Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

32

Nachdem Hubbard vor dem Hauptportal eine Weile nachdenklich auf und ab geschlendert war, nahm er ein Taxi, lohnte jedoch den Wagen in einem plötzlichen Entschluß bald wieder ab und legte den Rest des Weges nach seiner Wohnung mit der Gelassenheit eines eleganten Bummlers zu Fuß zurück.

Es war ein kalter, klarer Abend, und als Hubbard bei seiner kurzen, breiten Quergasse angelangt war, konnte er sie ziemlich deutlich überblicken. Sie lag hell und fast menschenleer vor ihm, aber er ging einige Male an ihr vorüber, bevor er die Rechte in die Tasche schob und mit einer Wendung einbog. Er hatte zu gute Augen und war zu erfahren in solchen Dingen, als daß ihm die harmlosen Straßenpassanten entgangen wären, die sich dem nächtlichen Bild so unauffällig anpaßten und die doch nicht hierhergehörten. Er wußte sofort, daß sein Haus unter Beobachtung stand, und nur über den Zweck war er sich nicht gleich im klaren. Bedeutete dies eine unmittelbare Gefahr, oder wollte man nur über alle seine Schritte unterrichtet sein? Seitdem er von dem lebhaften Interesse wußte, das der rätselhafte Mr. Strongbridge an ihm nahm, und seit der gestrigen Episode im grünen Salon des Spielklubs war er jeden Augenblick auf irgendeinen Hinterhalt vorbereitet, und es hatte ihn eigentlich überrascht, daß bisher nichts geschehen war. – Sollte es nun kommen?

Er schritt hochaufgerichtet und unbefangen an dem äußersten Rand des Gehsteiges vorwärts, gelangte aber wider Erwarten unangefochten bis zu seiner Haustür, und auch als er sie mit der linken Hand aufschloß, während seine Rechte die Waffe in der Tasche schußbereit umklammert hielt, geschah nichts.

Auch in der Wohnung war anscheinend alles in Ordnung. Er vermochte nicht selbst zu öffnen, da André die Sicherheitskette vorgelegt hatte, aber als er energisch klingelte, vernahm er sofort die wuchtigen Schritte des Dieners.

Er ließ seinen Herrn ein, als dieser sich zu erkennen gegeben hatte, und Hubbard gewahrte dabei in der Hand Andrés ein Schießeisen von vorsintflutlichen Dimensionen.

»Eine telefonische Nachricht?« fragte er kurz.

André legte den Revolver beiseite und nahm seinem Herrn den Mantel ab.

»Drei, Sir«, berichtete er. »Ich habe sie unter genauer Angabe der Zeit notiert.«

Hubbard hatte es sichtlich sehr eilig, davon Kenntnis zu erhalten, denn er ging sofort in sein Arbeitszimmer und nahm den Zettel auf, den André immer neben das Tischtelefon legte.

Die Meldungen, die der intelligente Diener mit seiner etwas steifen Handschrift niedergeschrieben hatte, waren sehr kurz und nichtssagend, aber er las sie mehrere Male durch, und seine Miene verriet, daß sie ihm zu denken gaben:

»19 Uhr 40 Minuten: Weder am Argyll Platz noch in der Berkeley Street. Hier große Aufregung, da Miss Mariman ins Theater soll.«

»20 Uhr 30 Minuten: Festgestellt, daß der Einäugige gegen 17 Uhr in der Nähe des Warenhauses gewartet hat. Knapp danach hat er mit einer Dame, deren Erregung allgemein auffiel, beim Royality-Theater ein wartendes Privatauto bestiegen, das gegen Norden fuhr. Verfolge die Spur.«

Die letzte der Aufzeichnungen war um 21 Uhr 50 eingelaufen und lautete:

»Spur verlorengegangen. Bei den Nachforschungen aber in Erfahrung gebracht, daß kurz nach 18 Uhr der italienische Wagen in Highbury wieder gesehen wurde.«

Hubbard kniff das Papier mehrmals zusammen und überlegte eine Weile.

Der Sekretär dachte an Lucy, an ihren geheimnisvollen Begleiter, der ein solches Interesse an seinen, Hubbards, Strafen hatte, daß er sie sogar aufschrieb, an den Gärtnerburschen und an den unangenehmen Herrn von Skidemore-Castle. Und dieser Gedankengang wurde für ihn zu einer lückenlosen Schlußfolgerung. Wenn Muriel Irvine tatsächlich verschwunden blieb, so wußte er, wo er sie zu suchen hatte . . .

Er zog plötzlich die Brauen zusammen und legte sekundenlang die Hand über die Augen. Es war ihm, als hätte er eben, da er an die Frau dachte, ihre große steile Handschrift vor sich gesehen, und solch ein hemmungsloses Spiel der Nerven konnte er nicht brauchen.

Aber als er eine Zigarette angezündet und sich vergewissert hatte, daß er kühl und ruhig war wie immer, lag der große weiße Briefumschlag mit den charakteristischen steilen Buchstaben noch immer auf dem Schreibtisch: »Ralph Hubbard. Eigenhändig und dringend!« Die beiden letzten Worte waren dick unterstrichen.

Er atmete sichtlich erleichtert auf und streckte bereits die Hand nach dem Brief aus, als er ihr im letzten Augenblick eine andere Richtung gab und sie auf dem Klingelknopf landen ließ.

»Wann ist dieses Schreiben abgegeben worden?« fragte er André, der dienstbeflissen erschien.

»Um 21 Uhr 25«, erwiderte dieser.

»Von wem?«

»Von einem Mann, anscheinend einem Chauffeur, der es sehr eilig hatte. Er schob mir den Brief in die Hand und verschwand sofort wieder.«

Hubbard nickte entlassend, und als er wieder allein war, legte sich ein eigentümliches Lächeln um seinen Mund. Es war ihm mit einem Male klar, was die Beobachter vor seinem Haus zu bedeuten hatten, und er begann mit dem Brief, der unzweifelhaft die Handschrift von Muriel Irvine trug, eine höchst merkwürdige und umständliche Prozedur vorzunehmen. Er faßte den Umschlag behutsam mit der Feuerzange, trug ihn zu dem Kaminvorsetzer und versuchte, ihn dort mit Hilfe eines Schüreisens vorsichtig zu öffnen. Das Papier war ziemlich stark, und da er sehr behutsam zu Werke ging, dauerte es eine geraume Weile, bevor die Einlage zutage trat. Sie bestand vorerst noch aus einem zweiten Umschlag, und erst diesem entfiel ein Briefblatt, das Hubbard nach längeren vergeblichen Bemühungen mit der unhandlichen Zange fassen und gegen das Kaminfeuer halten konnte.

Es war völlig unbeschrieben, und er hatte auch nichts anderes erwartet. Mr. Strongbridge war ein Mann von unerschöpflichen Einfällen und gab das Spiel sichtlich nicht so leicht verloren.

Ebenso umständlich und vorsichtig, wie er den Umschlag geöffnet hatte, begann er nun, dessen Inhalt in einer Blechkassette zu verwahren, und dann steckte er die Zange und das Schüreisen in den Kamin und bedeckte den ganzen Boden des Vorsetzers mit der schwelenden Glut.

Eine volle Viertelstunde starrte er gedankenvoll auf den dünnen Rauchschleier, der in die Kaminöffnung zog, dann setzte er sich an den Schreibtisch und führte mit halblauter Stimme drei geheimnisvolle Telefongespräche.

Hierauf rief die Klingel mit langem, anhaltendem Schrillen abermals den Diener herbei.

André schnupperte überrascht in der Luft herum, verzog aber keine Miene, als er die tanzenden Flämmchen vor dem Kamin bemerkte.

»André«, sagte Hubbard mit einem eigenartigen Nachdruck, der den gewiegten Mann aufhorchen ließ. »Sie sind ein sehr intelligenter Mensch, und ich bin sehr krank. Ich habe eben nach zwei Ärzten telefoniert, und ich zweifle nicht, daß meine Überführung in ein Sanatorium unbedingt notwendig sein wird. – In Wirklichkeit gedenke ich aber hierzubleiben, und wenn alles vorüber ist, mit Ihrer Beihilfe ein einfaches Abendbrot einzunehmen, da ich einen gewaltigen Hunger verspüre. Bereiten Sie also alles vor, und setzen Sie zunächst einmal alle Zimmer in festliche Beleuchtung.«

André verbeugte sich schweigend. Er hatte schon oft solche in ihren Zwecken unergründliche Aufträge von seinem Herrn erhalten und sich niemals darüber den Kopf zerbrochen, sondern immer nur blindlings gehorcht.

Die Sache spielte sich auch vollkommen programmmäßig und Schlag auf Schlag ab.

Nach etwa zwanzig Minuten fuhr das erste Auto in rasender Eile bei dem Haus vor, und ein älterer, würdiger Herr schritt etwas kurzatmig zur Wohnung Mr. Hubbards hinauf. Ihm folgte nach kurzer Zeit ein ebenso würdiger und eiliger zweiter Herr, und dann sah man hinter den hell erleuchteten Fenstern geschäftige Schatten hin und her huschen.

Nach einer weiteren Viertelstunde hielt vor dem Haus ein Krankenauto, und gleich darauf wurde der junge, elegante Mr. Hubbard als ein unförmiges Bündel auf einer Bahre die Treppe hinabgetragen und in den Krankenwagen geschoben.

Wie immer bei solchen Anlässen gab es eine kleine Schar von Neugierigen, aber diesmal schienen einige von diesen Leuten ein besonderes Interesse an der Sache zu haben, denn sie zogen ihre Köpfe erst zurück, als sie in Gefahr gerieten, von dem Wagenschlag eingeklemmt zu werden.

»Sie können servieren, André«, sagte Hubbard, nachdem er eine Weile mit einem bissigen Lächeln hinter den dichtgeschlossenen Vorhängen hervor auf die menschenleere Gasse hinabgeblickt hatte.


 << zurück weiter >>