Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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Bei Miss Constancia Babberly häuften sich die unangenehmen Tage in geradezu erschreckender Weise, denn mit dem Schmerz über das Verschwinden des Sekretärs hatte sie auch noch den Ärger über das Verhalten von Mrs. Irvine zu verwinden, die nicht nur ihre vorsichtige Frage nach Hubbard mit einem kurzen »Er hat gekündigt« abgetan hatte, sondern auch wieder einmal voller Heimlichkeiten steckte, hinter die Constancia trotz aller ehrlichen Bemühungen nicht kommen konnte.

Sie preßte daher auch jetzt, da Summerfield eben wieder einmal im Chefzimmer saß, ihr Ohr so dicht wie möglich an die Tür, aber selbst wenn sie die gedämpften Worte, die drinnen gesprochen wurden, gehört hätte, wäre sie daraus wohl nicht klug geworden.

»Glauben Sie also auch, daß es sich so verhält?« fragte Muriel in fieberhafter Hast, und in ihren schönen Augen lag ein hoffnungsfrohes Leuchten.

»Ich glaube nicht nur, daß es sich so verhält, Mrs. Irvine«, sagte er mit Würde, »sondern ich bin davon fest überzeugt. Sie haben mir das ehrende Vertrauen erwiesen, mich mit den gewissen Erkundigungen zu beauftragen, und die Sache schien mir viel zu wichtig, als daß ich mich dabei auf andere verlassen hätte. Was ich Ihnen mitgeteilt habe, habe ich teils mit meinen eigenen Augen beobachtet, teils mit eigenen Ohren von dem ganz intelligenten Diener gehört, mit dem ich an den letzten Abenden wiederholt gespeist habe. Sie werden meine Auslagen hierfür im Betrag von drei Schillingen vier Pence in meiner Honorarrechnung spezifiziert finden. Im übrigen gestatte ich mir, Sie daran zu erinnern, daß ich ein vortrefflicher Menschenkenner bin und daß mir der junge Mann sofort gefallen hat. Ganz ausgezeichnet gefallen sogar.«

Muriel hörte mit gespannten Mienen und leicht geröteten Wangen zu.

»Mrs. Irvine«, sagte er feierlich, »ich verhehle mir nicht, daß ich mit meiner Garderobe etwas zurückgeblieben bin. Wenn Sie daher meiner bei einem festlichen Anlaß bedürfen sollten, so bitte ich, hierauf freundlichst Rücksicht zu nehmen und mich rechtzeitig zu verständigen, damit ich mich darauf einrichten kann.«

Als der Anwalt diese Sätze hervorgestoßen hatte, machte er wiederum eine tiefe Verbeugung und konnte daher nicht bemerken, daß Muriels schönes Gesicht von einer brennenden Röte übergossen war.

*

»Ich wünsche Jim zu sehen«, sagte die elegante, reizende Dame zu André, die mit einer großen Tüte im Arm vor ihm stand, als ob es sich um etwas ganz Selbstverständliches handele, und der gewiegte Diener zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor er Mrs. Irvine ehrerbietig in den kleinen Salon geleitete. Jim hatte zwar noch nie einen Besuch empfangen, und es war dies gewiß keine alltägliche Sache, aber André war weit davon entfernt, sie unerhört zu finden. Wenn eine Lady einem kleinen Affen die Ehre gab, so war dies eine gesellschaftliche Angelegenheit wie jede andere, und ein wirklich geschulter Diener mußte eben wissen, was er in solch einem außergewöhnlichen Fall zu tun hatte.

Jedenfalls gehörte zunächst einmal die Lady in den Salon und nicht in die Küche, wo Jim gerade in einer nicht sehr empfangsfähigen Verfassung geschäftig herumturnte.

*

Nachdem André also die Lady im Salon untergebracht hatte, nahm er den kleinen Jim in Arbeit und ging hierbei trotz aller gebotenen Eile mit derselben peinlichen Sorgfalt zu Werke, als ob er seinen Herrn unter den Händen hätte. Sogar die leichte Dusche mit Lavendelwasser vergaß er nicht, obwohl Jim diese Prozedur nicht liebte und die Spritze wütend anblies. Es kam nun nur noch die schwierige Frage in Betracht, wie er der Lady den kleinen Affen in wirklich korrekter Weise präsentieren sollte.

Aber er hatte kaum die Tür halb geöffnet, als sich Jim auch schon mit einem energischen Strampeln selbständig machte und unter unendlichem freudigem Quietschen und Plappern an der schlanken Gestalt der freundlich lächelnden Dame hinaufschoß. André vermochte die Situation nur dadurch halbwegs zu retten, daß er sich ehrerbietig verbeugte, womit er sagen wollte, daß er seine Pflicht getan habe.

Wenn aber auch der Besuch ausschließlich Jim galt, fühlte sich André doch verpflichtet, seinem Herrn hiervon sofort Mitteilung zu machen.

Hubbard saß an seinem Schreibtisch und ordnete einige Papiere, und André wußte aus verschiedenen Anzeichen schon längst, daß jener wieder einmal Vorbereitungen für eine längere Abwesenheit traf.

»Sir«, murmelte er gemessen. »Jim hat Besuch bekommen.«

Hubbard hörte nur mit halbem Ohr zu und ließ sich in seiner Arbeit nicht stören.

»Wenn es die Katze von nebenan ist, so passen Sie auf, daß sie einander nicht ins Fell geraten«, meinte er kurz.

»Es ist eine Dame«, stellte Andre mit Nachdruck richtig, aber er vermochte nicht zu verstehen, daß sein Herr ihn deshalb entgeistert anstarrte und dann in eine geradezu fieberhafte Erregung geriet.

»Es ist sehr lieb, Mrs. Muriel, daß Sie gekommen sind«, sagte Hubbard an der Tür, und der Ton seiner Stimme sowie das Leuchten seiner Augen waren noch beredter als seine Worte.

Das erste war, daß zunächst Jim unter Mitnahme der großen Tüte, die sein rechtmäßiges Eigentum war, die Flucht ergriff, und gleichzeitig hob die junge Frau höchst bestürzt den Kopf und machte sehr große und überraschte Augen.

»Oh«, meinte sie gedehnt, »darauf war ich nicht vorbereitet. Ich dachte, daß Sie bereits anderweitig Wohnung genommen hätten.«

Er schien peinlich berührt.

»Soll das heißen, daß Sie nicht gekommen wären, wenn Sie gewußt hätten, daß ich noch hier bin?« fragte er vorwurfsvoll.

»Ja«, log Muriel mit großer Entschiedenheit und war stolz darauf, daß ihr das so gut gelang. »Ich hätte natürlich nicht einen Fuß hierher gesetzt. Aber der arme, verlassene Jim tat mir leid.«

»Und für mich haben Sie gar nichts übrig, Muriel? Ich glaube, ich bin weit bedauernswerter als der nichtsnutzige Affe, denn mein ganzes Lebensglück hängt von einem lieben Wort von Ihnen ab.«

Er griff zögernd nach ihrer Hand, und zum ersten Male hatte Mrs. Irvine die Genugtuung, diesen Mann in hilfloser Verlegenheit zu sehen, während sie selbst sich der Situation vollkommen gewachsen fühlte.

»Ich weiß, was Sie meinen«, erwiderte sie kühl, »aber dieses Wort habe ich leider bereits zu einem anderen gesprochen.«

Er ließ jäh ihre Hand los und senkte den Kopf.

»Zu wem?« fragte er sehr leise.

»Zu Kommissar Conway. – Bereits als ich das erste Mal in Scotland Yard war«, gab sie freimütig zurück und sah ihn mit ihren schönen Augen herausfordernd an.

Hubbard richtete sich auf, und sein überraschter Blick hing forschend an ihrem unbefangenen Gesicht.

»Daran glaube ich nicht, Muriel«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. »Aber selbst wenn es geschehen sein sollte, bin ich entschlossen, den Kampf mit diesem Phantom aufzunehmen, weil ich ohne Sie nicht leben kann.«

Muriel Irvine hob die Schultern, aber da sie sonst nichts erwiderte, neigte er sein Gesicht immer tiefer zu dem ihren, bis seine Lippen ihren Mund fanden . . .

»Liebste Muriel, ich bin so glücklich«, flüsterte er, als sie sich endlich frei machte, »daß ich einen Zeugen dafür haben muß. Du wirst doch hoffentlich einverstanden sein?«

Er wartete aber ihre Einwilligung nicht erst ab, sondern drehte bereits in übermütiger Laune am Telefon.

»Hallo, Mr. Turner?« fragte er hastig. – »Hier Hubbard. Ich bin Ihnen noch Revanche für den letzten Abend schuldig und bitte Sie für heute zehn Uhr ins Carlton. Wir werden zu dritt sein, und wenn Sie nett sind, sollen Sie dann das Schlußkapitel der Geschichte von Miss Mariman hören.«

Er legte schon wieder auf, weil er augenblicklich wichtigere und angenehmere Dinge zu tun hatte, als lange Telefongespräche zu führen, aber Muriel wehrte ihn mit beiden Händen ab.

»Du wirst gut daran tun«, warnte sie ernst und nachdrücklich, »die Geschichte von Miss Mariman sehr vorsichtig zu berichten, denn wenn mir dabei etwas nicht passen sollte, so werde ich Mr. Turner die vielleicht noch interessantere Geschichte von dem geheimnisvollen Kommissar Conway von Scotland Yard erzählen, der . . .«

Er faßte ihre Hände mit einem so stürmischen Kuß, daß sie keine Silbe ihres Geheimnisses mehr herauszubringen vermochte.

 

Ende

 


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