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Mary Lane atmete auf, als sie sich verabschieden konnte.
Sie wohnte in einem großen Häuserblock in der Marylebone Road und verfügte über drei kleine Zimmer und eine noch kleinere Küche. Aber hier fühlte sie sich zu Hause und unabhängig. Nur selten empfing sie Gäste und kaum Herrenbesuch, und auf keinen Fall lud sie für spät abends Besuch ein. Daher war sie etwas bestürzt, als ihr der Portier durch das Telefon sagte, daß eben ein Herr zu ihrer Wohnung hinaufgefahren wäre.
»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen«, erklärte der Mann auf ihre Frage. »Mr. Allenby war es nicht, aber er sagte, er kenne Sie.«
Zu ihrem Erstaunen klingelte gleich darauf Leo Moran an ihrer Tür.
»Es ist unverzeihlich von mir, daß ich Sie so spät noch störe, Miss Lane, aber es handelt sich für mich um eine äußerst wichtige und dringende Angelegenheit. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse. Ihr Mädchen schläft schon?«
Mary lächelte.
»Ich habe kein Mädchen.«
Die Situation war etwas unangenehm. Sie konnte ihn kaum in die Wohnung bitten, und noch weniger passend fand sie es, den Portier heraufzurufen. Schließlich ließ sie ihn eintreten, machte aber die Wohnungstür nicht zu.
Moran war nervös. Seine Stimme klang heiser, als er sprach, und die Hand, mit der er ein großes Kuvert aus der Tasche zog, zitterte.
»Ich hätte Sie nicht belästigt, wenn ich nicht bei meiner Rückkehr nach Hause einen sehr beunruhigenden Brief von meinem Vertreter vorgefunden hätte.«
Mary kannte Moran zwar, hatte ihn aber niemals als einen Freund betrachtet. Im Gegenteil, sie fühlte sich stets unangenehm berührt, wenn er uneingeladen in ihre Theatergarderobe trat. Da sie aber ihre Rente von dem alten Hervey Lyne bekam, war es selbstverständlich, daß Leo Moran als dessen Bankier ihr das Geld übergab.
»Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein, Miss Lane«, sagte er schnell und aufgeregt. »Es ist eine rein persönliche Angelegenheit, für die ich verantwortlich bin. Der einzige, der mich aus dieser peinlichen Lage befreien könnte, wäre Ihr Vormund, Mr. Hervey Lyne. Aber ich möchte im Augenblick nicht an ihn herantreten.«
Sie war aufs höchste erstaunt. Bisher hatte sie Mr. Moran nur als einen sehr ruhigen, beherrschten Mann gekannt, den nichts aus der Fassung bringen konnte. Nun stand er plötzlich vollständig unsicher vor ihr und stotterte wie ein Schuljunge.
»Wenn ich Ihnen helfen kann, will ich es gern tun«, erwiderte sie und wartete gespannt auf das, was er ihr zu sagen hatte.
»Es handelt sich um einige Aktien, die ich für einen Bankkunden kaufte. Mr. Lyne unterzeichnete die Überweisung und die Ankaufsdokumente, aber der Käufer hat entdeckt, daß Sie auch noch Ihre Unterschrift geben müssen. Die Aktien machen nämlich einen Teil des Vermögens aus, das Mr. Lyne als Vormund für Sie verwaltet. Ich möchte noch hinzufügen«, erklärte er hastig, »daß der Preis, um den das Aktienpaket verkauft wurde, nahezu dem Einkaufspreis entspricht.«
»Ach, Sie wollen nur meine Unterschrift? Ich dachte, es wäre etwas viel Wichtigeres«, entgegnete sie erleichtert.
Er legte die Urkunde auf den Tisch, und sie sah, daß es sich so verhielt, wie er gesagt hatte. Sie hatte derartige Dokumente schon öfters in der Hand gehabt. Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo sie unterschreiben mußte. Dicht darüber stand die Unterschrift des alten Lyne.
»So, das wäre erledigt.«
Er atmete auf.
»Sie werden mich für einen sehr ungezogenen Menschen halten, weil ich Sie zu dieser späten Stunde gestört habe. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mich noch empfangen haben. Ich habe nämlich Geld ausgezahlt und Werte aus der Hand gegeben, ohne die nötige Vollmacht zu besitzen. In dem Fall bin ich persönlich für die Summe haftbar. Wenn der alte Lyne zum Beispiel morgen sterben sollte, würde die Übertragung der Aktien einfach wertlos sein.«
Sie sah ihn merkwürdig an. »Aber der alte Lyne wird doch wahrscheinlich nicht morgen sterben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Er ist ein alter Mann, und es ist vieles möglich.«
Plötzlich reichte er ihr die Hand.
»Gute Nacht – und nochmals herzlichen Dank.«
Sie schloß die Tür hinter ihm, ging in ihre kleine Küche und kochte sich eine Tasse Schokolade. Immer noch etwas verwirrt setzte sie sich auf den Küchentisch; während sie trank, überlegte sie sich, was dieser mitternächtliche Besuch eigentlich bedeutete. Bei der Aufregung und Hast, die Moran gezeigt hatte, hätte man denken können, der alte Mann läge in den letzten Zügen. Aber Lyne war vollkommen frisch und munter gewesen, als Mary ihn das letzte Mal gesehen hatte.
*
Am nächsten Morgen rief Dick Allenby an und erzählte ihr von seinem Verlust. Sie konnte es zuerst nicht glauben und dachte, daß er einen Scherz mache. Erst als er von der Untersuchung des Chefinspektors Smith berichtete, kam ihr die volle Wahrheit zum Bewußtsein.
»Aber das ist ja schrecklich!«
»Surefoot hielt es für einen Akt der Vorsehung. Moran hat sich nicht darüber geäußert.«
»War er denn bei dir?« fragte sie schnell.
»Ja. Warum fragst du?«
Sie zögerte. Moran hatte offenbar gewünscht, daß sein Besuch bei ihr als eine Privatangelegenheit aufgefaßt werden sollte, und sie wollte ihn nicht verraten.
»Ach, nur so«, erwiderte sie. »Komm doch bitte zu mir und erzähle mir alles.«
Eine halbe Stunde später war er bei ihr, und sie wunderte sich, daß die Sache so wenig Eindruck auf ihn gemacht hatte und daß er in so guter Stimmung war.
»Es ist wirklich nicht so wichtig, wie es vielleicht aussieht. Wenn die Luftpistole gestohlen worden sein sollte, um mir das Patent zu entwenden, so wird der eventuelle Käufer schlau genug sein, sich zuerst bei den verschiedenen Patentämtern zu vergewissern, ob die Sache nicht bereits angemeldet ist. Und gerade heute morgen habe ich aus Deutschland die Mitteilung bekommen, daß meine Erfindung auch drüben eingetragen worden ist.«
Er wurde durch ein Klopfen an der äußeren Tür unterbrochen und öffnete einem zweiten Besucher. Mike Hennessey hatte bereits telefonisch um Erlaubnis gebeten, Mary schon so frühzeitig besuchen zu dürfen.
Mike wurde etwas verlegen, als er Dick Allenby vorfand. Er war im allgemeinen ein gutmütiger Charakter und großzügig, von Natur aus etwas träge und langsam in seinen Bewegungen. Besonders gesund sah er nie aus, aber an diesem Morgen war er auffallend blaß. Mary machte auch eine Bemerkung darüber.
Mike schüttelte den Kopf.
»Nein, krank bin ich nicht, ich habe nur schlecht geschlafen. Bitte, gehen Sie nicht, Mr. Allenby. Ich habe nichts Besonderes mit Miss Lane zu besprechen. Ich wollte nur wegen unserer Theateraufführung mit ihr reden. Das Stück muß abgesetzt werden.«
»Gott sei Dank!« rief Mary befriedigt. »Das ist die beste Nachricht, die ich seit Monaten gehört habe.«
»Für mich ist es aber ein schwerer Schlag«, entgegnete Mike bedrückt.
»Hat Mr. Wirth denn seine Unterstützung zurückgezogen?«
Mit dieser Frage kam sie der Wahrheit näher, als sie ahnte. Mr. Wirths wöchentlicher Scheck, der eigentlich am vergangenen Tag hätte kommen sollen, war ausgeblieben, und Mike nahm es nicht auf sich, unter diesen Umständen weiterzuspielen.
»Heute abend steht es schon in der Zeitung, daß wir am Sonnabend Schluß machen. Ich habe obendrein noch Glück, daß ich das Theater weiterverpachten konnte. Ich wünschte nur, ich hätte mehr dabei herausgeschlagen. Vorige Woche habe ich ein besseres Angebot leider abgelehnt.«
Mike war noch viel nervöser und aufgeregter als Moran am Abend vorher. Er konnte die Hände nicht ruhig halten und nicht stillsitzen.
»Wer ist eigentlich dieser Mr. Wirth, und was macht er?« fragte Dick.
»Das weiß ich nicht. Er hat irgendein Geschäft in Coventry«, entgegnete Mike. »Ich überlege schon, ob ich nicht heute zu ihm fahren soll, um mit ihm zu sprechen. Aber das Wichtigste an der Sache ist folgendes. Morgen abend muß ich die Gagen zahlen, und ich habe nicht genug Geld auf der Bank. Vielleicht kommt der Scheck heute noch, dann ist alles in Ordnung. Nun ist Ihre Gage die größte, Mary. Würden Sie mir eine Woche Zahlungsaufschub geben, wenn ich das Geld von Mr. Wirth nicht bekomme?«
Sie war unangenehm überrascht. Bei der Aufführung anderer Stücke war die Zahlungsfähigkeit Mikes stets eine zweifelhafte Sache gewesen, aber bei dem Drama »Klippen des Schicksals« hatte er sich um die finanzielle Seite nicht zu kümmern brauchen. Was auch immer passieren mochte, das Geld für die Gagen war vorhanden gewesen.
»Natürlich stunde ich Ihnen die Bezahlung«, sagte sie. »Aber Mr. Wirth ist doch nicht etwa –«
»Sie meinen bankrott? Nein, das glaube ich nicht. Aber er ist ein merkwürdiger Mann«, meinte Mike unbestimmt.
Er sagte nichts weiter über diesen Punkt und war anscheinend zufrieden, daß er keine näheren Auskünfte zu geben brauchte. Etwas abrupt verabschiedete er sich.
»Der ist allerdings sehr stark im Druck«, sagte Dick. »Ich glaube, daß nicht allein der ausgebliebene Scheck von Mr. Wirth daran schuld ist. Es muß noch etwas anderes mitspielen.«
Er erhob sich.
»Komm doch mit zum Mittagessen«, lud er sie ein. Aber sie schüttelte den Kopf, sie wollte zu Hause bleiben.
Dick ging zum Scotland Yard und mußte eine halbe Stunde warten, bevor Surefoot Smith zurückkehrte. Der Chefinspektor konnte ihm nicht viel Neues erzählen. Eine Beschreibung des gestohlenen Modells war veröffentlicht worden.
»Aber das wird Ihnen nicht viel helfen«, meinte Smith. »Ich glaube nicht, daß der Dieb die Pistole in irgendein Pfandhaus trägt oder auf dem Markt verkauft. Kennen Sie eigentlich einen Mr. Washington Wirth?« fragte er plötzlich.
»Ich habe von ihm gehört.«
»Haben Sie ihn jemals getroffen? Er ist ein Mann, der gern große Gesellschaften gibt.«
Dick lächelte.
»Mich hat er noch nie eingeladen. Aber ich weiß, daß das seine Marotte ist.«
Surefoot nickte.
»Ich komme gerade aus dem Kellner-Hotel. Die Leute dort wissen auch nichts Genaues über ihn. Er hat immer bar bezahlt. Seit drei Jahren gibt er seine Einladungen im Hotel. Er mietet dazu eine Reihe von Gesellschaftsräumen, überläßt aber die Zusammenstellung des Menüs und das Engagement der Kapelle dem Oberkellner. Weiter konnte ich nichts erfahren.«
»Interessieren Sie sich für ihn?« fragte Dick und erzählte Smith dann, wie aufgeregt Mike Hennessey gewesen war.
Surefoot hörte gespannt zu.
»Hat er eigentlich eine Bank? Nun, er kann ja einer von diesen Geschäftsleuten aus Mittelengland sein. Ich habe nie verstanden, warum sich diese Getreide- und Kohlenhändler immer so sehr für das Theater interessieren. Das ist auch so eine Verrücktheit, die sich nach dem Krieg unheimlich verbreitet hat.«
»Mike kann Ihnen jedenfalls viel von ihm erzählen«, erwiderte Allenby.
Mr. Smith zog die Lippen zusammen.
»Ach, Mike erzählt uns nichts Vernünftiges«, sagte er sarkastisch. »Der scheut sich, Ihnen zu sagen, daß er nur vier Finger an der rechten Hand hat, weil er fürchtet, man könnte das irgendwie gegen ihn ausnützen. Ich kenne Mike zu gut!«
»Auf jeden Fall weiß er etwas von Wirth, denn der Mann hat sein letztes Stück finanziert.«
Da Dick niemand fand, mit dem er essen konnte, entschloß er sich, in den Snells-Club zu gehen, wo man sehr gut bedient wurde. Nur zwei Mitglieder waren ihm unsympathisch, und ausgerechnet die beiden ersten, die er sah, waren Jerry Dornford und Jules, die an einem der Fenster saßen. Jules grüßte durch ein Kopfnicken, während Jerry starr nach der anderen Seite blickte, als Dick vorüberging.
Die beiden waren auch eben erst gekommen und hatten gerade Platz genommen, als Allenby in den Saal trat. Jules hatte bis jetzt das Thema vermieden, das Jerry vor allem mit ihm besprechen wollte. Er machte Bemerkungen über die Leute und die Autos auf der Straße, erzählte von der Militärkonferenz, die zur Zeit in London tagte, und von der Gesellschaft, zu der er am vergangenen Abend eingeladen war.
»Und wie steht es mit der Luftpistole?« fragte Jerry schließlich.
»Luftpistole?« Jules sah ihn zuerst verständnislos an, dann lehnte er sich zurück und lachte. »Ach, das ist aber gut, daß wir uns heute treffen! Ich wollte Sie sowieso deswegen sprechen. Den kleinen Plan, den ich ausgeheckt hatte, müssen wir nämlich fallenlassen.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Jerry aufgeregt. Sein Gesicht verlor die Farbe.
»Ich meine, daß meine Auftraggeber, oder vielmehr die Vorgesetzten meiner Auftraggeber, entschieden haben, in der Sache nicht weiterzugehen. Sie haben nämlich herausgebracht, daß alle wichtigen Details der Pistole durch Patente geschützt sind, besonders in den Ländern, wo die Erfindung am aussichtsreichsten zu verwerten wäre.«
Jerry starrte ihn fassungslos an.
»Meinen Sie damit, daß sie das Modell nicht mehr haben wollen?«
Jules nickte.
»Es ist tatsächlich nicht notwendig, daß Sie sich irgendwelchen unnötigen Gefahren aussetzen. Wir wollen einmal darüber sprechen, wie wir das Geld, das Sie brauchen, auf andere Weise beschaffen können –«
»Verdammt noch einmal, was fällt Ihnen ein!« sagte Jerry wild. »Ich habe doch die Pistole schon gestern abend aus der Werkstatt geholt!«
Jules strich sich über das glatte Kinn und sah seinen Begleiter nachdenklich an.
»Das ist allerdings sehr unangenehm. Sie haben tatsächlich das Modell schon an sich genommen? Nun, zurückbringen können Sie es allerdings nicht. Ich kann Ihnen nur den einen guten Rat geben, von London wegzufahren und es irgendwo in einen tiefen Sumpf zu werfen. Noch besser in die Themse zwischen Temple Lock und Hambleden.«
»Wollen Sie damit wirklich sagen, daß ich das Risiko ganz umsonst auf mich genommen habe?« fragte Jerry heiser.
Jules zuckte die Schultern.
»Es tut mir furchtbar leid – meine Auftraggeber –«
»Ihre verdammten Auftraggeber! Sie haben mir ganz bestimmt versprochen, mir ein paar tausend Pfund zu beschaffen, wenn ich Ihnen das Ding besorgen würde!«
Jules lächelte.
»Und nun, mein lieber Junge, versichere ich Ihnen in aller Form, daß ich keine tausend Shilling für die Pistole bekommen kann. Es ist natürlich ein großes Pech für Sie. Hätten Sie mir das Ding damals gleich besorgt, als ich mit Ihnen zuerst davon sprach, dann wäre die Sache längst in Ordnung und bezahlt. Jetzt ist es zu spät.« Er beugte sich vor und klopfte Jerry freundlich auf den Arm. »Es hat keinen Zweck, daß Sie deshalb den Kopf hängen lassen oder wütend werden. Wir wollen überlegen, wie wir das Geld auf andere Weise beschaffen können.«
Jerry Dornford war völlig niedergeschlagen. Er kannte Hervey Lyne zur Genüge. Der Alte hätte die zweitausend Pfund genommen, wenn er sie ihm gebracht hätte, und ihm für den Rest Aufschub gegeben. Hervey Lyne hatte noch nie bares Geld ausgeschlagen. Am liebsten hätte Jerry diesen verdammten Jules, der ihn so unverschämt anlächelte, am Kragen gepackt und aus dem Fenster geworfen. Aber er vergaß nicht, daß er ein Gentleman war, und da man von einem solchen verlangt, daß er sich in der Hand hat und sich nie zu Tätlichkeiten hinreißen läßt, verhielt er sich ruhig.
»Nun, dann läßt sich nichts daran ändern«, sagte er schließlich. »Bestellen Sie mir etwas zu trinken.«
Jules spielte mit den Fingern auf der Tischplatte.
»Unser Freund Allenby sitzt am dritten Tisch rechts – wäre es nicht ein vorzüglicher Witz, wenn Sie zu ihm gingen und ihm sagten: ›Ich habe Ihnen einen kleinen Streich gespielt und Ihre Pistole stibitzt?‹«
»Hören Sie mit dem Unsinn auf«, unterbrach ihn Jerry grob. »Er hat mich gestern abend angerufen und mich gefragt, ob ich sein Modell hätte. Außerdem hat er die Sache der Polizei angezeigt. Heute morgen war Chefinspektor Smith schon bei mir.«
»So? Das ist allerdings schade. Hier kommt Ihr Whisky.«
Die beiden saßen noch lange beisammen und beobachteten auch, daß Allenby den Klub verließ und auf die andere Seite der St. James Street hinüberging.
Dick hatte sich kaum entfernt, als er am Telefon verlangt wurde. Mary Lane wollte ihn sprechen, denn sie brauchte dringend seinen Rat. Sie rief seine Wohnung an, aber dorthin war er noch nicht zurückgekehrt. Ebenso erfolglos versuchte sie es bei einem Klub, in dem er sich manchmal nachmittags aufhielt.
Sie hatte zu Hause gegessen und gerade die kleinen Schecks, mit denen sie die Lebensmittelhändler bezahlte, ausgeschrieben, als die merkwürdige Nachricht kam. Ein kleiner schmutziger Junge brachte ihr den Brief.
»Ein alter Herr hat mir gesagt, ich soll Ihnen das bringen«, meldete er im Londoner Jargon.
»Ein alter Herr?«
Sie sah auf die Adresse und erkannte Hervey Lynes Handschrift.
Der kleine Bote erzählte ihr auf ihre Frage, daß er ein Paket in Nr. 19 abgegeben habe. Als er zurückkam, sah er den alten Herrn, der, auf einen Stock gestützt, in der Haustür stand, einen Schlafrock trug und den Brief in der Hand hielt. Der Alte hatte den Jungen zu sich gerufen, ihm ein Zweieinhalbshillingstück gegeben (das mußte ihm beinahe das Herz gebrochen haben) und ihn beauftragt, den Brief sofort an die Adresse zu bringen.
Sie riß den Umschlag auf. Die Mitteilung war mit Bleistift auf die Rückseite eines Bogens geschrieben, der mit Schreibmaschinenzeilen bedeckt war.
Bringe Moran heute nachmittag um drei Uhr bestimmt in mein Haus. Vor zwei Tagen habe ich mit ihm gesprochen, aber ich bin durch seine Erklärungen nicht befriedigt. Nimm einen Polizeibeamten mit.
(Hier war über die Zeile ein Wort gekritzelt, das sie als Smith entzifferte.)
Sage aber weder Moran noch sonst jemand etwas von dem Polizeibeamten. Die Sache ist sehr dringend.
H. L.
Der Junge konnte ihr keine weiteren Angaben machen. Sie konnte auch ihren Vormund nicht anrufen, da er in seinem Haus kein Telefon duldete. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Dann bemühte sie sich vergeblich, Dick anzurufen.
Surefoot Smith kannte sie kaum gut genug, um sich persönlich an ihn wenden zu können, und außerdem hatte sie, wie viele Frauen, eine Abneigung, direkt mit der Polizei zu verhandeln. Sie rief schließlich Morans Bank an und erfuhr, daß er heute nicht im Büro erschienen sei. Dann klingelte sie in seinem Klub und in seiner Privatwohnung an, hatte aber ebensowenig Erfolg. Moran hatte seine Wohnung am Morgen verlassen und gesagt, daß er in den nächsten zwei bis drei Wochen nicht zurückkehren werde, da er seinen Urlaub angetreten habe. Merkwürdigerweise hatte man ihr in der Bank davon nichts gesagt.
Verwirrt saß sie am Fenster und überlegte, was sie noch unternehmen konnte, als plötzlich zu ihrer Freude das Telefon läutete. Dick meldete sich. Er war in den Klub zurückgekehrt, um einige Briefe abzuholen, die er vergessen hatte, und man hatte ihm von ihrem Anruf berichtet.
»Das ist aber merkwürdig«, meinte er, als er von Lynes Mitteilung hörte. »Ich werde versuchen, mit Smith in Verbindung zu kommen. Am besten erwartest du mich vor der Untergrundstation in der Baker Street, sagen wir, in einer Viertelstunde.«
Mary mußte zehn Minuten an der verabredeten Stelle warten. Kurz vor drei kamen Dick und Smith in einem Auto an, und sie stieg zu ihnen ein. Dick nannte dem Chauffeur das Ziel, und der Wagen fuhr weiter.
»Das klingt alles so geheimnisvoll«, meinte Dick. »Zeig mir doch mal den Brief.« Sie reichte ihm das Schreiben. Er betrachtete es genau und drehte dann das Blatt um.
»Hallo, das ist eine Bankabrechnung«, sagte er. »Donnerwetter, was für hohe Zahlen!«
Mary hatte sich nicht um die Schreibmaschinenzeilen auf der Rückseite gekümmert.
»Über zweihunderttausend in bar und mehrere hunderttausend in Papieren! Was hat das nur zu bedeuten, daß er dir den Brief geschrieben hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
Auch Smith betrachtete das Schreiben sorgfältig.
»Ist er blind?« fragte er dann plötzlich.
»Ja, beinahe«, entgegnete Dick. »Er gibt es selbst nicht zu, aber er kann kaum noch sehen. Hast du eigentlich Moran angerufen?«
Mary schüttelte den Kopf.
»Niemand weiß, wo er ist. Er war heute nicht auf der Bank, und in seiner Wohnung ist er auch nicht.«
Surefoot reichte ihr das Blatt zurück.
»Es sieht so aus, als ob er mich zunächst nicht sehen will, wenigstens, wenn wir Moran nicht mitbringen.«
Das Taxi bog in Naylors Crescent ein, und sie besprachen, daß Surefoot Smith im Wagen warten sollte, während Dick und Mary den alten Lyne aufsuchten.
Als sie aber an der Haustür klopften, erhielten sie keine Antwort. Die Häuser in Naylors Crescent standen ziemlich weit von der Straße zurück. Plötzlich öffnete sich ein Fenster im Nebengebäude, und ein Dienstmädchen schaute heraus.
»Es ist niemand zu Hause. Mr. Lyne ist vor etwa einer Stunde in seinem Rollstuhl ausgefahren worden.«
»Wohin denn?« fragte Dick.
Das Mädchen konnte darüber keine Auskunft geben, aber Mary wußte Bescheid.
»Sie fahren immer zur selben Stelle in die Privatgärten des Parks. In ein paar Minuten ist man dort.«
Das Taxi wurde nicht länger benötigt, und Dick zahlte den Chauffeur. Sie waren gerade im Begriff, über die Straße zu gehen, als ein großer offener Wagen an ihnen vorüberratterte. Dick konnte einen kurzen Augenblick lang den Mann am Steuer sehen. Es war Jerry Dornford. Der Wagen machte viel Geräusch und mußte schon ziemlich alt sein.
»Wenn die Polizisten aufpaßten, müßten sie Jerry wegen unnötigen Lärmens aufschreiben«, sagte Smith.
Kurze Zeit später entdeckten sie Mr. Lynes Rollstuhl. Binny saß auf einem kleinen Klappstuhl daneben, hatte eine Zeitung auf den Knien und eine Goldbrille auf der großen Nase.
Das Tor zum Park war verschlossen, und es dauerte einige Zeit, bevor Dick die Aufmerksamkeit des Butlers auf sich gelenkt hatte. Gleich darauf kam Binny, schloß auf und ließ sie in den Park.
»Ich glaube, er schläft«, meinte er, »und ich bin deshalb in einiger Verlegenheit. Wenn ich ihn jetzt heimfahre und er wacht währenddessen auf, schimpft er entsetzlich! Und um drei muß er zu Hause sein!«
Hervey Lynes Kopf war auf die Brust gesunken. Die blaue Brille saß fest; die Hände hatte er auf die Decke gelegt. Binny faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in die Tasche und nahm seinen Stuhl.
»Wollen Sie ihn nicht lieber aufwecken?« fragte Mary und kam einen Schritt näher.
»Mr. Lyne!« sagte sie und wiederholte dann seinen Namen, noch lauter, aber der Alte rührte sich nicht.
Surefoot Smith, der in einiger Entfernung stehengeblieben war, kam nun zu ihr. Er ging um den Rollstuhl herum, beugte sich über den alten Mann, öffnete dessen Rock und knöpfte ihn wieder zu. Dann nahm er Mary freundlich am Arm und führte sie fort.
»Gehen Sie nach Hause«, sagte er. »Ich besuche Sie später in Ihrer Wohnung.«
Sie sah ihn an und wurde bleich.
»Ist er tot?« fragte sie entsetzt.
Surefoot nickte und drängte sie zum Parktor.
»Er ist durch die Rücklehne erschossen worden«, sagte er, als sie außer Hörweite war. »Ich sah den Einschlag, als ich um den Rollstuhl herumkam. Sehen Sie her!« Er öffnete den Rock des Toten.
Es war kein erfreulicher Anblick.