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Surefoot Smith grübelte in seiner Privatwohnung in der Panton Street über die Probleme nach, die er lösen sollte. Im Augenblick schrieb er der Reihenfolge nach in seiner einzigartigen Stenographie auf, wo Leo Moran nach den bisherigen Feststellungen überall in der Welt aufgetaucht war.
Der Bankdirektor hatte im Rundfunk einen Vortrag gehalten. Nach dem Vortrag hatte sich Moran ins Sheridan-Theater begeben, von dort zur Wohnung Dick Allenbys. Dann mußte er nach Hause zurückgekehrt sein, wo er einen Brief vorfand – Surefoot wollte ihm das ruhig glauben. Dieser Brief veranlaßte ihn, Mary Lane noch einen Besuch zu machen.
Was hatte Moran nun aber am Mordtag selbst gemacht?
Eins war jedenfalls sicher: Das Flugzeug, das er benutzt hatte, war erst im letzten Augenblick gemietet worden. Er hatte also zuerst andere Absichten gehabt.
Um welche Aktien mochte es sich übrigens gehandelt haben, für deren Übertragung er Mary Lanes Unterschrift brauchte? Diese Frage konnte wohl erst nach langen, mühsamen Nachforschungen beantwortet werden.
Das Verschwinden Jerry Dornfords war ein Problem für sich. Sein Diener in der Half Moon Street sagte, daß er sich darüber keine Sorge mache. Sein Herr sei schon öfter tagelang weggeblieben, ohne anzugeben, wo er sich aufhielte. Mr. Dornford war anscheinend keine mitteilsame Natur, außerdem ein Mann ohne Geld und mit nur wenigen Freunden. Der eine oder andere von ihnen hatte Besitzungen auf dem Land, aber die Nachforschungen dort blieben ohne Erfolg. Der Diener erinnerte sich wohl an die Namen einiger Damen, mit denen Dornford verkehrte, aber das brachte auch keine Aufklärung.
Dornford selbst besaß ein kleines Gut in Berkshire; ein Teil der Besitzung war Ackerland und brachte genug Pacht ein, um die Hypothekenzinsen zu zahlen. Auf dem Besitztum stand ein Haus, das jedoch schon vor vielen Jahren an einen Golfklub vermietet worden war.
Auf keinen Fall besaß Dornford genügend Mittel, um Wohnungen an zwei oder drei Stellen zu unterhalten.
Das Geschoß, mit dem der alte Lyne getötet worden war, hatte man noch nicht gefunden, obwohl der Rasen zum größten Bedauern der Parkdirektion abgehoben wurde. Immerhin konnte es in einem solchen Winkel abgefeuert worden sein, daß es in den Kanal oder auf das jenseitige Ufer fiel.
Wenn Surefoots erste Theorie stimmte, daß Lyne von dem Obergeschoß des Hauses in Parkview Terrace aus erschossen wurde, mußte die Kugel ein paar Schritte von der Stelle entfernt gefunden werden, wo der Rollstuhl gestanden hatte. Und wenn der tödliche Schuß aus Dornfords Auto abgegeben worden war, konnte das Geschoß kaum durch Lynes Körper gegangen und bis zum Kanal geflogen sein.
Surefoot Smith blieb in steter Verbindung mit dem Butler Binny, aber dieser konnte ihm auch keine weiteren Aufklärungen geben, er hatte weder Schuß noch Einschlag gehört. Das war auch verständlich, denn Dornfords Auto hatte einen solchen Spektakel gemacht, daß alle anderen Geräusche darin untergingen.
Es war Sonnabendnachmittag vier Uhr, und Surefoot Smith, der in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte, war in seinem Sessel eingenickt. Ärgerlich über sich selbst fuhr er nach einer Weile in die Höhe, erhob sich sofort, wusch sich und ging dann nach Haymarket.
Er wußte noch nicht, wie und in welcher Richtung er weiterarbeiten sollte.
Schließlich wanderte er über Piccadilly Circus, blieb unentschlossen an einer Straßenecke stehen und beobachtete die haltenden Wagen. Plötzlich stieß ihn jemand an.
Der Mann, der ihn angerempelt hatte, ohne es zu wollen, entschuldigte sich und wollte weitergehen. Aber Surefoot erkannte ihn und faßte ihn am Ärmel.
»Was ist denn mit Ihnen los, Mike?«
Surefoot war mit Recht erstaunt.
In vierundzwanzig Stunden hatte sich Mike Hennesseys Aussehen auffallend verändert. Sein dickes, unrasiertes Gesicht war aufgedunsen und zeigte eine häßliche graue Farbe. Seine Augen waren blutunterlaufen. Bildete es sich Surefoot nur ein, oder wurde der Mann tatsächlich bleich, als er ihn ansah?
»Hallo!« stammelte Mike. »Ach – ist es nicht sonderbar, daß wir uns hier treffen?«
»Was ist denn mit Ihnen los, Mike?« wiederholte Surefoot.
Der Chefinspektor hatte sich angewöhnt, auch in den unschuldigsten Menschen verbrecherische Absichten zu wittern, und seine Frage klang deshalb vorwurfsvoll und mißtrauisch.
»Nichts – ich laufe heute herum wie im Traum. Das Stück ist vom Spielplan abgesetzt, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Ich habe den ganzen Morgen versucht, Sie anzutelefonieren. Wo haben Sie denn gesteckt?«
Mike fuhr zusammen.
»Sie haben . . . Warum denn, Surefoot, alter Knabe? Ich war nicht in der Stadt. Was wollten Sie von mir?«
»Sie waren nicht in Ihrer Wohnung und Sie waren auch nicht im Theater. Warum sind Sie mir aus dem Weg gegangen?«
Mike versuchte zu sprechen, schluckte und sagte dann heiser:
»Wir wollen irgendwo ein Glas zusammen trinken. Ich habe schwere Sorgen.«
In einer Seitenstraße lag eine Kneipe, wo man Bier eigentlich erst von sechs Uhr abends an bekommen konnte. Trotzdem gingen die beiden dahin, und der Oberkellner empfing sie mit einem Lächeln.
»Wollen Sie sich mit dem Herrn ein wenig privat unterhalten, Mr. Smith? Sicher wollen Sie nicht hier draußen im großen Lokal sitzen, das ist nicht angenehm. Kommen Sie in das Zimmer des Geschäftsführers.«
Er führte die beiden in einen kleinen Privatraum, der durchaus nicht das Büro des Geschäftsführers war, höflicherweise aber so genannt wurde.
»Ich werde Ihnen eine Portion Tee bringen, Mr. Smith. Mr. Hennessey, Sie nehmen doch Kaffee?«
Mike hatte die Augen geschlossen und nickte.
»Nun, was für Sorgen haben Sie?« fragte Smith geradezu. »Handelt es sich um Washington Wirth?«
Mike öffnete sofort die Augen und starrte ihn an.
»Ja«, erwiderte er und blinzelte den Chefinspektor an. »Ich meine . . . ja . . . er wird sich wohl nicht mehr ums Theater kümmern, und das macht mir große Sorge. Er war ein guter Freund von mir.«
Es fiel Mike nicht nur schwer zu reden, sondern auch zu atmen. Er keuchte förmlich.
»Wollten Sie seinetwegen mit mir sprechen?« fragte er nervös.
»Ja. Er war also ein Freund von Ihnen?«
»Freund kann man eigentlich nicht sagen. Er war der Mäzen meines Theaters«, verbesserte Hennessey schnell. »Ich sorgte für ihn, wenn er in der Stadt war. Viel wußte ich nicht von ihm, aber er war sehr reich.«
»Haben Sie ihn nie gefragt, woher er das Geld hatte?«
»Nein, das habe ich natürlich nicht getan.« Hennessey konnte dem Chefinspektor nicht in die Augen sehen.
Der Oberkellner kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei große Bierflaschen, eine Flasche Whisky, zerstoßenes Eis und ein Siphon mit Sodawasser standen.
»Hier ist Ihr Tee«, sagte er in aller Form, stellte die Getränke nieder und ging wieder hinaus.
Surefoot Smith nahm an dieser Übertretung des Gesetzes keinen Anstoß.
»Also, Mike, nun sagen Sie doch schon, was Sie wissen«, begann er freundlich. »Ich möchte von Ihnen erfahren, wer dieser Wirth eigentlich ist.«
Hennessey feuchtete die trockenen Lippen an.
»Zuerst würde ich gern hören, was eigentlich los ist«, erwiderte er verbissen. »Nicht, daß ich Ihnen etwas Bestimmtes sagen könnte, aber nehmen wir einmal an, ich wüßte etwas – wo bleibe ich? Stellen Sie sich einmal vor, ich hielte ihn für einen anderen und würde zu ihm sagen; ›Entweder helfen Sie mir, oder ich fange an zu erzählen.‹«
»Ja, angenommen, Sie wollten ihn erpressen«, unterbrach ihn Smith brutal.
Mike stöhnte.
»Nein, ich habe ihn nicht erpreßt. Ich war ja meiner Sache gar nicht sicher, ich habe doch nur einen Bluff versucht, um zu sehen, wie weit er gehen würde . . .« Plötzlich brach Mike zusammen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen. »Ach, es ist schrecklich!« stöhnte er.
Andere Leute wären in Verwirrung geraten, Surefoot Smith war nur interessiert. Er legte die Hand auf Mikes Arm.
»Sind Sie auch an dem Mord beteiligt? Darum handelt es sich jetzt.«
Mikes Hände fielen plötzlich auf den Marmortisch. Sein tränenbedecktes Gesicht zeigte einen bestürzten Ausdruck, aber er weinte nicht mehr.
»Mord . . .? Sie meinen, ich soll in einen Mord verwickelt sein?« fragte er mit schriller, erregter Stimme.
»Ja, an dem Mord an Hervey Lyne. Wußten Sie nicht, daß er erschossen worden ist?«
Mike sah ihn starr vor Schrecken an.
»Was, Lyne . . . ist erschossen?« stieß er mühsam hervor.
Es war kaum zu glauben, daß er der einzige Mann in London sein sollte, der nichts von dem geheimnisvollen Mord in Regent's Park erfahren hatte, denn die Zeitungen waren voll davon. Aber Surefoot fühlte, daß Mike ihm nichts vormachte.
»Sie wollen mich doch nicht etwa aufs Glatteis führen, Surefoot?«
»Nein. Wie kommen Sie denn auf eine solche Idee?«
Mike schwieg und sah den Beamten mit großen Augen an. Aber seine Züge waren vollkommen ausdruckslos. Als er nach einer Weile wieder sprach, hatte er sich gesammelt.
»Das ist entsetzlich! Ich habe die Zeitungen heute morgen noch nicht gelesen.«
»Es stand gestern abend drin«, erklärte Smith.
Mike schüttelte den Kopf.
»Seit Donnerstag morgen habe ich keine Zeitung mehr gesehen. Der alte Lyne ist also tot! Er war doch der Vormund von Miss Lane.« Surefoot wußte, daß Mike Zeit gewinnen wollte, um sich wieder vollständig zu fassen. »Ich habe wirklich nichts davon gelesen. Es ist merkwürdig, wie man Dinge übersehen kann, die in der Zeitung stehen. Ich war so mit dem Zusammenbruch meines Theaters beschäftigt, daß ich mich für nichts anderes interessierte.«
»Was haben Sie denn eigentlich für Washington Wirth getan?«
Surefoot sprach eisig. Er hatte sein freundliches Wesen abgelegt und interessierte sich im Augenblick nicht einmal für das Bier, das neben ihm stand.
»Haben Sie Geld für ihn von der Bank abgehoben?«
Mike nickte. »Ja. Große Summen. Ich bin zur Bank gegangen und habe mich dann später mit ihm getroffen.«
»Wo sind Sie mit ihm zusammengekommen?« fragte Smith.
»An den verschiedensten Stellen, zum Beispiel auf Bahnhöfen, meistens aber im Kellner-Hotel. Er hob gewöhnlich einen großen Betrag ab, wenn er eine Gesellschaft gab, und ich brachte ihm das Geld, bevor die Gäste kamen. Er sagte, er sei Fabrikbesitzer in Mittelengland, aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Smith, ich habe immer daran gezweifelt. Den Eindruck eines Verbrechers hat er aber nicht auf mich gemacht. Man begegnet ja den merkwürdigsten Leuten, die in guten Verhältnissen leben und Geld wie Heu haben. Warum sollte er nicht dazu gehören? Er ist nicht der erste, der sein Geld in Theater steckt, und hoffentlich ist er auch nicht der letzte.«
»Von welcher Bank haben Sie Geld für ihn geholt?«
Mikes Antwort stimmte mit dem überein, was Surefoot bereits wußte.
»Das wäre in Ordnung.« Smith lehnte sich über den Tisch. »Nun möchte ich noch wissen, wer dieser . . . Washington Wirth war.«
Mike schüttelte den Kopf.
»Offengestanden – das weiß ich selber nicht. Wenn ich in dieser Minute sterben sollte, könnte ich es Ihnen nicht sagen. Ich kam durch meinen letzten Bankrott mit ihm in Verbindung. Er schrieb mir damals einen sehr liebenswürdigen Brief und drückte darin sein Bedauern aus, daß ein so tüchtiger Mann wie ich mit derartigen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Zum Schluß bot er mir seine finanzielle Hilfe an.«
»War der Brief mit der Hand geschrieben?«
»Nein, mit der Maschine. Ich habe das Schreiben noch irgendwo in meinen Akten. Dann traf ich im Kellner-Hotel mit ihm zusammen. Damals hatte er nur ein Zimmer. Ich wußte, daß er eine Perücke trug und daß er in Wirklichkeit ein anderer war, aber ich habe mir niemals die Mühe gemacht, hinter sein Geheimnis zu kommen –«
»Das ist eine ganz dicke Lüge«, sagte Surefoot ruhig. »Sie haben doch zugegeben, daß Sie ihn erpreßten.«
»Nein, das habe ich nicht getan. Ich habe nur einen Bluff versucht. Ich wußte, daß er ein anderer war, und vermutete die Wahrheit.«
»Sind Sie sich auch klar darüber, daß Sie in einer bösen Patsche sitzen, wenn dieser Washington Wirth verhaftet werden sollte? Ich kann als sicher annehmen, daß er Geld von Hervey Lyne unterschlagen hat. Jedenfalls habe ich manche Anhaltspunkte dafür, daß er den alten Finanzmann erschossen hat. Mike, Sie wollen doch nicht in einen Mord verwickelt werden?«
Hennesseys Gesicht war verzerrt, und er konnte kaum noch zusammenhängend sprechen.
»Ich würde Ihnen gern helfen, wenn ich könnte, Mr. Smith. Aber ich weiß doch gar nicht, wer er in Wirklichkeit ist – ich schwöre Ihnen, daß ich es nicht weiß.«
Der Chefinspektor sah ihn scharf an.
»Wissen Sie etwas von Moran?«
»Sie meinen doch nicht den Bankdirektor?« stammelte Mike bestürzt.
»Wissen Sie etwas von der falschen Bankbilanz, die Lyne zufällig an Miss Lane schickte?«
Einen Augenblick glaubte Smith Mike würde ohnmächtig zusammenbrechen.
»Nein – nichts – ich kenne Moran – und ich kenne auch Wirth. Nehmen wir einmal an, daß ich ihn – Washington Wirth – fände – was würde das für mich bedeuten?«
Surefoot Smith erhob sich.
»Das macht für Sie gar nichts aus, ob Sie ihn finden oder ob die Polizei ihn findet«, erwiderte er barsch. »Sie scheinen immer noch nicht zu wissen, Mike, in welche Lage Sie sich gebracht haben. Zwei Leute sind ermordet worden, wahrscheinlich von derselben Person. Tickler wurde umgebracht, weil er zuviel wußte. Es ist vielleicht sicherer für Sie, wenn ich Sie in Schutzhaft nehme.«
Mike lächelte. »Bin ich denn ein Kind?« fragte er. Anscheinend hatte er seine Fassung jetzt wiedergewonnen. »Ich kümmere mich nicht um Drohungen. Machen Sie sich meinetwegen keine Mühe, Surefoot.«
»Ich habe Ihnen noch eine ganze Menge zu sagen«, unterbrach ihn Smith. »Aber warten Sie, bis ich telefoniert habe.«
Mike sah ihn argwöhnisch und etwas furchtsam an.
»Haben Sie keine Angst, ich verhafte Sie nicht.«
In dem großen Gastzimmer nebenan befand sich eine Telefonzelle, und Surefoot rief Scotland Yard an.
»Hier Chefinspektor Smith. Schicken Sie sofort zwei der besten Detektive zu Bellinis Restaurant. Ich bin mit Mike Hennessey, dem Theatermann, dort. Er steht von diesem Augenblick an Tag und Nacht unter Beobachtung. Die Sache ist sehr wichtig, es dürfen keine Fehler gemacht werden. Verstanden?«
Der Befehl wurde pünktlich ausgeführt. Als Smith und Mike eine Viertelstunde später auf die Straße traten und nach Piccadilly Circus gingen, folgten ihnen zwei junge Detektivbeamte, und als Mike in einem Taxi fortfuhr, stiegen die beiden ebenfalls in ein Auto und blieben ihm auf der Spur. –
Mike Hennessey war nicht im Theater, als der Vorhang das letztemal nach dem Stück »Klippen des Schicksals« fiel. Obwohl die Absetzung des Stückes nun bedeutete, daß sich die Schauspieler nach neuer Arbeit umsehen mußten, atmeten sie doch alle erleichtert auf, als sie die Bühne verließen.
Dick war mit der Lektüre der Abendzeitung beschäftigt, als Mary in ihren Ankleideraum trat. Das Blatt brachte einen großen Artikel über die Ermordung des Finanzmannes Lyne.
Dick legte es beiseite, als Mary hereinkam, und wollte die Garderobe verlassen, während sie sich umkleidete.
»Bleib sitzen«, sagte sie. »Ich will noch ein wenig warten, ich fühle mich so müde.«
»Nun, wie ist es? Hast du den Mörder gefunden? Du wolltest doch selbst Detektiv spielen?« fragte er leichthin.
Sie ging nicht auf seinen scherzenden Ton ein.
»Ich glaube, ich weiß, wer es ist.«
»Hast du die Berichte in der Zeitung gelesen?«
»Ja, ich habe jede Zeile studiert.«
»Binny hat übrigens eine eigene Theorie. Ich habe heute mit ihm gesprochen. Er hält Jerry Dornford für den Mörder. Vermutlich deshalb, weil er Jerry nicht leiden kann.«
»Hat Mr. Smith dir alle Anhaltspunkte genannt, die er bisher herausbekommen hat?« fragte sie. Was Binny über den Fall dachte, schien sie nicht zu interessieren.
»Nein. Er ist meistens sehr zugeknöpft, wenn es sich um seinen Beruf handelt.«
»Meinst du, er würde sie mir mitteilen?«
»Wenn er der Ansicht ist, daß du ihm helfen kannst – vielleicht. Er hat versprochen, heute abend ins Theater zu kommen und mir die letzten Neuigkeiten zu berichten. Bei der Gelegenheit könntest du ihn ja einmal fragen.«
Surefoot kam verhältnismäßig spät und war nicht in der besten Laune. Er hatte auch Grund, verstimmt zu sein, denn um halb acht hatte ihn einer der Detektive angerufen und gemeldet, daß sie Mikes Spur verloren hatten.
»Was, er ist Ihnen entkommen?« hatte Smith durch das Telefon gerufen. »Was ist denn eigentlich mit euch los?«
»Es tut mir furchtbar leid, aber er muß bemerkt haben, daß wir ihm folgten. Ich habe mich nur einmal umgedreht, und schon war er fort.«
»Man dreht sich eben nicht um! Suchen Sie ganz London ab und gabeln Sie ihn wieder auf! Kennen Sie seine Adresse? Dann warten Sie vor seiner Wohnung. Der Mann muß unter allen Umständen gefunden werden.«
Im Sheridan-Theater schimpfte Smith noch eine Weile auf diese Grünschnäbel, die sich Detektive nannten.
»Beruhigen Sie sich. Hier ist ein neuer Detektiv für Sie.«
Dick zeigte bei diesen Worten auf Mary. Zu seinem größten Erstaunen wurde Smith nicht ungeduldig.
»Ich möchte fast sagen, daß die junge Dame mehr Verstand in ihrem kleinen Finger hat als die beiden in ihren großen Schädeln«, meinte er und sah sie nachdenklich an.
»Und ich möchte eine Frage an Sie richten, Mr. Smith«, begann sie. »Würden Sie mir alles sagen, was Sie über den Fall wissen? Ich glaube, ich kann Ihnen dann helfen.«
Dick war wieder erstaunt, daß der Chefinspektor die Sache sofort ernst nahm und nicht darüber scherzte.
»Warum sollten Sie mir nicht helfen können?« erwiderte Smith. »Soll er es auch erfahren?« Er zeigte mit dem Kopf auf Dick.
Sie zögerte.
»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben. Sonst können wir ihn auch solange fortschicken.«
Als der Chefinspektor kam, war sie bereits umgezogen gewesen, und sie schlug jetzt vor, in ihre Wohnung zu gehen.
Marys Wohnung lag am Ende eines langen Korridors. Die junge Schauspielerin ging voraus, blieb aber plötzlich bestürzt stehen. Die Tür stand weit offen!
Der Chefinspektor zeigte auf das Schloß, das aufgebrochen worden war und nur noch an einer Schraube hing. Er betrat als erster die Wohnung und wollte das Licht andrehen, hatte aber keinen Erfolg.
»Die Sicherung ist herausgeschraubt – wo ist denn das Schaltbrett?«
Sie zeigte es ihm, und nachdem er einige Zeit daran herumhantiert hatte, ging das Licht wieder an.
Er trat hinaus in den Korridor, der an der Außenwand endete. Dort war ein Notausgang, der zur Feuerleiter führte. Die Tür war nicht verschlossen; eine Eisenleiter führte dicht daran vorbei und verschwand im Dunkeln.
Smith klingelte dem Fahrstuhlführer, aber der konnte keine Auskunft geben. Es war Sonnabend, und die meisten Leute im Haus waren aufs Land hinausgefahren, um das Wochenende dort zu verbringen. Soviel er wußte, waren keine Fremden hereingekommen.
Surefoot ging in die Wohnung zurück. In Marys Schlafzimmer herrschte große Unordnung. Alle Schubladen waren herausgezogen, und der Inhalt lag auf dem Fußboden und dem Bett verstreut. Im Wohnzimmer sah es ähnlich aus. Der kleine Schreibtisch, der dort stand, war aufgebrochen.
Mary schaute ärgerlich auf das Durcheinander, atmete aber erleichtert auf, als sie das Etui mit ihren Schmucksachen unversehrt in einem Schreibtischfach vorfand. Sie hatten einen Wert von über vierhundert Pfund.
Smith hatte seine Untersuchung auch auf die Küche ausgedehnt. Selbst der Abfalleimer und der Kohlenkasten waren durchstöbert worden. Und hier fand er einen wertvollen Anhaltspunkt. Die kleine Küchenuhr war von der Anrichte heruntergefallen und um elf Uhr fünfzehn stehengeblieben.
»Der Einbrecher ist also vor nicht ganz einer Stunde hier gewesen. Und er scheint es sehr eilig gehabt zu haben. Nun sagen Sie mir einmal, Miss Lane, wer kennt Ihre Wohnung? Ich meine, wer ist schon hier gewesen? Ihre Freundinnen wollen wir ausschalten, aber nennen Sie mir die Herren.«
Sie hatte die wenigen Leute schnell aufgezählt.
»So, Mike Hennessey war auch hier? Hat er Sie oft besucht? Ich habe doch alle Räume gesehen?«
»Nein, im Badezimmer waren Sie noch nicht.«
Er öffnete die Tür des kleinen Raumes und drehte das Licht an. Der Einbrecher war auch hier gewesen; das Waschbecken war noch halb mit Wasser gefüllt.
»Hallo, was ist denn das?«
Smith kniff die Augen zusammen.
Etwas rechts von dem Waschbecken sah er auf den weißen Wandkacheln einen roten Flecken, der sich noch feucht anfühlte. Auf dem Fußboden war nichts zu entdecken, aber an der Ecke der weißen Badewanne bemerkte er wieder eine rote Spur.
Hinter der Tür befand sich ein Kleiderhaken, und auch hier fand er rote Flecken.
»Der Einbrecher ist zuerst hier hineingegangen«, sagte Smith langsam. »Er mußte die Hände waschen, und als er den Hahn aufdrehte, berührte er mit dem Ärmel die Wand. Es war Blut an seinen Kleidern. Er zog den Rock aus und legte ihn zuerst über die Badewanne, dann änderte er seine Absicht und hängte ihn an den Türhaken.«
»Blut?« fragte Mary und starrte auf die roten Flecken. »Hat er sich vielleicht verletzt, als er einbrach?«
»Nein, dann hätten wir die Blutspuren schon in der Diele oder draußen auf dem Korridor gesehen. Übrigens ist die Glastür auf dem Korridor nicht aufgebrochen – ich möchte nur wissen, wie er mit dem Blut in Berührung gekommen ist.«
Er dachte eine Weile nach.
»Ich kann es nicht herausfinden«, sagte er dann.
Er ging in die Küche und betrachtete wieder die Uhr. Schon oft hatte er derartige Uhren gesehen, die plötzlich stehengeblieben waren; gewöhnlich war das jedoch von Leuten gemacht worden, um die Polizeibeamten irrezuführen. Aber als er die Uhr in der Hand hielt und sie untersuchte, wurden alle seine Zweifel beseitigt. Sie war nicht stehengeblieben, sie tickte noch; nur die Verbindung der Zeiger war zerstört, und das konnte kaum anders als durch einen Fall geschehen sein.
Mary war ihm gefolgt und beobachtete ihn, während er seine Nachforschungen anstellte.
»Wollen Sie mir nun alles sagen?« fragte sie ihn.
Surefoot Smith sah sie erstaunt an.
»Worüber?«
»Sie wollten mir doch alles mitteilen, was Sie über die Ermordung Mr. Lynes herausgebracht haben.«
Er setzte sich auf die Ecke des Küchentisches und erzählte ihr in kurzen Worten, was er wußte.
Dick war inzwischen auch eingetreten und hörte erstaunt zu. Bis dahin hatte er alle Beamten von Scotland Yard, besonders Smith, für unzugänglich und schweigsam gehalten, und nun sprach dieser Mann rückhaltlos zu Mary, die sich auf einen Stuhl gesetzt und die Hände gefaltet hatte.
»Sind Sie mitgekommen?« fragte Surefoot zum Schluß. Im gleichen Augenblick sah er das verblüffte Gesicht Dick Allenbys und schaute ihn unliebenswürdig an.
»Sie halten es wohl nicht für richtig, daß ich der jungen Dame das alles sage? Aber beruhigen Sie sich. Jede Frau hat ein feines Gefühl, das eigentlich die Detektive besitzen müßten. Es hängt weniger mit Vernunft und Wissenschaft als mit einem sicheren Instinkt zusammen.« Er wandte sich wieder an Mary. »Haben Sie irgendeine Vermutung über diesen Einbruch?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann mir den Zusammenhang noch nicht vollkommen erklären, wenn ich auch weiß, warum meine Wohnung durchsucht wurde.«
Surefoot nickte.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie die Leute auf den Gedanken kamen, sie könnten hier etwas finden?«
Dick unterbrach ihn.
»Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht ganz, worüber Sie sprechen. Was soll denn hier zu finden gewesen sein?«
»Die Bankabrechnung«, erwiderte Mary, ohne aufzusehen.
Smith nickte, und ein breites Grinsen ging über sein Gesicht.
»Ja, deshalb wurde eingebrochen, aber ich weiß noch nicht recht, wie die Leute das wissen konnten«, fuhr Mary fort.
Surefoot lachte.
»Ich bin der schlaue Mann, der es ausposaunt hat«, erklärte er. »Ich habe heute nachmittag Mike Hennessey gegenüber erwähnt, daß Ihnen eine Bankabrechnung geschickt wurde. Ich verschwieg aber, daß ich das Papier in meiner Tasche hatte. Dadurch hätte ich ihm eine Menge Zeit und Mühe ersparen können. Es tut mir wirklich leid.«
Er fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar und rutschte dann vom Tisch herunter.
»Die Blutflecken machen mir zu schaffen, die sehen übel aus.«
Er ging aus dem Zimmer, und die beiden folgten ihm wieder ins Bad.
»Das war sein Ärmel, der an der Wand entlangstreifte. Man kann es deutlich sehen. Der Blutflecken hier kommt von seiner Hand, aber er ist zu sehr verwischt, als daß man noch einen Fingerabdruck davon nehmen könnte. Der Mann, der hier hereinkam, war nicht verletzt, und wahrscheinlich hatte er auch keine Ahnung, daß sein Rock blutig war.«
Surefoot nahm seine Taschenlampe heraus und untersuchte den Korridor. Aber dort konnte er nichts finden.
Erst bei dem Notausgang entdeckte er zwei neue Blutspuren, eine am Eisengeländer, die andere direkt unter dem Türfenster.
»Ich möchte einmal telefonieren«, sagte Smith.
Bald darauf war er mit Scotland Yard verbunden und gab Anordnung, alle Eisenbahnstationen zu überwachen und besonders scharfe Kontrollen in Dover, Harwich, Folkestone und Southampton durchzuführen.
»Ich glaube nicht, daß er versuchen wird, das Land zu verlassen. Es ist überhaupt merkwürdig, wie selten Verbrecher diesen Fluchtweg wählen.«
Der Chefinspektor bot Mary an, einen Beamten herzuschicken, der ihre Wohnungstür bewachen sollte. Sie lehnte es zunächst ab, aber er bestand darauf, und sie wußte, daß es keinen Zweck hatte, sich ihm zu widersetzen.
Auf dem Rückweg ging Smith zum Haus des alten Lyne, um noch einmal mit Binny zu sprechen. Der Butler lag schon längst im Bett, als der Detektiv läutete, und wollte zuerst nicht öffnen. Im Haus waren keine Polizeibeamten zurückgeblieben. Surefoot hatte alle Schriftstücke und Dokumente zum Scotland Yard bringen lassen, damit sie dort durchgesehen werden konnten. Das Schlaf- und das Arbeitszimmer des Ermordeten waren verriegelt worden.
Binny führte ihn in die Küche hinunter und legte einige neue Holzstücke auf das glimmende Feuer.
»Ich wußte zuerst nicht, wer so spät noch klingelte. Die letzten Erlebnisse haben mich nervös gemacht, und ich bekam sofort Herzklopfen«, entschuldigte er sich, als er den Chefinspektor in den kleinen Raum führte.
»Mr. Smith«, fragte er dann ängstlich, »hat mir der alte Lyne in seinem Testament etwas vermacht? Ich habe gehört, daß Sie es gefunden haben, und ich wäre nicht sehr überrascht, wenn er es nicht getan hätte. Er sorgte sich wenig um seine Dienstboten. Mir hat er nicht viel Angenehmes gesagt, im Gegenteil, aber man kann nicht wissen –«
»Ich habe das Schriftstück noch nicht ganz durchgelesen«, entgegnete Smith, »aber ich kann mich nicht besinnen, Ihren Namen gesehen zu haben.«
Binny seufzte.
»Es war der Traum meines Lebens, daß mir jemand mal ein kleines Vermögen vermachen würde«, erklärte er dramatisch. »Ich bin stets ein guter Diener gewesen und habe mich in jeder Weise um ihn gekümmert – ich habe ihm sein Essen gekocht, habe das Bett gemacht, habe alles für ihn getan . . .«
Smith nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und schob sie über den Tisch. Binny seufzte, nahm sich eine und steckte sie an.
»Ich glaube, in einer Weise können Sie mir helfen«, meinte der Detektiv. »Erinnern Sie sich noch an Mr. Morans Besuch?«
Binny nickte.
»Wissen Sie, warum er den alten Lyne besuchte?«
Der Butler zögerte einen Augenblick.
»Genau weiß ich das nicht, aber vermutlich hatte sein Besuch mit der Bankabrechnung zu tun. Mr. Lyne war ein merkwürdiger alter Mann. Er wollte eigentlich nie jemanden empfangen, und wenn es trotzdem geschah, war er unhöflich und grob zu den Leuten.«
»Verhielt er sich gegen Mr. Moran auch so?«
»Ich möchte nicht gern aus der Schule plaudern, Mr. Smith, aber ich glaube, er hat ihn ziemlich angefaucht.«
»Ach, haben Sie an der Tür gelauscht?«
Binny lächelte und schüttelte den Kopf.
»In dem Fall brauchte ich nicht zu lauschen.« Er zeigte auf die Decke. »Das Arbeitszimmer liegt hier drüber. Wenn sich Leute dort in gewöhnlicher Weise unterhalten, kann man hier nichts hören, aber Mr. Lyne hat ziemlich laut gesprochen, ja sogar gebrüllt. Und das war natürlich sehr gut zu verstehen.«
»Kennen Sie Moran?«
Binny nickte.
»Kennen Sie ihn sehr gut?«
»Ja, ich war doch sein Diener.«
»Ach ja, ich besinne mich darauf.«
Der Chefinspektor biß nachdenklich auf seine Unterlippe.
»Hat er mit Ihnen gesprochen, nachdem er aus dem Zimmer des alten Lyne kam?«
»Ich möchte nicht gern jemand in Ungelegenheiten bringen –«, erwiderte Binny zögernd.
»Es ist wirklich schrecklich mit Ihnen, daß Sie nicht anständig antworten können! Sagen Sie doch ja oder nein. Haben Sie ihn nachher gesehen?«
»Ja. Ich ging gerade zur Haustür und nahm einen Brief in Empfang, als Moran die Treppe herunterkam. Mr. Smith, ich will Ihnen alles erzählen. Mr. Moran hat mir etwas Sonderbares gesagt. Er bat mich, darüber zu schweigen, daß er hier im Hause war, und gab mir zwanzig Schilling. So, nun wissen Sie alles, was ich weiß. Ich wunderte mich damals darüber, aber Sie können mir glauben, er war nicht der erste, der mich darum ersucht hat.«
»Das kann ich verstehen.«
Auf dem kleinen Tisch in der Nähe der Wand lag ein Päckchen. Surefoot hatte einen guten Geruchssinn und wußte sofort, daß es Fensterkitt enthielt. Er zeigte darauf.
»Wozu haben Sie das gebraucht?«
Binny sah ihn verwundert an.
»Meinen Sie den Fensterkitt?«
»Haben Sie denn eine Scheibe eingesetzt?«
»Nein, das hat der Glaser getan, aber ich habe heute morgen das Kellerfenster zerbrochen und wollte nicht gern jemand rufen. Deshalb habe ich es selbst repariert.«
»Merkwürdig, daß in diesem Haus immer Fenster zerbrochen werden! Warum haben Sie der Polizei nicht gemeldet, daß Leute versuchten, in das Haus einzubrechen? Ach so, ich weiß schon, Mr. Lyne wollte es nicht haben.«
Als der Chefinspektor wieder ins Freie trat, untersuchte er das Grundstück genauer, als er es jemals bei Tageslicht getan hatte. Er ging zur Rückseite des Hauses und dann die kleine hintere Straße entlang. Dabei entdeckte er, wie leicht es für einen Einbrecher war, in das Gebäude zu kommen. Die hintere Front war nicht wie bei den meisten Nachbarhäusern durch einen Garagenbau geschützt, sondern ohne weiteres für jedermann zugänglich, der über die Mauer stieg oder die Tür zum Hof mit einem Nachschlüssel öffnete.
Surefoot Smith runzelte die Stirn. Der Einbruch mußte in derselben Nacht verübt worden sein, in der Tickler ermordet wurde. Bestand irgendein Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen?
Er ging zurück zum Scotland Yard, um die eingelaufenen Berichte entgegenzunehmen, und fand zu seiner Enttäuschung, daß alle Nachforschungen ergebnislos verlaufen waren. Das Polizeipräsidium in Berlin konnte keine Nachrichten über Moran geben, und es waren auch keinerlei Nachrichten über Dornford eingelaufen.
Smith öffnete den Safe, der in der Ecke seines Büros stand, nahm den Glacéhandschuh mit dem Schlüssel heraus und legte beides auf den Tisch. Der Schlüssel war ihm ein Rätsel. Warum mochte man ihn nur so mühsam und doch so nachlässig mit Silberbronze angepinselt haben?
Surefoot zog einen großen, frischen Bogen Löschpapier aus einer Schublade seines Schreibtisches, um sich in gewohnter Weise Klarheit über den Stand der Untersuchungen zu verschaffen.
Tickler war ermordet worden, ebenso der alte Lyne, beide vermutlich von demselben Täter. Obwohl Smith keinen Anhaltspunkt dafür hatte, verband er die beiden Morde miteinander. Leo Moran war allem Anschein nach geflohen, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Der Chefinspektor konnte ohne weiteres Anklage wegen Betrugs und Unterschlagung gegen ihn erheben. Das Verschwinden des Bankdirektors traf zeitlich zusammen erstens mit dem Tod Lynes, zweitens mit der Entdeckung, daß Lynes Bankkonto schwer geschädigt worden war.
War Moran überhaupt in Berlin? Irgend jemand hatte doch hier in London versucht, die gefälschte Bankabrechnung zurückzubekommen. Der Betreffende hatte sich zu diesem Zweck die Mühe gemacht, in Mary Lanes Wohnung einzubrechen. Wer mochte es nur gewesen sein? Einer wußte jedenfalls, oder er glaubte zu wissen, daß sich diese Bankabrechnung in Marys Wohnung befand – Mike Hennessey.
Das Betragen dieses Mannes am vergangenen Nachmittag war sehr auffällig gewesen. Bestimmt wußte er, wer Washington Wirth in Wirklichkeit war, und dieser Washington Wirth war ein Mörder, wahrscheinlich sogar ein Doppelmörder.
Der Chefinspektor schrieb alle diese Schlußfolgerungen auf, strich etwas aus, wenn er eine Verbesserung fand, notierte in seiner merkwürdigen Stenographie, was er darüber dachte, strich dann alles wieder aus und begann von neuem. Er machte einen kleinen Kreis und schrieb »Mary« hinein; drei weitere Kreise bezeichneten Dick Allenby, Dornford und Moran. An den unteren Rand der Seite malte er einen fünften für Lyne. Wie waren diese Personen nun miteinander verbunden, und welche Beziehungen bestanden zwischen den vier oberen und dem unteren?
Schließlich zeichnete er dazwischen noch einen großen Kreis, der Mike Hennessey darstellen sollte. Mike stand in Verbindung mit Washington Wirth, mit Mary Lane und wahrscheinlich auch mit Moran. Die letzte Schlußfolgerung strich er aus und fing wieder von vorne an.
Nach einer Weile wurde er müde, legte den Bleistift nieder und lehnte sich mit einem Seufzer in seinen Sessel zurück. Er wollte gerade den Schlüssel nehmen, als plötzlich das elektrische Licht ausging.
Smith war nicht überrascht, er hatte das erwartet. Die Birne hatte in den letzten Tagen schon trübe gebrannt und mußte ersetzt werden.
Er erhob sich, um zu klingeln, blieb aber plötzlich wie gebannt stehen. In der Dunkelheit leuchtete der Schlüssel in grün phosphoreszierendem Licht auf. Griff und Bart waren genau zu unterscheiden. Nun verstand Smith. Der Schlüssel war nicht mit Bronze, sondern mit Leuchtfarbe angestrichen.
Surefoot ließ eine neue Birne einschrauben und betrachtete nun den Schlüssel mit großem Interesse. Dann machte er wieder Notizen auf dem schon reichlich vollgeschriebenen Löschblatt. Die Sache klärte sich jetzt ein wenig.
Nach einer Weile klingelte das Telefon. Smith nahm den Hörer ab, ging dann zur Tür und rief den diensttuenden Beamten. »Schicken Sie Mr. Allenby in mein Büro.«
Er sah auf die Uhr, die zwanzig Minuten nach zwölf zeigte, und wunderte sich, warum Dick zu dieser Zeit noch nach Scotland Yard kam. Vielleicht war seine Luftpistole wiedergefunden worden.
»Ich war gespannt, ob ich Sie hier treffen würde«, sagte Dick, als er eintrat und die Tür hinter sich schloß. »Ich hätte telefoniert, aber ich fürchtete, die Zentrale würde mich nicht mit Ihnen verbinden.«
»Was gibt es denn?« fragte Smith neugierig.
Dick lächelte.
»Nichts Besonderes, nur bin ich – nein, Mary ist von Hennesseys Haushälterin angerufen worden.«
»Ist er nicht heimgekommen?«
»Sie erwartete ihn nicht zu Hause. Sie hat vom Waterloo-Bahnhof aus angeläutet, wo sie seit neun Uhr mit Mikes Koffern steht. Er hatte die Absicht, nach Le Havre zu fahren, und sie sollte ihm das Gepäck an den Zug bringen. Bis Mitternacht hat sie gewartet, dann wurde es ihr zu lange, und sie rief verschiedene Bekannte Mikes an, darunter auch Mary. Glücklicherweise war ich noch bei ihr, als der Anruf kam.«
»Sind Sie zu Mikes Wohnung gegangen?«
»Nein, das war nicht notwendig. Er hatte ein möbliertes Zimmer in der Doughty Street, bezahlte die Miete und gab die Wohnung heute abend auf. Allem Anschein nach wollte er in größter Eile abreisen, er hat erst am Nachmittag angefangen zu packen.«
»Nachdem er mit mir gesprochen hat.« Surefoot strich über sein Kinn. »Das ist allerdings merkwürdig. Ich kann wohl verstehen, daß er fort wollte – aber er wäre nicht weiter als bis Southampton gekommen. Ich hatte die Häfen bereits verständigt.«
»Wollten Sie ihn verhaften?« fragte Dick erstaunt.
»Das ist gar nicht notwendig«, erwiderte Surefoot müde. »Man braucht nicht alle Leute gleich zu verhaften, die man nicht aus England hinauslassen will. Ihre Pässe sind eben nicht in Ordnung – entweder steht das Visum auf der falschen Seite, oder die Stempelmarke ist verkehrt aufgeklebt und so weiter. Es gibt die verschiedensten Wege, Leute, die man nicht außer Land lassen will, an der Grenze anzuhalten.«
Es klopfte an der Tür, und ein Inspektor trat ein.
»Die Polizei von Buckinghamshire meldet eben einen Fall, der nach Ihrem Herzen sein wird, Surefoot. Sieht ganz nach Mord aus, wie ihn die amerikanischen Banden verüben.«
Surefoot sprang sofort auf.
»Was, ein amerikanischer Bandenmord? Wissen Sie etwas von den näheren Umständen?«
»Jemand hat den armen Teufel auf eine Autofahrt mitgenommen, ihm aus nächster Nähe eine Kugel durch den Kopf gejagt und ihn dann während der Fahrt auf den Gehsteig geworfen.«
»Wo hat sich das abgespielt?«
»In Colnbrook, auf dieser Seite von Slough. Ein großes Auto kam vorüber. Die Insassen sahen im Licht der Scheinwerfer den Mann auf dem Gehsteig liegen und meldeten es der Polizei. Der Mann konnte kaum eine halbe Stunde tot sein, als die Beamten an Ort und Stelle kamen.«
»Wie sieht er denn aus?«
»Ein ziemlich großer Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, trägt eine grüne Krawatte –«
»Donnerwetter, Mike Hennessey hat heute nachmittag auch eine grüne Krawatte getragen –«