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Die Gewitter sind häufiger geworden, und eines Tages, gegen die Steinbockwende, hat der Regen nicht mehr aufgehört. Graugelbes Gewölk ist in den Morgen gehangen, und die Sonne ist fremd und blaß dahinter aufgestiegen.
Der Hengst und die Stuten wissen, daß die Not vorbei ist. Vielleicht kommt Wassernot? Oh, vielleicht! Mag sie kommen! Man ist so verdurstet, so verhungert, so verzehrt von Mühsal, daß es wahrscheinlich keine ärgere Not gibt. Weit sind die Wege zu den Nöten des Jahres, und wenn die da sind: oh, sie gehen vorüber, und die Wege sind neu und schön, zu ihnen hin und von ihnen her, und kaum bleibt Erinnerung an das Erlittene. So gnädig verfährt das Unbarmherzige endlich mit den Ausgesetzten.
Weit verstreut unterm grauen Himmel, über die dampfende Pampa weiden die Pferde. Der sanfte Regen löst die Spannung ihrer Gemüter. Die 105 Fliegenschwärme sind endlich zerstoben, hinweggespült. Verstummt ist der eintönige Chor der Zikaden. Die Fledermäuse klatschen mit schweren Segeln noch ein paarmal um die Dämmerzeit wider Rücken und Flanken der Pferde. Dann geben sie es auf. Müdigkeit ihres Jahres überfällt sie, und aus ihren Schlüffen blinzeln sie in eine fremde regendurchrauschte Welt. Dann hängen sie sich in die Schwärze kalter Gesteinsspalten, riesiger Baumhöhlen kopfunterwärts, schlagen die Falten der großen Segel um die Leiber, und es ist kein Wissen um Welt und Weite, Hunger und Blut mehr in den Gemütern dieser Heimlichen, die zu Hunderten und aber Hunderten, geballt wie riesige Trauben, wie schwarzes seltsames Gesträuch, ohne Atem fast und Herzschlag, zwischen lauerndem Tod und geducktem Leben in einer sicheren Mitte schlafend da sind.
Mannsräuschlin ist jetzt drei Vierteljahre alt und hält sich zu den Jährlingen. Natürlich sind jährige Hengste herrischer und unverträglicher als eine jährige Stute. Weil Mannsräuschlin aber nie Streit sucht und eine sehr sanfte Witterung hat, weil es ein sehr kluges und feinhöriges Geschöpf ist – das schätzen seine Kameraden besonders und verlassen sich oft auf die kleinen und sehr beweglichen Ohren des Fohlens –, weil es trotz seinem erstaunten Milchgesicht eine sehr 106 hoffärtige und sichere Haltung des schmalen Halses und seinen Kopfes und aller Glieder und des geschmeidigen Leibes in allen Freuden und Schrecken und im größten Mutwillen immer bewahrt, und ganz besonders um des fremden weißen Stirnmals willen lieben es die wilden Hengstlinge und die kleinen Stuten, und es ist tagsüber immer in deren Gesellschaft. Nachts sucht es gerne noch die hohe Stute auf; und seit jenem Tage, da es stundenlang allein um den großen Führer war, macht es sich gerne zu dem alten Hengst, der es freundlich abschnuppert. Ein wenig beklommen fühlt das Fohlen sich stets, wenn es, seitlich herankommend, vom Hengst beäugt wird und das wilde Auge des Alten aus dem Winkel funkelt, dahinter das Weiße des Augapfels steht. Dann ist seine Miene gewalttätig, und über Mannsräuschlins Gemüt geht ein flinker Schauer. (Oh, vielleicht hängt es dem Gewaltigen an um dieses Schauders willen, und ist seine Seele so fein gespannt, daß es den Schauder sucht, der einmal groß und ein Gipfel seines friedfertigen Lebens sein wird.) Von vorne trabt es den Führer nicht an. Der hat dann eine Art zu schnauben, daß das Fohlen gleich merkt, er will das nicht. Oh, natürlich! Läßt ein alter und herrischer Mann sich stellen? Und was sonst bedeutet es, wenn man einen ins Aug faßt und auf ihn zuläuft? 107 Ein solches Kind! Mit dem weißen Mal zwischen den dunkelbraunen sanften hochmütigen Augen! Mit dem Milchgesicht! Wie der Regen es gewaschen hat! Wie sauber und glänzend sein ruppiges Jährlingsfell im Regen dampft! Pack dich, Übermut! Deine Zeit kommt noch! Unsere Zeit! Vielleicht!
Der Hengst schüttelt die Mähne, daß die Tropfen sprühen. Erschrocken prescht Mannsräuschlin davon. Dann wiehert der Hengst kurz und rauh und schreitet aus. Die Beine gehorchen ihm wie eh und je. Er sichert in die regnichte Steppe. Grün und dicht ist die Pampa hingewachsen, und das dürre Gras sinkt vor dem strömenden Regen und aufschießenden Gewächs zusammen. Bäume und Gesträuche sprossen mit Laub und Gedörn, und es ist ein herrlicher Überschwang und unendlich wachsendes Wesen über das Land gebreitet. Ohne Unterlaß gießt der Regen sich aus, lau und von keinem Wind noch gejagt. Dampf und Nebel wölken wie ungeheure Hauche langsam hin und zergehen, kommen aus der Weite heran, steigen auf, wallen herab. Die große Stille des niedrigen Firmaments sinkt mit dem einförmigen Regen herab und hüllt die graue Welt ein.
Die Pferde kommen allgemach zu ihrem eingeborenen Wesen, das stolz, frei und mutig sich gebärdet. 108 Alle Mühsal ist von ihnen genommen. Herrischkeit und Weite, hoffärtige Ichheit und willige Hörigkeit dem Gesetz der Sippe strömen gleichmäßig und schön durch ihre Seelen, und die Qual des Ausgesetztseins ist zur Lust der großen Freiheit geworden, die sie mit allen, leicht über die schöne Erde hinstürmenden Geschöpfen gemeinsam haben. Glänzend und weich wird das Fell, von dem der laue Regen die Staubkrusten gewaschen hat. Hochgemut blicken sie aus den gewölbten Augen umher, auf die Genossen, in die Weite, die eigenen schlanken und hohen Beine hinab, und leicht geschwungen tragen schlanke Hälse die schmalen, ernsthaften und zuversichtlichen Rossehäupter. Das überschwenglich sich darbietende frische und herbe Gras ernährt sie im Überfluß; und wie es langsam zu knospen und zu treiben begann, bewahrte es die Ausgehungerten vor der Gefahr, sich zu übermächtigen. Sie sind Feinschmecker geworden, und wenn sie in der ersten Regenwoche wahllos das Grüne abrauften, traben sie jetzt weite Strecken, um das besonders schmackhafte saure Riedgras aufzusuchen, und halten sich dann tagelang an solchen Weideplätzen.
Das saure Gras wächst am dichtesten und sehr saftig an den Rändern der breiten Lagunen, die im Frühsommer das Wasser lange bewahren. Von dort ziehen 109 sich die Riedwiesen, unterirdischen Feuchten folgend, weit in die Pampa hinein. Solche Weiden lieben die Pferde vor allen. An den Rändern dieser viele Kilometer langen Wasserstellen, deren salzweißer Boden vom Regen schon dunkel ist und von dem kein Dampf mehr aufsteigt, schweifen zerstreute Rosseherden. Gestampf und Schnauben kommen durch die Regenwände hin und wieder, und das Aufwiehern der Leithengste geht dumpf und fern aus dem gelben Nebel her. Dann antwortet der alte Führer, und es ist mehr ein Gruß an das benachbarte Leben, das man in Not und Hunger vergessen hat. Ärger und Feindseligkeit sind in dieser herrlichen Läufte des Jahres weit auch vom Gemüt der Hengste. Die großen Hochzeiten sind noch fern und undeutlich hinter dichterem Regen und dunkleren Nebeln. Jetzt ist ein gemeinsamer Frohsinn, ein gemeinsamer Stolz, gemeinsames Hochgefühl des Lebens, eine gemeinsame Lust am Dasein. Leicht ist das Leben und stößt nirgendwo an Dämme und Nöte, die die Seelen eng machen und zu Feindschaft und Haß verführen.
Mannsräuschlin ist nichts als Übermut und Lust auf vier schlanken hohen Beinen. Seine Kapriolen und Unsinnigkeiten bestaunen die älteren Stuten, die dem Fohlen solche Lebensbiegsamkeit nicht angesehen haben. Seine Neugier ist unbesieglich. Die Welt hat ein 110 vielfältiges Ansehen bekommen für den Neuling auf ihr, der zum erstenmal ihr Wohlwollen erfährt. Fast sind die Tage zu kurz für die hundertfältigen Sprünge, Galoppaden, schlanken Trabe, für Geschnupper, Gewieher, nachdenkliches Hinstarren, plötzliches Sichbesinnen und Davonpreschen; für Hunger und Sättigung, stundenlanges Dösen, sich auf dem Rücken wälzen, sich mit den anderen Jährlingen necken, Beißen – oh, zum Spaß natürlich! nur zum Spaß! –, für Wettläufe und Hochsprünge und endlich für einen höchst erquickenden und träumereichen Schlaf: in dem man liegend zu traben und zu galoppieren anhebt, aus Neugier, was der Traum daherbringt; die Ohren nach allen Seiten spielt; tief aufschnaubt; wieder auf die andere Seite sich wälzt; endlich besiegt die vier schlanken Beine von sich reckt, wohlig sich ausstreckt, dünn wiehert und mitsamt den Galopp- und Neugierträumen ins schwarze Nichts hinabgleitet: aus dem einen das Morgengewieher des roten Hengstes heraufholt, der sichernd schon die Herde umschreitet. Dann blinzelt man in den grauen regnichten Tag, läßt sich behaglich Zeit, ehe man sich seiner Beine bewußt wird, wälzt sich noch ein halbes dutzendmal auf dem Rücken, schleudert die mageren Läufe gegen den Himmel, gerät in ein tiefes Nachsinnen, aus dem man plötzlich, fast mit allen vieren 111 zugleich, in den Tag springt und alsogleich zu weiden anhebt.
Oh, wie rund und ohne Ecken ist das Dasein, wenn man die ersten Regenwochen des Lebens erlebt; wenn man Staub und Durst und Plage ganz und für immer hinter sich hat; und nun dieses Leben so freundlich den braunen Augen, den mutwilligen Beinen, dem neugierigen Verstand und dem arglosen Herzen ohne Ende sich darbieten wird. Denn natürlich wird es das! 112