Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Lahm

Am Morgen, als sie bei einer Wasserlache sich zusammenfinden, gewahren die Stuten, daß der rote Hengst am rechten Hinterfuß lahmt. Der Tod hat ihn angerempelt.

Staunend und scheu betrachten diese und jene Stute den Führer, der unwirsch schnaufend am Tümpel steht, das lahmende Bein steif hinreckend. Immer noch schweifen draußen in der Steppe Pferde umher, versprengte aus benachbarten Herden und aus der eigenen. Die Schrecken der Nacht schauern über ihre Seelen, daß das sichere Herdengefühl sie noch nicht völlig überwältigen kann. Immer noch sind sie einzelne, Ausgesetzte, herausgerissen von den höhnischen Elementen aus dem Verband; sich selber jedes einzelne nur gehörig, allein sich selber gegenüber und dem vorbeigepreschten Tod.

Weil der Hengst nicht ruft, kennen sie sich nicht aus. Wie dann immer mehrere der Herde an der im 82 steigenden Morgen schon langsam einsickernden Wasserlache sich sammeln, schlagen sich die Versprengten dazu.

Mannsräuschlin zottelt zwischen den Stuten umher und hat dann die Stiefmutter gefunden. Schnuppernd an ihren Nüstern, vergewissert das verwirrte Fohlen sich, daß sie es ist, und stellt sich dann still neben sie hin, taucht seine Lefzen ins lehmige Wasser und schlürft dünn schnaufend. Wieder und wieder wirft es auf, rollt die erschrockenen braunen Augen über die gebeugten Hälse der trinkenden Pferde, spielt aufgeregt mit den kleinen Ohren und ist immer bereit, in steifem Galopp auszubrechen. Es versteht nichts von dem Erlebnis der Nacht. Geleucht und schreckliches Getöse, die schmerzhaften Schläge des Hagels auf Kopf und Rücken gehen durch sein Gemüt, und es weiß nicht, woher das kam, wohin es ging, und ist in großer Angst, daß alles sich gleich wiederholen könnte. Wenn Mannsräuschlin eine erfahrene Stute ist und viele Steppengewitter erlebt haben wird, dann weiß es natürlich auch nicht, warum so große Feindseligkeit aus einer friedlichen Nacht auf sein friedfertiges Gemüt sich stürzt, und woher so viel Schläge aus dem Unsichtbaren auf seinen gutwilligen Leib kommen; aber es hat dann gelernt, daß es mit dem Dasein eben eine solch geheimnisvolle Bewandtnis hat; immer wird es 83 wieder scheuen und ausbrechen, aber es wird leichter wieder zu sich selber, zur hegenden Herde und zum glückseligen Leben finden. Jetzt wird Mannsräuschlin ein paar Tage den kleinen Hengst vergeblich suchen und dann auf ihn vergessen. Andere Fohlen, die dem dürren Erschlagenen aufs Haar gleichen, werden durch sein Leben galoppieren und gute Kameradschaft halten. Oft noch werden über sein Kindergemüt solche losgelassene Nächte prasseln, und allmählich wird es sich merken, daß hernach die schneeweiße Sonne immer wieder über seiner weiten Welt steht.

So wie am heutigen Morgen! Alles ist wieder, wie es gestern und alle Tage her war, und keine noch so lichte Wolke zieht durch diesen überaus freundlichen und kühlen Morgen. Himmel und Erde lächeln sich an und haben jede Drohung vergessen. Kein Übelwollen und keine Spannung ist mehr zwischen dem funkelnden Firmament und der sanft hinrollenden Erde.

Noch immer steht der Hengst an der Wasserstelle, indes die Herde sich über die nahe Grasebene zerstreut und zu weiden anhebt. Er weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Er fühlt keinen Schmerz und kann doch nicht traben, oh, keineswegs galoppieren. Wenn er es versucht, gehorcht ihm etwas im Leib nicht. Er fühlt seine Beine genau; sobald er aber zu schreiten anheben 84 will, hängt der vom Blitz gestreifte Hinterfuß leblos. Im ersten Schrecken, als ihn da etwas aus der Nacht heraus ansprang, warf er sich vorwärts. Aber augenblicklich verlor er das Gleichgewicht und überschlug sich. Das Aufstehen hatte Mühe gekostet. Jetzt, am hellen Tag, neben seiner Herde tut er keinen Versuch, zu galoppieren. Hinkend ist er an die Wasserlache geschritten; das konnte er vor den Stuten nicht verbergen. Da und dort dreht eine und die andere den ruhigen Kopf nach ihm und beäugt ihn forschend. Dann schütteln sie die Mähnen, wenden sich wieder und weiden.

Dann weidet auch der Hengst und entfernt sich schleppenden Gangs von der Herde. Unmut und Scham beklemmen ihn. Keinmal stößt er den herrischen Schrei aus, dem seine Stuten freudig sich unterwerfen. Noch hat er die Herde nicht umkreist; er hat nicht, wie jeden Morgen, die Seinigen beschnuppert, in seiner genauen Art sie gezählt; den Junghengsten seine Kraft und Herrschaft vorgepoltert und sein Herrentum für den neuen Tag neu befestiget. Er weiß es: es gibt keinen lahmen und kranken Herrn, darf ihn nicht geben. Er kennt die Neugier und hoffärtige Zudringlichkeit der Junghengste, sobald die spüren, daß bei ihm etwas nicht in Ordnung ist. Vor Jahren hat er es erlebt, 85 als er, von einer wochenlangen Kolik geschwächt, die Herrschaft über die Herde ein wenig schleppen ließ. Durch ein paar Tage nur hatte er sich öfter niedergetan als sonst, hatte Befehl und Drohung schwächer gewiehert, war nicht in beständiger Wachsamkeit um die Herde galoppiert. Sogleich hatte der älteste Junghengst Herrschersitte angenommen und die jüngeren und sanfteren Stuten in ihrem Gemüt beunruhigt.

Der alte Führer kennt die seltsamen Seelen seiner Frauen. Es ist jeder Verlaß und kein Verlaß auf sie. Sie hängen ganz von ihm ab. Sie sind ihm bis in den Tod getreu, solange er weit vom Sterben ist. Und sie verlassen ihn ruhig und selbstverständlich, wenn seine Witterung und schwindende Wildheit ihnen nicht mehr genug Vertrauen einflößt. Sie kennen es nicht anders. Wahrscheinlich schämen sie sich für ihn. Wenn ein wilder Junghengst just um solche Zeit ihnen sein herrisches Leben vorgaloppiert, dann wissen diese schwankenden Frauen viele Tage nicht, wohin ihr Gemüt, ihre Zuneigung, ihre Pflicht sie haben wollen. Bis die Wagemutigeren einen Entschluß fassen und hinter dem Jungkerl hertraben, der es lange dem Alten abgeschaut hat, wie man Frauen lockt und bannt und bändigt.

Die älteren Stuten zweifeln dann länger, ob es sich verlohnt, den Kreis noch einmal und neu zu 86 beginnen; und wenn noch nicht Liebeszeit ist in der Herde, bleiben sie vielleicht mit ihren Fohlen um den Alternden und Siechen versammelt. Was im Frühling, nach der großen Regenzeit sein wird, darüber machen sie sich keine Gedanken. Vielleicht wird der Alte wieder gesund, vielleicht sind sie selber zu alt für Liebe und neue Lebenskreise. Sie sind erfahren und stark genug, um ihre Fohlen zu schützen. Die Anhänglichkeit an den Leithengst ist ihnen so tief im Gemüt, daß es eines großen Antriebs bedarf, ihn zu verlassen. Und sie fühlen einen solchen in ihren verschmachtenden Leibern keineswegs. Nach dem Winterregen – oh – vielleicht.

Der Hengst hat sich im trocknenden Gras niedergetan, und ihm bewegen solche Wallungen das Gemüt. Seine dunkelbraunen großen Augen sind ins Weite gerichtet, und manchmal kollert er dumpf und schnaubt, daß das dürre Gras von seinem Atem raschelt. Fliegenschwärme umbrausen den Liegenden, und sein langer dünner Schweif peitscht unaufhörlich die Flanken hin. Seine Ohren spielen spitz nach allen Seiten, und er hört genau die Tritte der ferne weidenden Herde und fühlt das leichte Beben des Bodens unter deren Hufen. Dann schnuppert er das lahmende Bein ab und begreift nicht, wer ihn da angefallen hat. Kein Blut wittert er und fühlt keinen Schmerz. Keineswegs auch ist er in 87 die heimliche Grube eines jener behenden Burschen getreten, die da und dort neugierig ihre klobigen Schädel aus Löchern recken und schreiend vor Ärger und Schreck sich in die Erde machen, wenn der Hengst Hals und Mähne schüttelt. Nein, er ist nicht in den hohlen Bau eines Hamsters getreten, und er hat sich keineswegs das Gelenk verstaucht. Das Geheimnisvolle, das da aus der Nacht ihn ansprang und lahm schlug, kann der Hengst mit allen seinen großen Erfahrungen nicht ins reine bringen; und es beklemmt ihn stärker als die Tatze des Jaguars oder der Hufschlag eines Nebenbuhlers oder das Horn des Pampastiers. Dann ist ihm, als ob das Bein ganz von fernher zu gehorchen begänne, wenn er es anziehen will. Immer öfter wiederholt der Hengst diesen fernher kommenden Gehorsam und döst dann vor sich hin. 88

 


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