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Es war einmal ein König, mit Namen Bihkerd, der viel Geld und viele Truppen hatte, aber mit Grausamkeit das kleinste Vergehen bestrafte und niemals verzieh. Einst ging er auf die Jagd und wurde von dem Pfeil eines seiner Jungen am Ohr verletzt. Der König fragte sogleich: »Wer hat diesen Pfeil geschleudert?« Man brachte den Jungen, welcher Jatru hieß, herbei, und der König gab den Befehl, ihn zu töten. Jatru fiel vor dem König nieder und sagte: »Erlasse mir, o König, die Strafe für eine nicht absichtlich begangene Schuld. Nachsicht ist die schönste Tugend, Großmut kann dem Menschen später selbst zugut kommen und wird ihm gewiß bei Gott als ein reicher Schatz aufbewahrt; darum tu mir nichts zuleid, Gott wird auch jedes Übel von dir abwenden.« Dem König gefielen diese Worte so sehr, daß er zum erstenmale in seinem Leben verzieh. Er hatte es aber auch nicht zu bereuen, denn Jatru war ein Prinz, der eines Vergehens willen vom Hause entflohen war und bei dem König Bihkerd Dienst genommen hatte. Bald nach diesem Ereignisse wurde er von jemandem erkannt, der seinem Vater Nachricht von ihm gab. Dieser schrieb seinem Sohne einen Brief, in welchem er ihm das Herz leicht machte und ihn zurückzukommen bat. Der Prinz kehrte zu seinem Vater zurück. der ihm freudig entgegenkam und ihn wieder wie zuvor väterlich liebte.
Um diese Zeit setzte sich einmal der König Bihkerd in einen Nachen, um zu fischen; da kam ein Sturm und warf den Nachen um und trieb den König, der sich noch an einem Brette festhielt, an das jenseitige Meeresufer in das Land, wo Jatrus Vater König war. Gegen Abend erreichte er die Tore der Hauptstadt und brachte, da sie schon geschlossen waren, die Nacht auf einem Grabmale zu. Als des Morgens die Leute in die Stadt gingen, sahen sie einen Ermordeten in der Nähe des Grabmals liegen, der in der Nacht erschlagen worden war, und da sie Bihkerd für den Mörder hielten, ergriffen sie ihn und klagten ihn beim König an, worauf ihn der König einsperren ließ. Als Bihkerd im Gefängnis war, dachte er: Das alles widerfährt mir wegen meiner vielen Verbrechen; ich habe viele Leute ungerechterweise töten lassen, nun erhalte ich aber meinen Lohn dafür. Während er aber in solchen Gedanken versunken war, kam ein Vogel und setzte sich auf die Seitenwand des Gefängnisses. Bihkerd, aus großer Leidenschaft für die Jagd, nahm einen Stein und schleuderte ihn nach dem Vogel. Aber der Stein traf den Prinzen, der im Hofe vor dem Gefängnis Ball spielte, und riß ihm das Ohr ab. Sobald man sah, wo der Stein hergekommen war, ergriff man Bihkerd und führte ihn vor den Prinzen.
Bihkerd sollte auf Befehl des Prinzen hingerichtet werden; man warf ihm schon den Turban vom Haupte und wollte ihm die Augen zubinden, da sah der Prinz, daß er nur ein Ohr hatte, und sagte zu ihm: »Wärest du nicht ein schlechter Mensch, so hätte man dir nicht dein Ohr abgeschnitten.« Bihkerd erwiderte: »Bei Gott, mein Ohr ist mir auf der Jagd abgeschossen worden, und ich habe dem verziehen, der seinen Pfeil gegen mich geschleudert hat.« Der Prinz sah ihm hierauf ins Gesicht, erkannte ihn und schrie: »Du bist der König Bihkerd, wie bist du hierher gekommen?« Bihkerd erzählte ihm seine Geschichte, die alle Anwesenden in Erstaunen setzte. Der Prinz küßte und umarmte ihn dann, ließ ihn sitzen und sagte zu seinem Vater: »Das ist der König, der mir verziehen, als ich ihm sein Ohr abgeschossen, darum will ich jetzt auch ihm verzeihen.« Dann sagte er zu Bihkerd: »Siehst du, wie deine Großmut dir zuletzt zu gut kam?« Jatru schenkte ihm dann Geld und Kleider und ließ ihn wieder in seine Heimat zurückbringen. »Wisse, o König«, sagte der Jüngling, »daß nichts schöner ist als Vergebung, die Gnade, die du erteilst, häuft sich für dich zu einem kostbaren Schatz an.«
Als der König diese Geschichte hörte, legte sich sein Zorn; er ließ den Jüngling wieder ins Gefängnis zurückführen und sagte: »Wir wollen überlegen bis morgen.«
Am achten Tage versammelten sich alle Veziere und sagten: »Was fangen wir mit diesem Jüngling an, der uns durch seine Reden besiegt? Es ist wohl zu befürchten, daß er sich rette und uns alle stürze.« Sie gingen darum zum König und sagten, sich vor ihm verbeugend: »O König, hüte dich wohl, dich von der List dieses Jünglings betören zu lassen! Hörtest du, was wir hören, du würdest ihn keinen Tag leben lassen und nimmer länger dich an seine Rede kehren. Sind wir nicht deine Veziere, die für deine Erhaltung sorgen? Wen willst du anhören, wenn du uns zehn Vezieren kein Gehör schenkst? Wir alle bezeugen, daß dieser Jüngling ein Übeltäter ist und daß er mit schlimmer Absicht in dein Gemach gegangen, um dein Heiligtum zu entehren; willst du ihn nicht umbringen, so verbanne ihn wenigstens aus dem Lande, daß das Gerede der Leute aufhöre.«
Die Rede der Veziere brachte den König wieder auf; er ließ den Jüngling rufen, und als er erschien, riefen alle Veziere einstimmig: »Du Schurke, willst du durch List und Betrug dein Leben retten und den König mit deinen Reden hintergehen? Glaubst du, daß man ein so großes Verbrechen, wie das deinige, verzeihen könne?« Da sagte der König: »Man hole den Scharfrichter, um ihn zu töten!« Aber die Veziere sprangen einer nach dem anderen hervor, und jeder rief: »Ich will ihn selbst töten!« Da sagte der Jüngling: »Einsichtsvoller König, beobachte einmal die Leidenschaftlichkeit deiner Veziere und entscheide, ob sie mich beneiden oder nicht; glaube sicher, sie wollen uns nur trennen, aber wie können sie bezeugen, was sie nicht gesehen? Das ist nichts als Neid und Groll. Du wirst sehen, wenn du mich umbringen läßt, so wirst du es bereuen, wie Jlan Schah, der auch so neidische Veziere hatte.« - »Was war das für eine Geschichte?« fragte der König. Da erzählte der Jüngling