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Als um acht Uhr abends der Vortrag über »Bankwesen und Sparsystem« im Radio angekündigt wurde, schalteten die meisten Teilnehmer ab, um auf die Jubilee-Jazzband zu warten, deren Spiel um neun Uhr von Manchester übertragen werden sollte.
Binny mußte seinem Herrn das Programm vorlesen und kam schließlich auch zu dem Vortrag von Mr. Moran um acht.
»Ach, Moran, ist das der Mensch, der gestern hier war?« fragte der alte Herr.
»Jawohl.«
»Bankwesen!« brummte Lyne. »Nein, das will ich nicht hören.«
»Sehr wohl«, entgegnete der Butler.
Die weißen, runzeligen Hände des Alten tasteten an dem Tisch entlang, bis sie die goldene Uhr fanden. Dann drückte er auf den Knopf.
»Sechs«, sagte er, als die Repetieruhr geschlagen hatte. »Geben Sie mir meinen Salat.«
»Ich habe den Chefinspektor heute getroffen, der neulich hier war, diesen Mr. Smith –«
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mir meinen Salat bringen.«
Hühnersalat mit Mayonnaise war stets die letzte Mahlzeit, die Lyne jeden Tag zu sich nahm. Binny servierte ihm das Essen, aber er konnte ihm nichts recht machen. Wenn er redete, sollte er den Mund halten, und wenn er schwieg, schimpfte der Alte, daß er blöde sei und nichts sage.
Der Butler räumte schließlich das Geschirr ab und stellte eine Tasse vor seinen Herrn. Als er sich entfernen wollte, wurde er jedoch zurückgerufen.
»Wie stehen die Aktien von Cassari-Petroleum?«
Binny hatte die Kurse auf dem Petroleummarkt seit langem nicht mehr verfolgt und konnte deshalb keine Auskunft geben.
»Holen Sie eine Zeitung, Sie alter Esel!«
Binny brachte ein Abendblatt. Morgens, mittags und abends mußte er seinem Herrn die Kurse der Industrieaktien vorlesen, was er immer sehr langweilig fand. Mr. Lyne hatte sein Geld in goldsicheren Papieren angelegt, die kaum ihren Kurs änderten. Cassari-Petroleum war allerdings eine unangenehme Überraschung gewesen. Die Aktien waren Teile des Vermögens, das er als Treuhänder für Mary Lane verwaltete. Er zögerte lange Zeit, bevor er sie verkaufte und sie gegen sichere Papiere eintauschte. Zwei Jahre lang hatte er sie in Besitz gehabt, und zwei Jahre lang hatte er sich dauernd geängstigt. Die Preise stiegen und fielen wie die Flammen eines Papierfeuers; höchstens eine Woche hielten sie sich.
Binny las die Notierung vor, und Mr. Lyne quittierte mit einem Brummen.
»Wenn sie in die Höhe gegangen wären, hätte ich die Bank verklagt. Dieser niederträchtige Moran hat mir den Rat gegeben, sie zu verkaufen.«
»Sind sie denn in die Höhe gegangen?« fragte Binny interessiert.
»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, knurrte der Alte unfreundlich.
Um sieben Uhr kam Jerry Dornford. Dauernd hatte er sich unterwegs wiederholt, welche Entschuldigungsgründe er vorbringen wollte. Er hatte das Gefühl, daß er als der letzte Schuldner des alten Finanzmannes von diesem behandelt wurde wie die Maus von der Katze. Sicher freute sich der Mann an seiner Verlegenheit und wollte sich erst noch an seinen Qualen weiden, bevor er ihn erledigte. In dieser Annahme hatte Jerry bis zu einem gewissen Grad recht.
Hervey empfing ihn mit einem Grinsen, das eigentlich ein Lächeln sein sollte. »Nehmen Sie Platz, Mr. Dornford«, sagte er mit seiner hohen Stimme. »Binny, gehen Sie hinaus.«
»Binny ist nicht hier, Mr. Lyne.«
»Dann lauscht er draußen – immer horcht er am Schlüsselloch. Sehen Sie doch einmal nach.«
Dornford öffnete die Tür, konnte aber nichts von dem Butler sehen.
»Sie kommen also wegen des Geldes«, begann der Alte dann. »Dreitausendsiebenhundert Pfund, wenn ich nicht irre, wollten Sie mir doch heute abend zahlen, nicht wahr?«
»Ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen heute abend die Summe zu geben, und es wird mir auch nicht so bald möglich sein«, erwiderte Jerry. »Ich kann die Schuld auf keinen Fall schnell begleichen, aber ich habe alles vorbereitet, um Ihnen vier- bis fünfhundert Pfund abzahlen zu können.«
»Die leihen Sie wohl von Stelbey, was?«
Jerry verwünschte sich selbst wegen dieser Dummheit. Er wußte doch, daß die Geldverleiher untereinander eine Liste all der Leute auswechselten, die sie um ein Darlehen angingen.
»Nun, ich kann Ihnen schon im voraus sagen, daß Sie das Geld nicht bekommen. Aber Sie müssen sich Geld beschaffen, sonst übergebe ich die Sache morgen meinem Anwalt.«
Diese Drohung hatte Jerry erwartet.
»Wenn ich Ihnen Ende der Woche zweitausend Pfund bar bezahlen könnte, würden Sie mir dann genügend Zeit geben, die Restsumme zu besorgen?«
Jerry war selbst erstaunt, daß seine Stimme heiser klang. Er hatte doch schon viele Krisen durchlebt und sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Aber diesmal war er aufgeregt und nervös.
»Wenn Sie zweitausend beibringen, können Sie auch dreitausendsiebenhundert beschaffen. Bis Ende der Woche wollen Sie Zeit haben? Ich gebe Ihnen keinen Tag. Und außerdem, woher wollen Sie denn die zweitausend nehmen?«
Jerry räusperte sich.
»Ein Freund von mir –«
»Das ist doch eine Lüge«, erwiderte Lyne zynisch. »Sie haben keine Freunde. Die Leute, die früher mit Ihnen verkehrten, wollen nichts mehr von Ihnen wissen. Ich werde Ihnen sagen, was ich mit Ihnen mache.« Der Alte lehnte sich über den Tisch und stützte die Fäuste auf die polierte Mahagoniplatte. Er genoß diesen Augenblick des Triumphes. »Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen abend um sechs. Dann zahlen Sie mir entweder die ganze Summe, oder ich treibe Sie zum Bankrott.«
Wenn er nur einigermaßen hätte sehen können, würde ihn der haßerfüllte Blick Jerrys erschreckt haben. Aber er sah nichts und fühlte nur, daß seine Worte Eindruck gemacht hatten.
»Verstehen Sie, was ich sage?«
»Morgen bringen Sie mir das Geld, dann bekommen Sie den Schuldschein. Aber pünktlich um sechs, sonst übergebe ich die Sache dem Gericht und meinem Anwalt.«
»Aber Mr. Lyne, zweitausend Pfund sind doch auch eine schöne Summe.«
»Bis morgen abend die ganze Summe. Ich habe weiter nichts zu sagen.«
Jerry stand auf. Er zitterte vor Wut.
»Aber ich habe Ihnen noch etwas zu sagen, Sie verdammter alter Wucherer! Sie Bluthund, Sie wollen mich zum Bankrott treiben?«
Hervey Lyne hatte sich erhoben und zeigte mit seiner weißen Hand auf die Tür.
»Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« Auch der Alte konnte vor Aufregung kaum noch sprechen. »Bluthund hat er gesagt einen verdammten alten Wucherer hat er mich genannt – Binny!«
Der Butler kam die Treppe von der Küche herauf.
»Werfen Sie ihn hinaus, werfen Sie den Kerl die Treppe hinunter!« zeterte der Alte.
Binny zuckte mit den Achseln, als er vor dem Mann stand, der einen Kopf größer war als er selbst.
»Es ist besser, Sie gehen jetzt«, wandte er sich dann leise an ihn. »Und hören Sie nicht auf das, was ich sage. – Wollen Sie wohl machen, daß Sie sofort aus dem Haus kommen?« brüllte er und machte geräuschvoll die Haustür auf. »So!« Er schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und sah Mr. Dornford entschuldigend an.
Als er wieder nach oben kam, hatte sich der Alte erschöpft in die Kissen zurückgelegt.
»Haben Sie ihn auch ordentlich verprügelt?« fragte er schwach.
»Und ob ich ihn geschlagen habe! Ich habe mir beinahe das Handgelenk gebrochen.«
»Darauf kommt es gar nicht an. Haben Sie ihm das Handgelenk gebrochen?«
»Der muß mindestens zwei Ärzte rufen, daß sie ihn wieder kurieren«, erklärte Binny mit Überzeugung.
»Ich glaube überhaupt nicht, daß Sie ihn angerührt haben, Sie armseliger Wurm«, erwiderte Lyne. Sein Mund zuckte verächtlich.
»Haben Sie es denn nicht gehört?« fragte Binny vorwurfsvoll.
»Ja, Sie haben die Hände zusammengeschlagen, Sie alter Lügner! Wenn ich auch blind bin, kann ich doch noch sehr gut hören. Haben Sie vielleicht vorige Nacht den Einbrecher auch geprügelt – oder wann war es? Nein, Sie haben ihn nicht einmal gehört!«
Binny sah ihn hilflos an. Vor zwei Nächten hatte jemand eine Scheibe an der Rückseite des Hauses eingedrückt und ein Fenster geöffnet. Ob der Einbrecher in die Küche gekommen war, konnte man nicht sagen. Lyne, der nur einen leichten Schlaf hatte, hörte die Scherben auf den Boden fallen, ging von seinem Schlafzimmer zur Treppe und rief Binny, der im untersten Stockwerk neben der Küche schlief.
»Haben Sie den etwa verprügelt? Haben Sie den überhaupt gehört?«
»Ich habe ja gleich geraten, die Polizei zu rufen«, erwiderte Binny. »In solchen Fällen ist es immer das beste, wenn man den gesetzmäßigen Weg geht.«
»Machen Sie, daß Sie verschwinden«, brüllte der Alte noch wütender. »Jetzt redet er von Gesetz und Polizei! Glauben Sie denn, ich will eine Menge von tölpelhaften Polizisten hier in meinem Haus haben? Scheren Sie sich fort – ich werde ganz krank, wenn Sie hier im Zimmer sind!«
Binny machte schnell, daß er fortkam.
*
Lyne saß erregt in seinem Stuhl und sprach mit sich selbst. Er faltete die Hände auf dem Tisch, dann trommelte er nervös mit den Fingern auf der Platte. Als es nach einiger Zeit acht schlug, drehte er den Lautsprecher an.
»Bevor ich über das Bankwesen in England spreche, möchte ich erst noch ein paar Worte über die historische Entwicklung der Banken in früheren Zeiten sagen . . .«
Hervey Lyne richtete sich auf und lauschte gespannt. Sein Gehör war, wie er gesagt hatte, noch außerordentlich gut.