Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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27

Muriel Irvine war von einer Nervosität, über deren eigentliche Ursache sie sich keine Rechenschaft abzulegen vermochte.

Das datierte von dem Tag an, da sie in dem unheimlichen Zimmer Nummer 7 von Scotland Yard gesessen hatte und es hilflos dulden mußte, daß ihr eines ihrer wohlgehüteten Geheimnisse nach dem andern entrissen wurde.

Was hatte sie durch die Unterredung gewonnen? Der geheimnisvolle Kommissar, dessen bezwingender Art sie verfallen war, hatte tatsächlich seither nichts weiter von sich hören lassen, und es konnte unendlich lange Zeit verstreichen, bis sie von ihm wirklich zuverlässige Nachrichten über das Schicksal ihres Gatten erhielt. Auf Corner konnte und wollte sie nicht mehr rechnen, und der unheimliche Strongbridge hatte auf ihr letztes Ersuchen um eine Regelung ihrer Angelegenheit bisher überhaupt keine Erwiderung gefunden.

Waren Muriels Hoffnungen auf Scotland Yard schon in dem Augenblick herabgestimmt worden, da sie aus einem ganz bestimmten Grund die Verbindung mit Kommissar Conway verlangt und zu ihrer größten Überraschung auch tatsächlich erhalten hatte, so wurden sie durch den Besuch, den sie um die Mittagsstunde dieses Tages erhielt, völlig zunichte gemacht.

Der nette, rundliche Herr in dem etwas zu engen Anzug war ungemein höflich und legte die Befangenheit eines Menschen an den Tag, der sich seiner peinlichen Aufgabe bewußt ist.

»Entschuldigen Sie, Mrs. Irvine«, begann er stotternd, indem er die freundlichen Augen unstet im Zimmer umhergehen ließ, »Sergeant Meals von Scotland Yard.«

Der Sergeant zupfte krampfhaft an seiner Weste und schien unschlüssig, wie er die Sache einleiten sollte.

»Ich habe eine kurze Amtshandlung durchzuführen«, sagte er sanft, und als er bemerkte, wie sich die Augen der jungen Frau mit einem befremdeten Ausdruck auf ihn hefteten, wurde er noch hilfloser.

»Sie brauchen deshalb nicht zu erschrecken. Nur eine kleine Formalität. Ich werde mit Ihrer gütigen Erlaubnis hier eine flüchtige Durchsuchung vornehmen.«

Muriel verharrte regungslos hinter ihrem Schreibtisch und vermochte nicht zu fassen, was dieser förmliche Überfall zu bedeuten hatte. Wollte ihr der Unsichtbare von Scotland Yard nur ihre Geheimnisse entlocken und sie in Sicherheit wiegen, um sie nun um so sicherer überrumpeln zu können?

Meals wartete geduldig in seiner bescheidenen Art, aber erst der Eintritt Hubbards ließ Muriel ihrer wortlosen Bestürzung endlich Herr werden.

Der Sekretär warf einen gleichgültigen Blick auf den Besucher und wollte sich sofort wieder zurückziehen, aber die junge Frau hielt ihn auf.

»Bleiben Sie«, sagte sie tonlos. »Der Herr ist beauftragt, hier eine Durchsuchung vorzunehmen, und ich möchte, daß Sie dabei sind. Ich weiß nicht, wie man sich in solchen Fällen zu verhalten hat.«

Er nahm die Mitteilung mit einer Gelassenheit auf, als ob es sich um die alltäglichste und harmloseste Sache von der Welt handelte.

»Wo ist die Ermächtigung?« fragte er den Sergeanten.

»Das ist eine Frage, zu der Sie berechtigt sind, Mr. Hubbard«, erwiderte Meals verbindlich. »Man sieht, Sie verstehen etwas von solchen Dingen. Hier. – Sie werden sehen, es ist alles in Ordnung.«

»Das will ich um Ihretwillen hoffen, Mr. . . .?«

»Meals«, erlaubte sich der Sergeant bescheiden zu ergänzen.

»Mr. Meals«, meinte Hubbard gelassen, indem er den Bogen ohne sonderliche Eile auseinanderfaltete. »Denn wenn es nicht so sein sollte, so lägen Sie in der nächsten Minute am unteren Ende der Treppe.«

»Bitte, keine Unüberlegtheiten«, fiel Mrs. Irvine erregt und ängstlich ein, aber der Sergeant beruhigte sie durch ein sanftes Lächeln.

»Das ist nur so eine Redensart von Mr. Hubbard«, sagte er launig. »Er kann uns Leute von der Polizei nun einmal nicht leiden. Aber diesmal wäre es der dritte Rückfall«, fügte er bedeutsam hinzu, »und daher ein verdammt teurer Spaß.«

»Wessen Unterschrift ist das?« fragte der Sekretär ruhig, indem er auf das Papier tippte.

»Kommissar Bates«, gab Meals bereitwillig zurück.

»Ich bin von Kommissar Conway vernommen worden«, sagte Muriel befremdet, »und wüßte wirklich nicht . . .«

»Allerdings«, fiel der Sergeant mit einem leichten Achselzucken ein. »Es ist auch sein Fall. Aber ich konnte ihn leider nicht erreichen, um seine Unterschrift einzuholen. Da aber andererseits eine gewisse Dringlichkeit vorlag, hat eben Kommissar Bates unterschrieben. Sie werden also wohl nichts dagegen einzuwenden haben, Mr. Hubbard, daß ich an die Arbeit gehe. Und wenn Mrs. Irvine verständig ist, wird die ganze Sache keine fünf Minuten dauern. Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben«, wandte er sich höflich an die erregte Frau, »mich einen Blick in das Geheimfach in der Fensternische tun zu lassen?«

Muriel starrte mit entsetzten Augen auf den Mann, der mit harmloser Miene ungeduldig von einem Fuß auf den andern trippelte. Wer konnte von diesem Versteck und von dem, was es barg, wissen, und welches Interesse hatte er daran, es zur Kenntnis von Scotland Yard zu bringen?

»Wünschen Sie, daß ich öffne?« fragte Hubbard, den anscheinend überhaupt nichts zu überraschen vermochte. »Wenn Sie mir eine kurze Anleitung geben würden . . .«

Die junge Frau zog es vor, selbst aufzuschließen. Sie machte den Eindruck einer Schlafwandlerin, und als sie von dem geöffneten Safe zurücktrat, schwankte sie sekundenlang, so daß der Sekretär ihr besorgt beisprang.

Einen Augenblick lehnte sie mit geschlossenen Lidern in seinem Arm, und ihr schönes, bleiches Gesicht war dem seinen so nahe, daß er den Hauch ihres Mundes fühlte. Plötzlich aber schreckte sie auf, machte sich mit einer brüsken Bewegung frei und wandte sich nach dem Hintergrund des Zimmers, als ob das, was kommen werde, für sie überhaupt nicht von Interesse sei.

Mittlerweile hatte Meals mit einem raschen Griff den kleinen weißen Karton aus dem Fach gezogen, und nun, da sein Blick auf dem schimmernden Haufen weißer Spinnen ruhte, verriet seine Miene eine triumphierende Befriedigung. Bis zu dieser Minute hatte er den ihm zugekommenen anonymen Zeilen, die ihm von den bedenklichen Beweisstücken in dem Geheimfach Mrs. Irvines Mitteilung machten, nicht so recht getraut. Er hatte damit rechnen müssen, daß es sich um eine Mystifikation handelte, und in diesem Falle mußte er von Captain Conway wegen der Umgehung seiner Person eines gewaltigen Rüffels gewärtig sein. Der würde zwar wahrscheinlich auch jetzt kaum ausbleiben, aber wenn er seine interessante Beute ausbreitete, war er völlig gerechtfertigt.

Der Sergeant war in ausgezeichneter Laune, denn wenn alles so ging, wie er hoffte, war es ihm vorbehalten, das Rätsel der weißen Spinne nun in Kürze zu lösen.

*

Mrs. Irvine war vollständig gebrochen und starrte, mit den Händen an den Schläfen, unausgesetzt ins Leere.

»Sie sollten der Sache keine so große Bedeutung beimessen«, versuchte ihr Hubbard zuzureden, als der Sergeant sich endlich empfohlen hatte.

»Ich kann das alles nicht verstehen«, sagte sie halblaut und verstört. »Ich komme mir vor wie eine Figur, die zu irgendwelchen Zwecken hin und her geschoben wird, und ich weiß nicht, wie das enden soll.«

Hubbard sah mit einem eigentümlichen Blick auf die arme, gequälte Frau hinab, und das Mitleid mit ihr ließ ihn seine Stellung vergessen. Er griff in einem jähen Impuls nach ihrer feinen, gepflegten Hand und drückte sie an die Lippen.

Erst als dies geschehen war, schien sich Muriel dieser unerhörten Vertraulichkeit ihres Sekretärs bewußt zu werden, aber sie vermochte keinen anderen Protest als ein heißes Erröten aufzubringen, und ein instinktives Gefühl ließ sie Vertrauen zu ihm haben.

Er schien allerdings den Ernst ihrer Lage nicht ganz zu begreifen, denn um seinen Mund lag ein seltsames Lächeln.

»Wissen Sie, was dieser Fund bedeutet?« fragte sie gepreßt. »Daß ich nunmehr unter einem furchtbaren Verdacht stehe. Weil ich einmal so unklug war, den Besitz dieser Spinnen abzuleugnen und weil damit verschiedene grauenhafte Dinge zusammenhängen.«

In ihren Augen spiegelten sich Verzweiflung und Furcht.

»Glauben Sie«, flüsterte sie nach einer Weile kaum hörbar und hob den Blick scheu zu ihm auf, »daß man mich verhaften wird?«

»Auch das ist möglich, Mrs. Irvine«, meinte er mit seiner kühlen Gelassenheit. »Ich sage Ihnen dies nur deshalb, damit es Sie nicht allzu unvorbereitet trifft, wenn es tatsächlich geschehen sollte. Vorläufig glaube ich kaum, daß man so weit gehen wird. Die Spinnen in Ihrem Besitz mögen ja vielleicht ein wichtiges Beweisstück sein, da der Mann von Scotland Yard mit solch einem vergnügten Gesicht damit abgezogen ist« – Muriel merkte trotz ihrer Erregung, daß er schon wieder höchst eigentümlich lächelte –, »aber nur auf Indizien hin darf man einen englischen Bürger noch lange nicht der Freiheit berauben. Aber selbst wenn es vielleicht dazu kommen sollte«, fuhr er eindringlich fort, »darf Sie das nicht um Ihre Fassung bringen. Man wird Sie gewiß mit aller Rücksicht behandeln und sehr bald einsehen, daß man einen argen Mißgriff« getan hat.«

Sie hatte, während er sprach, plötzlich wieder lauschend den Kopf gehoben und schien irgendeine Erinnerung einfangen zu wollen. Aber dann machte sie eine ungeduldige Bewegung und zerrte nervös an ihrem Taschentuch.

»Wer ist Kommissar Conway?« fragte sie plötzlich und sah ihn forschend an.

»Leider kann ich Ihnen darüber keine Auskunft geben, Mrs. Irvine, oder sagen wir lieber, Gott sei Dank«, verbesserte er sich mit einem gewissen Zynismus. »Wie ich mir sagen ließ, muß man die Bekanntschaft mit diesem geheimnisvollen Herrn mindestens mit einigen Jahren bezahlen. Darunter tut er es nicht, und das ist mir denn doch eine etwas zu lange Zeit. Im übrigen soll er ein ganz eigener Kauz sein, der allen möglichen Hokuspokus treibt, auf den selbst die Geriebensten hereinfallen.«

»Was hat es denn so Wichtiges gegeben?« forschte Miss Babberly neugierig und mißtrauisch, als sie Hubbards endlich wieder habhaft wurde. Sie fand, daß Mrs. Irvine den Sekretär plötzlich in höchst ungebührlichem Maße in Anspruch nahm, und in ihrer ahnungsvollen Frauenseele regte sich ein Verdacht, der ihr Gesicht so strohgelb werden ließ wie ihr Haar.

»Ein kleines Geschäft«, erwiderte der Sekretär leichthin. »Ein Mann hat uns einen Rest alter Ware abgenommen, der eigentlich schon längst aus dem Haus gehört hätte.«

Miss Constancia war beruhigt, aber der leise Seufzer und der sehnsuchtsvolle Augenaufschlag sagten Hubbard, wie schmerzlich sie ihn entbehrt hatte.


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