Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

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5

Mary Lane war davon überzeugt, daß sie eines Tages im West End als große Schauspielerin gefeiert werden würde, wenn sie sich auch den Wunschtraum, über Nacht berühmt zu werden, aus dem Kopf geschlagen hatte.

Am zweiten Morgen nach der Gesellschaft bei Washington Wirth hatte sie eine kurze Unterredung mit Mr. Hervey Lyne über die Rente, die er ihr zahlte. Es war keine angenehme Unterhaltung.

»Wenn du zur Bühne gehst, mußt du eben damit rechnen, daß du nur ein Hungerleben führen kannst. Dein Vater hat mich zum Vollstrecker seines Testaments gemacht, und ich besitze unbeschränkte Vollmacht. Und ich sage dir nochmals, bis zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag bekommst du nicht mehr als hundertfünfzig Pfund jährlichen Zuschuß. Es hat keinen Zweck, noch weiter darüber zu reden.«

Mary Lane beherrschte sich in bewunderungswürdiger Weise.

»Ein Vermögen von zwanzigtausend Pfund bringt mehr als hundertfünfzig jährlich ein«, sagte sie.

»Du bekommst nicht mehr Geld in die Hand, ehe du fünfundzwanzig bist. Und dann werde ich glücklich sein, wenn ich nicht mehr dein Vormund sein muß. Übrigens noch eins: Du bist mit meinem Neffen Richard Allenby befreundet?«

Sie warf den Kopf in den Nacken.

»Ja.«

Er drohte ihr mit dem Finger.

»Ich möchte dich warnen. Von mir bekommt er nichts, ganz gleich, ob ich lebe oder tot bin.«

Der Butler Binny begleitete sie bis zur Tür und war sehr liebenswürdig zu ihr.

»Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen«, sagte er beruhigend. »Heute hat er seinen bösen Tag.«

Sie erwiderte nichts darauf. Binny seufzte schwer und schüttelte traurig den Kopf, als er die Haustür schloß.

Der alte Hervey Lyne war ein exzentrischer Mensch, mit dem nicht leicht auszukommen war.

Die vornehmen Herren, die während der Regierungszeit der Königin Viktoria Tausende auf ihre Rennpferde setzten und Einladungen und Sektgelage gaben, waren manchmal in Schwierigkeiten, bares Geld aufzutreiben. Dann kamen sie immer zu Hervey, weil sie sofort wußten, ob er ihnen Geld leihen würde oder nicht.

Das war das Angenehme an ihm, daß er sofort ja oder nein sagte. Und was er sagte, meinte er auch, ohne lange zu handeln oder zu feilschen. Er gab das Geldgeschäft auf, als die Testamentsvollstrecker des Herzogs von Crewdon einen großen Prozeß gegen ihn anstrengten und verloren. Hervey hatte bestimmt damit gerechnet, daß die Gegner gewinnen würden.

Er betrachtete alle Leute, die zu ihm kamen, als Narren und hatte nicht die geringste Achtung vor ihnen. Seiner Meinung nach war es töricht, Geld zu borgen, hohe Zinsen zu zahlen und das Geld zurückzugeben.

Auch Dick Allenby hielt er für einen Narren, einen unverschämten Burschen, der sich für einen Erfinder hielt und nicht klug genug war, beizeiten Geld zu verdienen. Ebenso war Mary Lane in seinen Augen eine dumme Person, eine alberne Schauspielerin, die sich in Pose setzte, ihr Gesicht schminkte und für eine viel zu kleine Gage auf der Bühne arbeitete. Allenby war sein Neffe, der bei etwas vernünftigem Benehmen leicht von ihm eine Million hätte erben können. Mary Lane war die Tochter seines früheren Partners und hätte, wenn sie einen anderen Beruf gehabt hätte, dieselbe Summe bekommen können.

Seine Dienstboten hielt er natürlich auch für besondere Dummköpfe.

Binny kümmerte sich aber nicht um das, was sein Herr von ihm dachte. Er war freundlich, hatte große treue Augen und einen vollständig kahlen Kopf. Er war ein wenig faul, und seine Frau hatte morgens immer viel Mühe, ihn aus dem Bett zu bringen.

Er versah alle möglichen Dienste bei Mr. Lyne: er war Kammerdiener, Privatsekretär, Bote, Butler und Krankenpfleger. Von Rechts wegen hätte er ein hohes Gehalt haben müssen.

Der alte Hervey saß in seinem Rollstuhl zwischen den Kissen und sah düster auf die Setzeier und die Toastschnitten, die vor ihm auf einem Tablett standen.

»Hat dieser verrückte Detektiv wieder nach mir gefragt?«

»Nein«, entgegnete Binny. »Sie meinen doch Mr. Smith?«

»Ich meine den blöden Kerl, der sich nach diesem Verbrecher Tickler erkundigte«, rief der Alte heftig und schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, daß die Tassen tanzten.

»Der im Auto gefunden wurde?«

»Fragen Sie nicht so dumm, Sie wissen es doch ganz genau. Natürlich hat ihn irgendeiner von dem Diebsgesindel getötet, mit dem er befreundet war. Die Leute nehmen ja gewöhnlich ein solches Ende.«

Hervey Lyne verfiel in Schweigen. Er schaute düster vor sich hin und dachte darüber nach, ob Binny ihn auch bestahl. Seit einiger Zeit war sein Verdacht gewachsen, da die Rechnungen bei der Kolonialwarenhandlung immer größer wurden. Binny hatte zwar erklärt, daß die Lebensmittelpreise in die Höhe gegangen seien, aber das war nach Lynes Meinung gelogen. Der Kerl gehörte zu diesen verdammt ruhigen Leuten, die vor ihrem Herrn kriechen, sich aber kein Gewissen daraus machen, ihn zu bestehlen. Es war höchste Zeit, daß er Binny entließ und einen anderen Butler engagierte.

»Wann kommt dieser Bursche?« fragte er barsch.

Binny schenkte am Nebentisch seinem Herrn gerade eine Tasse Tee ein. Er wandte den Kopf und sah ihn ungewiß an.

»Wen meinen Sie? Die junge Dame ist um neun gekommen.«

Hervey verzog verächtlich den Mund.

»Sie Dummkopf, ich meine den Bankdirektor.«

»Mr. Moran – um zehn.«

»Bringen Sie mir den Brief – bringen Sie ihn sofort!«

Binny stellte die Teetasse vor Mr. Lyne, blätterte in einem kleinen Stoß von Papieren, die auf dem offenen Sekretär lagen, und fand schließlich, was er suchte.

»Lesen Sie vor – lesen Sie genau«, drängte der alte Mann.

Sein Augenlicht war sehr schlecht geworden. Er konnte wohl noch hell und dunkel unterscheiden, an dem lichten Schein erkennen, wo das Fenster lag, ohne Hilfe die siebzehn Treppenstufen hinaufsteigen, die zu seinem Schlafzimmer führten, und seinen Namen unterschreiben. Aber das war auch alles.

Binny las mit monotoner Stimme:

»Sehr geehrter Mr. Lyne,

es wird mir ein Vergnügen sein, morgen vormittag um zehn Uhr bei Ihnen vorzusprechen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Leo Moran«              

Hervey lächelte wieder.

»So, es wird ihm ein Vergnügen sein?« wiederholte er mit schriller Stimme. »Meint der Kerl denn, ich bestelle ihn zum Vergnügen her?«

Es klingelte an der Haustür. Binny ging nach unten und kam kurz darauf mit dem Besucher zurück.

»Mr. Moran«, meldete er.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Moran.« Der alte Mann machte eine ungewisse Handbewegung. »Binny, bringen Sie einen Stuhl, und dann machen Sie, daß Sie hinauskommen – verstanden? Und horchen Sie nicht an der Tür, verdammt noch mal!«

Der Besucher lächelte, als sich die Tür hinter Binny schloß. Die Worte schienen wenig Eindruck auf den Butler gemacht zu haben.

»Mr. Moran, Sie sind mein Bankier.«

»Ja, Mr. Lyne. Ich habe schon vor einem Jahr angefragt, ob ich einmal mit Ihnen sprechen könnte – vielleicht erinnern Sie sich daran?«

»Natürlich. Aber ich mag keine Bankdirektoren sehen. Die sollen dafür sorgen, daß mein Geld Zinsen bringt. Das ist ihre Pflicht, dafür werden sie bezahlt. Haben Sie die Abrechnung?«

Der andere zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm zwei große, zusammengefaltete Bogen heraus.

»Hier«, begann er. Sein Stuhl krachte, als er sich erhob.

»Ich will die Abrechnung nicht sehen. Sagen Sie mir die Endsumme.«

»Zweihundertundzwölftausendsiebenhundertsechzig Pfund und einige Shilling.«

»Hm!« erwiderte Mr. Lyne zufrieden. »Und wie steht es mit den Wertpapieren?«

»Nach dem jetzigen Kursstand sind sie sechshundertzweiunddreißigtausend Pfund wert.«

»Ich will Ihnen sagen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte«, sagte Lyne, fügte aber sofort argwöhnisch hinzu: »Öffnen Sie doch einmal die Tür und sehen Sie zu, ob dieser verdammte Kerl horcht.«

Der Besucher erhob sich, machte die Tür auf und schloß sie wieder.

»Es ist niemand draußen.«

Er lächelte, aber Mr. Lyne konnte das nicht beobachten.

»So, es ist niemand draußen? Also, Moran, dann hören Sie einmal zu. Ich halte mich für einen sehr fähigen Mann. Damit will ich mich nicht rühmen; das ist eine Tatsache, die Sie selbst feststellen können. Ich traue niemandem, nicht einmal einem Bankdirektor. Meine Sehkraft ist nicht mehr besonders gut, und es fällt mir schwer, Rechnungen zu kontrollieren. Aber ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, das ich dauernd trainiere. Ich kann Zahlen unheimlich lange behalten, und ich hätte Ihnen bis auf einige Shilling genau die Summe nennen können, die Sie eben angaben.« Der alte Mann machte eine Pause und sah durch seine dicken Gläser zu dem Besucher hinüber, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß.

»Hoffentlich spekulieren und spielen Sie nicht?«

»Nein, Mr. Lyne.«

Mr. Moran atmete erleichtert auf, als er sich wieder von dem Alten verabschieden konnte.

Binny wurde durch ein Klingelzeichen seines Herrn in seinem Zimmer aufgestört. Als er nach oben kam, war der Besucher schon gegangen.

»Sagen Sie, Binny, wie sah der Mann aus? Hatte er ein ehrliches Gesicht?«

Der Butler dachte lange nach.

»Er hatte ein ganz gewöhnliches Gesicht«, meinte er dann.

Lyne war ärgerlich.

»Bringen Sie das Frühstücksgeschirr weg. Wer kommt denn heute sonst noch?«

Binny überlegte lange.

»Ein gewisser Dornford.«

»Ein Herr namens Dornford«, verbesserte ihn der Alte. »Er schuldet mir Geld, deshalb ist er ein Herr. Wann kommt er?«

»Ungefähr um acht.«

»Sie bleiben im Zimmer, wenn er kommt. Haben Sie mich verstanden? Er ist ein gemeiner Kerl – ein gefährlicher Mensch. Es ist gut, wenn Sie da sind.«

»Jawohl.«


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