Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

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21

Es war Dick unmöglich, im Augenblick etwas zu unternehmen. Der Zug fuhr schneller und schneller und hielt erst wieder in Dover. Vielleicht war es möglich, von dort aus mit Scotland Yard zu telefonieren. Aber dann erreichte er am Ende seinen Dampfer nicht mehr.

Als Dick in Dover ankam und durch die Paßkontrolle ging, erkannte er glücklicherweise einen Detektiv, der die Abreisenden beobachtete. Ihm erklärte er die Dringlichkeit der Situation.

»Moran hat Dover nicht passiert«, erwiderte der Beamte und schüttelte den Kopf. »Sie sind dem Anschlußzug von Boulogne-Folkestone begegnet. Aber ich werde mich sofort mit Mr. Smith in Verbindung setzen. Wir haben hier schon seit einiger Zeit eine genaue Personalbeschreibung von Mr. Moran, ebenso die Leute in Folkestone. Ich kann mir nicht erklären, daß man ihn nicht erkannt haben sollte.«

Chefinspektor Smith schickte sofort Beamte an den Bahnhof, als er die Nachricht hörte. Sie überwachten den Zug bei der Ankunft, fanden aber Moran nicht. Surefoot stellte später fest, daß der Zug auf der Station South Bromley gehalten hatte. Dort war ein Passagier, der sein Gepäck selbst trug, ausgestiegen und hatte seine Fahrkarte abgegeben. Er war mit einem Taxi weggefahren.

Der Reisende hatte offenbar einen plötzlichen Entschluß gefaßt, wie der Schaffner des Wagens aussagte. Spät am Abend wurde auch der Taxichauffeur ermittelt und verhört. Es stellte sich heraus, daß Moran zu einer anderen Station gefahren war, die ein paar Meilen von Bromley entfernt lag. Von dort aus hatte er einen Vorortzug nach London benutzt.

Ein Anruf in seiner Wohnung blieb ohne Ergebnis. Der Portier hatte ihn auch nicht gesehen.

Der Chefinspektor telefonierte Dick in dessen Pariser Hotel an. »Haben Sie nicht die Schlüssel zu Morans Wohnung?« fragte er ihn.

»Ja, das habe ich ganz vergessen. Sie liegen in meiner Werkstatt. Setzen Sie sich mit dem Hausmeister in Verbindung, Sie finden sie in der einen Tischschublade . . .«

Smith lag weniger daran, die Schlüssel zur Wohnung zu bekommen, als festzustellen, daß Leo Moran nicht zurückgekehrt war. Er würde doch sicher versuchen, seine Schlüssel aus Dicks Wohnung zu holen. Auf jeden Fall ließ der Chefinspektor Dick Allenbys Haus beobachten.

Aber Moran zeigte sich nicht. Entweder wußte er, daß man genau auf ihn aufpaßte, und zeigte sich deshalb nicht, oder aber er besaß irgendeine andere Wohnung in London, die der Polizei nicht bekannt war.

Die anderen Nachforschungen, die Smith in die Wege leitete, blieben gleichfalls erfolglos. Aber im Augenblick konzentrierte er seine Hauptaufmerksamkeit auf Moran. Die Fremdenlisten in allen Hotels wurden überwacht.

Mary Lane wußte nichts davon, daß Moran wieder in London war, und Surefoot Smith, der sie am Abend sprach, erwähnte auch nicht, daß Moran gesehen worden war. Er suchte sie gewöhnlich ein- oder zweimal am Tage auf, da er kein Risiko auf sich nehmen wollte.

Marys Hotel lag in einem alten Häuserblock mitten in West End. Es war in mancher Beziehung etwas altmodisch und primitiv eingerichtet, aber schließlich hatte der Eigentümer Gasöfen zur Heizung der Schlafzimmer aufstellen lassen und sich auch dazu bequemt, elektrisches Licht zu legen. Das Telefon betrachtete er dagegen als unliebsame Neuerung, die seinen Frieden störte. Es gab nur einen Apparat im ganzen Haus, und zwar in seinem Büro.

Mary war nicht unzufrieden darüber. Vor allem war das Hotel ruhig, und man konnte nachts schlafen. Sie fühlte sich in ihrem großen hellen Zimmer, das nach der Straße lag, sehr wohl. Es verkehrten fast nur Familien aus der Provinz hier.

Mary konnte auf einen Balkon hinaustreten, der die ganze Breite des Hauses einnahm. Allerdings passierte auf der Straße nicht viel, das man sich von oben hätte ansehen können.

Als Mr. Smith Mary am nächsten Abend wieder besuchte, hatte er Pech. Wäre er ein paar Minuten früher gekommen, so hätte er beobachten können, wie Leo Moran die breite Treppe in die Höhe stieg und dem Hotelportier in den Raum, folgte, der an Marys Zimmer stieß. Der Mann hatte sich nicht als Moran ins Hotelregister eingetragen, sondern als John More aus Birmingham. Er bestellte ein einfaches Abendbrot aufs Zimmer. Als das Geschirr wieder fortgeräumt war, schloß er die Tür, öffnete eine Mappe, nahm eine Anzahl Dokumente heraus und war eifrig tätig.

Der Chefinspektor blieb nicht lange, und Mary las noch eine Stunde. Sie hatte die Aufregungen jener furchtbaren Nacht allmählich überwunden und Surefoot gesagt, daß sie wieder in ihre Wohnung zurückkehren wollte.

»Sie bleiben besser noch eine Woche im Hotel«, hatte er ihr erwidert. »Es ist möglich, daß ich mich täusche, aber ich glaube, bis dahin habe ich den Fall vollkommen geklärt.«

»Aber da der Polizei jetzt sein Name und seine Personalbeschreibung bekannt sind, wird er mir doch nicht mehr nachstellen«, protestierte sie. »Ich bin auch vollkommen davon überzeugt, daß er nicht aus Rache, sondern aus Selbsterhaltungstrieb gehandelt hat –«

»Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es sich um diesen Menschen handelt. Vor allem muß man annehmen, daß er bis zu einem gewissen Grade geistesgestört ist.«

Mary war unzufrieden, daß ihr noch immer Einschränkungen auferlegt wurden. Sie war auch nicht damit einverstanden, daß sie so früh zu Bett gehen sollte, wie der Arzt vorgeschrieben hatte, denn sie konnte nicht einschlafen.

Erst kurz vor Mitternacht fiel sie in einen leichten Schlaf, aber eine Stunde später schreckte sie plötzlich wieder auf. Zitternd zog sie die Decke über die Schultern.

Die Tür zum Balkon, die sie geschlossen hatte, stand weit offen; ein kalter Luftzug wehte durch den Raum, und die Zimmertür war auch halb geöffnet. Mary hatte sie von innen verschlossen, darauf konnte sie sich genau besinnen.

Als sie neben dem Bett stand, erschien die Gestalt eines Mannes in der Türöffnung. Deutlich war sie in dem trüben Licht des Korridors zu sehen. Mary war einen Augenblick wie gelähmt vor Furcht und Entsetzen. Dann erkannte sie den Mann plötzlich, und in wilder Todesangst schrie sie auf.

Er trat zurück und verschwand. Sie eilte zur Tür, warf sie zu und drehte den Schlüssel um. Hastig machte sie Licht, klingelte heftig, schloß auch die Tür nach dem Balkon und saß dann verängstigt in einem Sessel, bis sie die Stimme des Nachtportiers hörte.

Schnell schlüpfte sie in einen Morgenrock, öffnete und berichtete, was sie erlebt hatte. Er sah sie ungläubig an. Zwar sagte er nichts, aber er schien davon überzeugt, daß sie geträumt hatte.

»Was, ein Mann war in Ihrem Zimmer? An mir ist aber niemand vorbeigekommen«, meinte er schließlich. »Und ich habe unten in der Halle seit zehn gewacht.«

»Gibt es nicht noch einen anderen Ausgang?«

Der Portier dachte einen Augenblick nach.

»Höchstens könnte er die Gesindetreppe hinuntergegangen sein. Ich werde einmal nachsehen. Ist Ihnen etwas gestohlen worden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht«, erwiderte sie ungeduldig. »Bitte rufen Sie Chefinspektor Smith in Scotland Yard an. Sagen Sie ihm, er möchte sofort herkommen, es sei sehr, sehr wichtig.«

Sie ging in ihr Zimmer zurück, schloß die Tür und öffnete sie erst wieder, als sie nach einem Klopfen Surefoots Stimme hörte.

Noch bevor sie sprechen konnte, rief er den Portier zurück, der ihn nach oben gebracht hatte.

»Irgendwo im Haus steht ein Gashahn auf«, sagte er.

»Ich habe es auch schon bemerkt.«

Der Mann ging den Gang entlang und kehrte dann wieder um.


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