Decke hat sich verschoben. Aber zu klein ist er noch, um sich selber zu helfen. Von Unbehagen gepeinigt, blinzelt er ins Zimmer, das sich riesig und kahl ausdehnt, eine unabsehbare Landschaft ohne Erbarmen. Von den Fenstern her, aus den Ecken und Gegenständen dringt etwas Gefährliches, Feindseliges auf ihn ein. Ein ungestaltes Wesen ist es, aus zittrigem Rauch, aus hinfälligem Licht sich wölkend, das schleppende Kreise ums Bett zieht. Ferdinand faßt den Entschluß loszuplärren, wie er es immer angesichts einer Widrigkeit tut. Aber obgleich seine kleinen Glieder vor schmerzhaftem Frost zusammengeklammt sind, er kann es nicht. Wie gerne möchte er jetzt seinen Körper mit jenem herrlichen Geschrei anfüllen, das die Haut bis unter die Haare von kühner Wärme erglühn läßt. Vergebliche Sehnsucht! Er durchleidet zum erstenmal den Zustand des gelähmten Lebens und des zuschauenden Geistes. Urplötzlich gewahrt er im Zimmernebel ein Männchen – es ist nicht nur ein Männchen, aber wie soll man es denn anders nennen? Dieses fremdartige Wintermorgenwesen, das selbst einem Kinde nicht groß erscheint, möchte offenbar zu ihm vordringen. Glücklicherweise aber sind ihm Hindernisse in den Weg gelegt, der Stuhl vor allem, von dem die Strümpfe herabhängen. Ferdinand liegt starr. Er versteht nichts. Doch die vollkommen fertige Seele, die in allen Kindern schlummert, weiß, daß dieses Morgenmännchen, dieses gottverbotene Ding ein schwerer Vorwurf ist für Unarten (Nichtessenwollen zum Beispiel), die er einmal begangen hat. Der Zwerg arbeitet sich kummervoll ab, zu ihm zu gelangen, diese eingeschrumpfte Anklage einer ungewissen Schuld. Der Winterdampf in dem unendlichen Zimmer wird immer dichter, er beißt und kratzt im Halse, er ist atemwürgende Krankheit. Ferdinand aber vermag nicht einmal zu husten. Wo sind Papa und Mama, um ihn zu retten? So weit sind sie, oh so unerreichlich weit, sie denken nicht an ihr Kind.
Da öffnet sich die Tür, und Barbara tritt ein. Sie bemerkt sofort Ferdinands Bedrängnis, zieht ihm die Decke bis zum Hals, beugt sich tief über sein Gesicht und trocknet ihm die Stirn. Dann geht sie zum Ofen, kniet nieder, raschelt mit zerknülltem Papier, ordnet die Späne und streicht ein Zündholz an. Langsam zuckt das Feuer auf, schüttelt sich und beginnt sein Futter zu kauen. Die Frau legt im gemächlichen Takt größere Scheite und dann Kohlenstücke nach. Die Flammen im Vollbewußtsein ihres Wohlstands mäßigen ihre Gier. Zugleich aber, wie alles Lebendige, werfen sie ihre Bilder umher. Flammenbilder spielen an der Wand und tanzen freundlich satte Tänze auf der polierten Fläche des Kastens. Längst schon sind Nebel und Männchen dahin. Barbara aber erhebt sich, Erweckerin und Hüterin des Feuers. Sie hat Ferdinands Leben beschützt, sie hat Kälte, Krankheit und Tod abgewehrt, sie hat den Tag gebracht. Jetzt geht sie hinaus, um sein Frühstück zu bereiten. Er ahnt es und überläßt sich mit dem wohligen Sicherheitsgefühl eines Geretteten dem Schlaf.
Ehe aber Barbara das Feuer des Lebens zu erwecken kam, war sie auch in dieser frostverdorrten Winterfrühe um sechs Uhr schon bei der ersten Messe in der nächstgelegenen Kirche gewesen. Der amtierende Pfarrer hätte sich sehr gewundert, unter den spärlichen Andächtigen ihr Antlitz nicht zu sehn. War sie bigott, eine Betschwester, ein Kerzenweib? Man täte ihr sehr Unrecht, wollte man diese Frage bejahen. Sie ging zur Kirche, weil sie's von Jugend auf so gewöhnt war. Wie es Städter gibt, die das Bedürfnis haben, alltäglich eine Viertelstunde lang unter den Bäumen einer Anlage spazierenzugehn, so besuchte Barbara die Kirche als eine heilig-entrückte Landschaft und erquickende Stätte, die mitten im alltäglichen Leben liegt. Dies aber war nicht das Wesentliche ihres Glaubens, der sie erfüllte und von dem sie nichts wußte. Der Schiffsarzt hat folgende Formel gefunden: Barbaras Seele ruhte ahnungslos in der Religion, wie ein Tier des Waldes, ein Vogel der Luft ahnungslos in seinem Element lebt. Wie diese Wesen in einer den Menschen unfaßbaren Weise naturnah sind, so war Barbara gottnahe. Die Nähe aber zeigte sich in keinerlei heiligem Gehaben, nicht in frommen Anrufungen und Gebeten, oder gar in einer leidenschaftlichen Kirchlichkeit, sie zeigte sich in einer tiefen und gleichmäßigen Ruhe, die Barbaras Lebenszustand war. Sie entfloß einem seligen Aufgehobenheitsgefühl, dem seinerseits wieder Barbaras Arbeitsfreude, ihre Anhänglichkeit und Liebe entfloß.
In seiner frühesten Kindheit griff das Licht dieser Ruhe auf Ferdinand über. Auch er lernte, ehe er glauben, denken und zweifeln konnte, Gott erfühlen. Und Gott war nichts anderes als ein unendliches Aufgehobenheitsgefühl. Gott war der Schlaf, auf dem man dahingleitet, das warme Bett, in dem einem keine böse Macht etwas anhaben kann, selbst das Wintermännchen, der Krankheitszwerg nicht, der sich aus dem eindringenden Nebel heranarbeitet, Gott war das treuliche Feuer allüberall, und in Barbaras Macht lag es, dieses Feuer zu entzünden.
Als die Kinderfrau in den Dienst des Obersten trat, war das Kind eben abgestillt worden. Sie selbst hatte damals das fünfundvierzigste Jahr schon überschritten. Merkwürdigerweise hat sich in Ferdinands Gedächtnis nicht das Bild der späteren Greisin festgesetzt, sondern das der fünfzigjährigen Frau. Eine mittlere, aufrechte Gestalt, meist schwarz gekleidet! Dunkelgraues, dünnes Haar, in der Mitte gescheitelt! Augen, aus denen sehr selten Unwille und niemals Zorn und Verneinung sprach, Augen, die von der unbewegten Flamme einer stetigen Zuneigung erfüllt waren! Diese Zuneigung, diese Stetigkeit, dieses Erhelltsein, was bedeuteten sie anderes als ein Antlitz im Gnadenstand?
Barbara besaß ein paar armselige, plumpe Schmuckstücke, die sie gerne trug. Darunter gefiel Ferdinand eine schwarze Brosche am besten, die in ihrer Mitte eine winzige Passionsszene in Elfenbeinschnitzerei trug. Die Betrachtung des wirr bewegten Bildchens, dessen Bedeutung er nicht fassen konnte, war eine seiner kindlichen Lieblingsbeschäftigungen. Und dann der leise Duft von edlem Weichselholz! Oft, wenn der Schiffsarzt einschlafen will, zieht eine flüchtige Ahnung dieses Geruches vorüber.
In Südböhmen geboren, aus einem kleinen Bauernhof stammend, war Barbara schon mit fünfzehn Jahren in die Stadt gekommen. Nachdem sie in drei Häusern als Magd gedient hatte, heiratete sie einen großgewachsenen Mann – sein Bild hing immer in ihrer Kammer –, der bald zum Ersten Diener im Hofstaat eines Grundherrn emporrückte. Nach einigen Jahren, während welcher auch sie an der Seite ihres Gatten in etlichen Schlössern bedienstet war, überließ der Herr dem Paare einen schönen Vertrauensposten. Sie wurden zu Verwaltern eines Jagdhauses in einem weiten Revier bestellt. Während die Dienerschaft in hochherrschaftlichen Stellungen sich zumeist eines lakaienhaften Hochmuts befleißigt, blieben die beiden von diesem Laster frei. Nur die stille Hantierung und vornehme Unauffälligkeit, die von den Bevorzugten der Welt anbefohlen wird, ging ihnen in Fleisch und Blut über. Die natürliche Demut in Barbaras Wesen konnte durch keinerlei Auszeichnung und Huldbeweis gebrochen werden. Als ihr Mann starb, verließ sie den fürstlichen Posten und kehrte in die Stadt zurück, um wieder ein gewöhnlicher Dienstbote zu sein.
Die Frau Oberst brauchte eine Kinderfrau. Im Vorzimmer eines Stellenvermittlungsbureaus faßte sie sogleich zu Barbara Vertrauen. Da die Gage eines Stabsoffiziers keine hinreichende Bedienung ermöglicht, machte Mama die Kinderfrau darauf aufmerksam, daß sie auch die Küche werde besorgen müssen. Barbara willigte ein.
Dies ist ihre ganze Vorgeschichte, soweit sie Ferdinand bekannt ist.