Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20

Mary Lane wußte nicht, daß ihr jemand folgte, als sie an ihrem Ziel ankam. Sie stand in einem kleinen gepflasterten Hof, in dem sich der wenig angenehme Geruch von lange nicht geleerten Mülleimern bemerkbar machte. Vorsichtig ging sie weiter und benutzte eine Taschenlampe, um den Weg zu finden. Am Ende des Hofes befand sich eine kleine Tür, daneben ein Fenster.

Eine Weile stand sie auf der Schwelle und lauschte. Ihr Herz schlug schneller, und sie fühlte sich plötzlich allein und verlassen in der Stille der Nacht. Es schien ihr vermessen, daß sie als Dilettantin der Polizei ins Handwerk pfuschen wollte.

Unaufhörlich fiel der Regen, und das monotone Rauschen machte sie niedergedrückt und mutlos.

Aber schließlich raffte sie sich auf und nahm aus ihrer Handtasche das Duplikat des Schlüssels, das Surefoot für sie hatte anfertigen lassen. Sie fand das Schlüsselloch und steckte den Schlüssel hinein. Nun sollte sich zeigen, ob ihre Theorie stimmte oder nicht. Als sie versuchte, ihn umzudrehen, schien er nicht zu passen, und sie war beinahe froh darüber. Aber nachdem sie ihn noch ein wenig tiefer hineingeschoben hatte, drehte er sich, und das Schloß schnappte mit einem lauten Krach auf.

Marys Knie zitterten, als ob sie die Last des Körpers nicht mehr tragen könnten, und sie atmete schwer. Hier war das Experiment eigentlich zu Ende, und sie hätte zurückgehen sollen. Aber plötzlich wurde sie von Abenteuerlust gepackt und öffnete die Tür, die lautlos nachgab. Furchtsam schaute sie in das dunkle Innere. Sollte sie hineingehen? Ihre Vernunft sagte nein. Aber Mary hielt die warnende Stimme für weibliche Schwäche, für Angst vor der Finsternis und vor Gespenstern, die nicht existierten.

Sie machte die Tür weiter auf, trat einen Schritt vor, leuchtete mit der Taschenlampe umher und sah nichts.

Dann hörte sie plötzlich in der Dunkelheit einen Laut, der ihr Blut in den Adern erstarren ließ – es war das Wimmern einer Frau.

Eisiger Schrecken packte sie, und sie glaubte, sie würde ohnmächtig umsinken. Der Laut kam aus der Tiefe, aus einem Raum unter ihren Füßen, und doch hatte sie das Gefühl, als ob sich auch vor ihr etwas regte.

Die Taschenlampe in ihrer Hand zitterte so sehr, daß sie nicht genau erkennen konnte, was vor ihr war. Sie stützte sich mit einem Arm an der Wand, bemerkte eine Schranktür, schlich dorthin und lauschte. Nun hörte sie es deutlich: Das Geräusch kam tatsächlich aus der Tiefe, und die Tür bildete offenbar den Eingang zu einem Keller. Sie versuchte sie zu öffnen, fand sie aber verschlossen.

Plötzlich wurde sie von einer unsagbaren Furcht befallen, wie sie sie noch nie zuvor kennengelernt hatte. Sie fühlte fast greifbar, daß ihr Gefahr drohte, und zwar aus nächster Nähe.

Sie wandte sich um und blieb starr vor Schrecken stehen. Die Tür schloß sich langsam!

Mary sprang vorwärts und packte die Kante, aber jemand drückte die Tür zu, und dieser Unheimliche stand mit ihr in demselben Raum, ja er hatte schon dort gestanden, als sie eingetreten war!

Als sie die Lippen öffnen wollte, um einen Schrei auszustoßen, legte sich eine große Hand auf ihren Mund. Eine andere Hand packte sie an der Schulter und riß sie zurück. Im nächsten Augenblick fiel die Tür krachend ins Schloß.

»Oh, Miss Lane, wie konnten Sie das nur tun?«

An der hohen Stimme erkannte sie sofort, daß sie Mr. Washington Wirth gegenüberstand. Mit Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, sich loszureißen, aber in den Armen des Mannes war sie machtlos wie ein Kind.

»Darf ich Ihnen vielleicht den Rat geben, meine Liebe, sich ruhig zu verhalten? Sonst wäre ich leider gezwungen, Ihnen die Kehle durchzuschneiden.«

Die Stimme klang höflich und freundlich, und doch verbarg sich dahinter eine schreckliche Drohung. Mary wußte, daß dieser Mensch sie ohne die geringsten Gewissensbisse umbringen würde. Aber wahrscheinlich würde er diese Drohung nicht gleich wahrmachen. Ihre Rettung hing jetzt allein von ihrem Witz und Verstand ab.

Stöhnend sank sie in seinen Armen zusammen. Darauf war er so wenig vorbereitet, daß er sie fast hätte fallen lassen. Er verlor das Gleichgewicht und legte sie mit einem ärgerlichen Ausruf auf den Steinboden nieder. Nach einer kleinen Weile hörte sie das Klappern von Schlüsseln. Er schloß die Schranktür auf.

Geräuschlos erhob sich Mary, tastete sich nach der Tür, drückte die Klinke lautlos nieder und riß sie im nächsten Augenblick auf. Wie von Furien gehetzt rannte sie über den Hof. Er kam zu spät, um sie anhalten zu können, und sie befand sich bereits auf der einsamen Nebenstraße, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte.

Ein paar Minuten später erreichte sie eine Hauptstraße, und als sie zwei Polizisten vor sich sah, wollte sie auf sie zustürzen und ihnen ihr Abenteuer erzählen. Aber sie zögerte. Die beiden würden sie wahrscheinlich für verrückt halten.

»Hallo, Miss Lane! Sie haben mich furchtbar erschreckt!«

Es war der Detektiv, der ihr den ganzen Abend gefolgt war und sie schließlich aus den Augen verloren hatte. Er verbarg seine Erleichterung durchaus nicht.

»Um Himmels willen, wo waren Sie denn? Ich bin Stenford von Scotland Yard. Mr. Smith hat mir gesagt, Sie wüßten, daß Sie beobachtet werden.«

Sie hätte ihm vor Dankbarkeit um den Hals fallen können. Atemlos erzählte sie ihm ihre Geschichte, während er ihr ungläubig zuhörte.

»Haben Sie den Schlüssel?«

Sie schüttelte den Kopf, Sie hatte ihn in der Tür steckenlassen.

»Ich bringe Sie jetzt nach Hause, Miss Lane. Nachher berichte ich Mr. Smith.«

Stenford war ein noch junger, diensteifriger Detektiv, und kaum hatte er sich vor der Wohnungstür von Mary verabschiedet, als er auch schon zurückeilte, um auf eigene Faust vorzugehen, bevor er sich bei seinem Vorgesetzten meldete.

Mary kochte sich eine Tasse Tee, um ihre Nerven zu beruhigen. Die Räume erschienen ihr schrecklich einsam und verlassen, und sie hörte merkwürdige Geräusche. Sie wußte, daß sie nicht würde schlafen können, und wollte gerade den Hörer abnehmen, als das Telefon scharf klingelte. Sie zuckte zusammen.

Surefoot Smith rief sie an, und seine Stimme klang aufgeregt und besorgt.

»Sind Sie es, Miss Lane? Hören Sie zu und tun Sie schnell, was ich Ihnen sage. Verriegeln Sie sofort Ihre Wohnungstür und öffnen Sie auf keinen Fall, bevor ich komme. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.«

»Aber –«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage!«

Sie hörte, wie er aufhängte. Ein entsetzlicher Schrecken packte sie, denn der Chefinspektor hätte nicht so aufgeregt gesprochen, wenn die Lage nicht gefährlich gewesen wäre.

Sie trat in den Flur, im gleichen Augenblick ging das Licht aus. Rasch folgte sie einer unbewußten Eingebung, sprang in das Zimmer zurück, das sie eben verlassen hatte, schlug die Tür krachend zu und drehte den Schlüssel um.

In der nächsten Sekunde warf sich jemand von draußen mit vollem Gewicht dagegen. Sie hatte keine Waffe, wußte nur, daß eine Schere auf dem Tisch lag.

Wieder donnerte der Eindringling gegen die Tür, die Füllung krachte bedenklich.

»Ich habe einen Revolver und schieße, wenn Sie nicht gehen!« rief sie.

Darauf folgte Schweigen. Hastig sprang sie zum Fenster und riß es auf. Jetzt mußte sie eine gute Schauspielerin sein, sonst kostete es ihr Leben.

»Mr. Smith, sind Sie das? Klettern Sie die Feuerleiter herauf!« schrie sie so laut sie konnte.

Wieder krachte die Türfüllung. Da kam Mary ein Einfall. Sie nahm den Hörer und wählte die Nummer der Polizeistation:

»Ein gewisser Moran versucht, in mein Zimmer einzubrechen – Leo Moran, bitte erinnern Sie sich an den Namen, falls mir etwas geschehen sollte, hier spricht Mary Lane . . .«

Sie ließ den Hörer fallen und schlich zur Tür.

Leise ging jemand den Korridor entlang; das Geräusch wurde schwächer, bis sie nichts mehr hörte.

Mary Lane sank zu Boden, und diesmal war sie wirklich ohnmächtig geworden.

Erst das heftige Klopfen und die erregte Stimme Dick Allenbys brachten sie wieder zu sich. Schwerfällig erhob sie sich, drehte den Schlüssel um und sah Dick und den Chefinspektor eintreten. Aber sie hatte kaum ein paar Worte gesprochen, als sie wieder bewußtlos wurde.

»Es ist wohl besser, Sie rufen eine Krankenschwester«, sagte Surefoot. »Ich fürchtete schon, ich würde sie nicht mehr lebend antreffen!«

Dick rieb Marys Gesicht mit einem nassen Tuch ab. Er war so besorgt um sie, daß er sich im Augenblick nicht einmal dafür interessierte, wie der Chefinspektor von der großen Gefahr Kenntnis erhalten hatte. Surefoot hatte ihn in seinem Klub anrufen lassen, und beide waren zu gleicher Zeit vor dem Haus angekommen.

»Ich erhielt eine telefonische Meldung von dem Beamten, der sie beobachtete«, berichtete Smith. »Er erzählte mir die Geschichte, die sie ihm mitgeteilt hatte, und ich beauftragte ihn, sofort zu ihrer Wohnung zurückzukehren und dort zu bleiben, bis ich käme. Eine halbe Stunde später ruft mich der Kerl an und sagt mir, daß er den Hof und die Nebenstraße durchsucht und niemand gefunden habe! Können Sie sich so etwas vorstellen?«

Mary hatte die Augen wieder geöffnet, und ein paar Minuten später richtete sie sich auf. Sie sah bleich und angegriffen aus, aber sie war jetzt ruhig genug, um erzählen zu können.

Die ganze Nacht hindurch waren Beamte von Scotland Yard unterwegs, um London und die Vorstädte nach einem bestimmten Mann zu durchsuchen. »Möglich, daß er von einer Frau begleitet wird«, stand in der offiziellen Benachrichtigung. Dann folgte eine genaue Beschreibung des Paares.

Auf den Rat des Chefinspektors hin zog Mary in ein ruhiges Hotel in der Nähe des Haymarket. Surefoot nahm an, daß ihr jetzt nichts mehr passieren würde, nachdem das Geheimnis von Washington Wirth bekannt war. Er hätte sie vielleicht töten können, um zu verhindern, daß sie sein Geheimnis preisgab, aber nachdem sie nun mit andern darüber gesprochen hatte, war sie wohl nicht mehr bedroht.

»Ich hoffe es auch«, sagte sie kleinlaut. »Als Detektiv habe ich nichts geleistet.«

Surefoot räusperte sich.

»Ich kann schlecht Komplimente machen. Im übrigen haben Sie ja schließlich nun den Täter gefunden und entdeckt, wie die Bankfälschungen zustande kamen.«

An dem Abend, an dem Mary ihr Abenteuer erlebte, hatte Surefoot seinem Freund in Chikago telegrafiert und ihn um alle Einzelheiten über den amerikanischen Gangster Ryan gebeten, der augenblicklich in England arbeitete. Nun ersuchte er das New Yorker Polizeipräsidium noch um telegrafische Übermittlung einer Fotografie.

Als der Chefinspektor das Bild in Händen hatte, ging er zu Morans Bank. Es wurden alle Bücher durchgesehen, aber man konnte keine weiteren Unterschlagungen feststellen.

»Vielleicht hilft Ihnen eine kleine Mitteilung, die ich Ihnen machen kann«, sagte der Generaldirektor. »Moran hat seinen Dienst bei der Bank einige Jahre unterbrochen. Während dieser Zeit war er in Amerika. Wir nehmen an, daß er damals an der Börse spekuliert hat – er selbst hat darüber nie genaue Angaben gemacht.«

»Merkwürdig«, erwiderte Surefoot, erklärte aber nicht weiter, was er mit diesen Worten sagen wollte.

»Er hatte auch großes Interesse an Cassari-Petroleum-Aktien, die eine so sensationelle Hausse erlebten. Das habe ich allerdings erst vor ein paar Tagen erfahren.«

»Ich wußte es schon ziemlich lange«, entgegnete der Chefinspektor grimmig, »und ich kann Ihnen sogar erzählen, daß er nahezu eine Million daran verdient hat.«

Der Generaldirektor runzelte die Stirn.

»Dann hatte er es doch gar nicht nötig, sich irgendwelche Verfehlungen zuschulden kommen zu lassen?«

»Nein, nötig hatte er das nicht«, erwiderte Surefoot geheimnisvoll. –

Dick Allenby war in diesen Tagen sehr beschäftigt, denn als Haupterbe seines Onkels hatte er viel zu erledigen. Der verstorbene Mr. Lyne hatte auch Geschäftsinteressen in Frankreich gehabt, und Dick fuhr infolgedessen eines Nachmittags mit dem Schnellzug nach Paris.

Am Tage vorher war zwischen Ashford und Dover ein Zug entgleist, und die Strecke konnte daher nur eingleisig befahren werden. Die Expreßzüge hatten nur geringe Verspätung, aber es war notwendig, daß sie auf einer kleinen Station hielten, an der sie sonst vorüberrasten.

Der Expreßzug nach dem Festland fuhr langsam in die Station ein und hielt. Ein anderer, der aus der entgegengesetzten Richtung kam, wartete. Als sich der Expreß wieder in Bewegung setzte, wandte sich Dick zufällig um und betrachtete die Passagiere des anderen Zuges.

In einem Abteil des letzten Wagens saß ein Mann in der Ecke, der eine Zeitung las. Als der Zug vorüberfuhr, senkte er das Blatt, und Dick erkannte – Leo Moran!


 << zurück weiter >>