Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Elftes Kapitel

Heinrich Weber hatte den Advokaten bezahlt; hatte das Dokument an sich genommen; war von Herrn Minardi mit ausgesuchter Höflichkeit durch das gedrängt volle Vorzimmer bis zur Tür begleitet worden; hatte die ihm freundschaftlich dargebotene Hand nicht genommen und war seines Wegs weitergegangen: zu dem deutschen Generalkonsul, um von diesem seinen letzten Willen rechtskräftig machen zu lassen. Das abgetan, war für ihn alles Irdische erledigt.

Wohin jetzt?

Hatte er wirklich nichts mehr zu tun? Von keinem Menschen mehr Abschied zu nehmen? Jedenfalls Abschied von Rom. Ein Abschied war's auf Nimmerwiedersehen.

»Auf Nimmerwiedersehen« – Wie seltsam das klang!

»Wohin, lieber Freund?«

Es war sein deutscher Arzt, ein noch junger Mann, der ihm begegnete und ihn ansprach. Alle Deutschen im fremden Lande waren jetzt Freunde, Brüder, wie es jetzt in der Heimat alle waren,

»Ja, wohin, Doktor? Ich weiß es selbst nicht. Aber es freut mich, Sie noch einmal zu sehen.«

»Noch einmal?«

»Ich reise ab. Noch heute.«

»Nach Deutschland?«

»Wohin sonst? Um mich als Freiwilliger zu melden.«

»Sie wollen sich als Freiwilliger melden?«

»Können Sie noch fragen?«

»Sie sind aber doch – nicht ganz gesund.«

»Nicht ganz.«

»Und Sie wollen –« »Aber Doktor!«

»Lieber Freund –«

»Weshalb sehen Sie mich so an? Was meinen Sie mit diesem Blick?«

Der Arzt wiederholte:

»Sie sind nicht ganz gesund und wollten trotzdem –«

»Man nimmt selbst Tuberkulöse, wenn sie sonst kräftig genug sind. Ich bin kräftig genug.«

»Immerhin, wenn Sie schließlich doch bleiben wollten –«

»Ich will nicht bleiben!«

»So könnte ich Ihnen ein Attest ausstellen –«

»Um bleiben zu dürfen? Um für Deutschland nicht mitzukämpfen? Um die andern mitkämpfen zu lassen? ... Doktor, Doktor, Sie gehen ja doch selbst.«

»Natürlich gehe ich!«

»Also?«

»Ich warne Sie noch einmal.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Warnung. Aber bei aller Ihrer Freundschaft meinen Sie es – schlecht mit mir.«

»Bleiben Sie und –«

»Dann müßte ich mich verachten ... Seien Sie versichert, ich werde meinen Zweck erreichen.«

»Zu fallen. Denn das ist Ihr Zweck.«

»Wer sagt Ihnen das? ... Hoffentlich gönnen Sie mir die Erreichung meines Zwecks. Wissen Sie doch am besten, wie es um mich steht und das in jeder Hinsicht.«

»Ich hätte Ihnen von Herzen gewünscht –«

»Am Leben zu bleiben? Und am Leben zu bleiben, weil ich einmal ein Genius gewesen sein soll? ... Einmal gewesen!«

»Leben Sie wohl!«

»Sterben Sie tapfer – sollten Sie mir wünschen.«

Sie trennten sich. »Wohin jetzt?«

Er sagte es halblaut zu sich selbst und befand sich bereits dort, wohin es ihn trieb, um Abschied zunehmen: Abschied auf Nimmerwiedersehen. Doch würde er das der Person, von der er Abschied nehmen wollte, nicht sagen. Er wußte, es würde sie schmerzen. Trauern würde sie wegen dieses Abschieds von dem Freunde und zugleich ihn verstehen, so gut ihn verstehen, wie auf Erden kein zweiter Mensch.

In Abschiedsgedanken versunken, war er den Corso Umberto hinuntergegangen bis zur Piazza del Popolo, hatte sich jedoch nicht zu dem sommergrünen Pincio hinaufgewendet, sondern links zum Ponte Margherita in das einstmalige Gebiet der Wiesen des Kastells von S. Angelo und stand nun vor dem Villino, in dem die einzige Person wohnte, die um ihn trauern und die ihn verstehen würde.

Er fand die Fensterläden geschlossen und niemand in der Wohnung. Jetzt erst fiel ihm ein: ›Sie ging mit ihrem Knaben zu ihrem Vater, während ihr Herr Gemahl, außer in seinem Büro und bei Aragno, im Grand Hotel, dem vornehmen Versammlungsort der Franzosen und Engländer, Russen und Amerikaner, sich aufhält.‹ Also kehrte er vor der verschlossenen Wohnung um, ging den weiten Weg wieder zurück und in das Quartier der Via Babuino, in dem Rudolf Müller seit einem Menschenalter ein fleißiger Künstler und ein glücklicher Mensch gewesen war. Ob er letzteres jemals wieder sein würde? Je wieder in Rom ein glücklicher Mensch?

Tante Minchen empfing des Abwesenden jungen Freund. Die gute Dame hatte verweinte Augen, war jedoch sonst in allem ihres Bruders Schwester, mehr konnte zu ihrem Lobe nicht gesagt werden. Voller Stolz zählte sie die Neffen, Vettern und sonstigen Verwandten auf, die mit hinausziehen durften und von denen jeder als Held sich erweisen würde. Dann aber klagte sie:

»Daß mein Bruder ein alter Mann ist; daß er nicht mit hinaus kann! Ich weiß, es nagt an seinem Herzen. Und ich! Ich wäre gewiß nicht zu gebrechlich, um Krankendienste zu leisten. Auch für die Etappe nicht zu gebrechlich: war ich doch schon im Jahre siebzig Pflegerin und habe meinen Kursus bei dem großen Langenbeck selbst durchgemacht und die Prüfung mit Ehren bestanden. Wenigstens versuchen könnten sie es mit mir. Wenn für den Felddienst nicht mehr brauchbar befunden, könnte ich in Naumburg ein Lazarett einrichten oder darin nur Dienerin sein. Und wenn ich die Fußböden scheuern müßte. Nur helfen, nur mit dabeisein können! ... Ich kann nicht, darf nicht! Ich muß bei meinem Bruder bleiben. Mein Bruder braucht seine alte dumme Schwester. Als seine gute Frau starb, rief er mich auch zu sich, brauchte er mich auch. Dann freilich – Dann war die Filomena da. Ach, du lieber Gott! Ich bekomme es nun einmal nicht fertig. Reis und Makkaroni nach italienischer Art zu kochen. Sie geraten mir immer viel zu weich. »Pampig« nennt es mein Bruder und rührt keinen Bissen an. Also kann ihm die Filomena viel Besseres leisten als ich, was mich um seinetwillen von Herzen freut. In Naumburg würde ihm nichts mehr schmecken. Deshalb soll er auch in dieser für Deutschland gewaltigen Zeit ruhig in seinem geliebten Rom bleiben. Und ich, seine alte dumme Schwester – Ach, lieber Herr Weber, was sagen Sie denn zu Italien?«

»Italien bleibt neutral.«

Es geht wirklich nicht mit uns? Wirklich nicht mit seinen Bundesgenossen?«

»Italien bleibt neutral... Deutschland und Österreich-Ungarn müssen ihrem Bundesgenossen sogar dankbar sein, wenn er neutral bleibt.«

»Wenn? – Ach mein lieber, lieber Herr Weber –«

»Kann ich Ihre Frau Nichte sprechen?«

»Herr Weber! Sie sind solch treuer Freund unsres Hauses. Mein lieber, lieber Herr Weber, meine Nichte! Gott, ach Gott! Ich habe es ja doch gleich gesagt. Ein Italiener und eine Deutsche – Dieser Italiener!

Und jetzt? Jetzt ist das Unglück da. Sie hat freilich ihren Knaben. Aber das Kind – Ich möchte mir die Augen ausweinen ... Gehen Sie zu ihr. Ich weiß. Sie tun der Ärmsten wohl, wie sonst kein anderer. Ach, Herr Weber, wie anders hätte alles kommen können, wenn – Verzeihen Sie mein törichtes Geschwätz. Wer wird jetzt daran denken?«

»Sie haben recht. Jetzt wird der Deutsche nur an eines denken.«

»Nur an Deutschland!«

Schweigend saß er bei Mutter und Kind, Aber es ward ihm wohl in der stillen Gegenwart dieser Frau ohne Anmut und Schönheit. Während er still dasaß, Mutter und Kind – Letzteres war noch immer solch kümmerliches Lebewesen – schweigend betrachtete, mußte er sich vorstellen, wie schwer die Frau die Abreise eines deutschen Gatten empfinden, aber wie ruhig und stark sie zu ihm sagen würde: »Du mußt Weib und Sohn verlassen; mußt kämpfen, und solltest du fallen, so werde ich deinem Sohn erzählen, welch einen herrlichen Tod sein Vater starb: den Tod eines Helden! Sei also stolz auf deinen Vater, so stolz wie deine Mutter es ist, die deinen Vater über alles geliebt hat. Hörst du, mein Sohn: über alles!«

So stolz hätte diese Frau zu ihrem Sohn gesprochen, wenn sie – Heinrich Webers Weib geworden wäre...

Sie erzählte dem Freunde von ihrem Vater dort oben in der Villa Falconieri, dem Stücklein Deutschland, jenes Deutschland, welches seine Feinde zertrümmern, vernichten wollten. Bei allem Stolz über Deutschland, bei aller Erhebung über Deutschlands nationale Einigkeit litt der alte Mann und: »Er wird noch viel leiden müssen. Wir beide wissen weshalb. Aber wir wollen es nicht aussprechen.«

Sie sprachen es nicht aus. Auch nicht, als beide in dieser Scheidestunde fühlten, daß es hatte anders kommen können: »so ganz anders« – hatte Tante Minchen gesagt. Um vieles glücklicher und besser, obgleich sie eine unschöne Frau war, aber eine starke und treue Frau, eine rechte Freundin des Gatten, seine Mitkämpferin hätte sie sein können. Keiner von beiden sprach davon, daß es ein allerletztes Beisammensein war und daß beide es wußten.

Nur das eine sagte sie ihm:

»Wenn ich mein Kind nicht hätte – ich danke Gott, daß ich es habe – Oder wäre mein Kind nur um ein Jahr älter, so würde ich meine Pflicht als deutsche Frau in der Heimat erfüllen, wie eine jede das tut.«

»Als deutsche Frau in der Heimat« ... Rudolf Müllers Tochter war in Rom geboren, hieß Romana, war nur wenige Male und immer nur für kurze Zeit jenseits der Alpen gewesen und fühlte sich in jedem Pulsschlag als Deutsche; fühlte, daß Leiden um die Heimat, Sterben für die Heimat eine ebenso hohe Sache sei, wie das Glück und der Stolz über Deutschlands einmütige Erhebung es waren...

Sie sagten sich nicht Lebewohl, Aber Romana reichte dem Freunde ihren Knaben hin und sagte:

»Küsse du ihn!«

So einfach gab sie ihm daß schwesterliche Du, als sei es zwischen ihnen nie anders gewesen, und auch er nahm das trauliche Wort so hin, wie es gegeben ward.

Dann begleitete sie ihn hinaus. Auf der Treppe sagte sie noch:

»Gehe nicht fort, ohne vorher deinen besten Freund gegrüßt zu haben. Er ist alt und würde es schwer verwinden, wenn du ohne Abschied von ihm gingst. Finde dafür noch eine Stunde Zeit und sei bedankt dafür.«

Auch er hatte ihr noch etwas zu sagen:

»Wie wird es mit dir?«

»Mit mir?«

»Und deinem Mann?« »Er will von der Kirche austreten und von mir sich scheiden lassen.«

»Das dachte ich mir. Er will sich scheiden lassen, um eine Heirat zu machen?«

»Möglicherweise.«

»Von dir sich scheiden lassen gegen genügende Entschädigung?«

»Er wird seine Rente weiterbeziehen.«

»Leidest du sehr?«

»Ich habe meinen Knaben.«

»Also willigst du ein?«

»Ich willige ein.«

»Und leidest sehr?«

»Es ist seltsam. Seitdem Deutschland von seinen Feinden angefallen ward wie ein Edelwild von einer Meute blutgieriger Wölfe, ist es seltsam, wie ich nichts andres fühlen kann, als daß ich einen deutschen Vater habe und meine Heimat Deutschland ist; daß ich stolz und glücklich bin, eine Deutsche zu sein.«

»Du Gute, Starke!«

»Du Lieber!«

Sie trennten sich und wußten: es war auf Nimmerwiedersehen,

Heinrich erfüllte die Bitte der ihm so teuer gewordenen Frau und fuhr mit der Elektrischen hinaus nach Frascati. Die Campagna prangte in ihrer goldbraunen Sommerpracht, in dem Königsmantel, den die Erhabene sich umgeworfen hatte. Silbern lag die Sabina, silbern war das Gewölk über dem Meer. Nur die Zypressen standen gleich schwarzen Leichensteinen am Wege.

Heinrich hatte auf dem Oberdeck unter der schützenden Leinwand Platz genommen. Die Mitfahrenden waren Landleute aus den Albanerbergen. Sie redeten und gestikulierten mit der Leidenschaftlichkeit des Südländers. Nur von dem großen Kriege wurde gesprochen. Nein! Italiens Landvolk hatte nichts gemein mit jenem Italien, welches »neutral« blieb. Es war ein gutes Volk, stark im Ertragen aller Mühsal des Lebens; stark im Entsagen und Entbehren; stark in seiner Treue zu seinem Vaterlande, welches den durch harte Arbeit ermüdeten Schultern eine Steuerlast aufbürdete, unter der es nahezu zusammenbrach.

Dieses starke und tüchtige Volk sprach von Deutschland nicht nur mit Achtung, sondern voller Bewunderung. Als die Leute in ihrem Mitreisenden den Deutschen erkannten, brachten sie ihm und seinem großen Vaterland ein »Evviva!« aus. Da sagte ihnen Heinrich: er ginge noch diese Nacht nach Deutschland, um für Deutschlands Ehre zu kämpfen; und er wurde schon jetzt als Held gefeiert, so daß sein Blut heißer strömte, sein Herz höher schlug...

Am Zypressenteich der Villa Falconieri nahmen die beiden Freunde tiefernsten Abschied:

»Grüße mein Deutschland, unser teures Vaterland. Auf jedem, der hinauszieht in den Kampf, liegt eine Weihe; jeder, der im Kampfe fällt, stirbt als Unsterblicher; jeder, der verwundet, zerschossen, verkrüppelt heimkehrt, ist ein Märtyrer für Deutschlands gerechte Sache. Dieser Krieg ist nicht allein ein Krieg der Gegenwart, sondern ein Ringen auf Tod und Leben für die Zukunft Deutschlands. Daran möge bei uns jeder denken: jene, die hinausziehen dürfen, und jene, die zurückbleiben müssen.«

»Du gedenkst hier zu bleiben?«

»Um zuerst mein Bild zu vollenden und dann –«

»Dein Bild ist schön.«

»Ich danke dir... Und dann um meiner Tochter willen.«

»Glaubst du nicht, es könnte möglich sein, daß –«

»Weshalb stockst du? Sprich aus!«

»Daß Italien wider uns –«

»Nicht weiter! Was du meinst, ist unmöglich. Ist unmöglich, sage ich dir!«

»Möge es so sein.« »So ist es!«

»Lebe wohl.«

»Wir sehen uns wieder.«

»Gewiß... Das war eine schöne Stunde.«

»Ich behalte sie in meinem Herzen, solange es noch schlägt. Es ist ein sehr altes Herz.«

»Mit der Begeisterung eines Jünglings.«

»Für unser Vaterland... Lebe wohl.«

Wieder in Frascati angelangt, depeschierte Heinrich seiner Frau: sie solle ihm sein Gepäck durch die Magd auf die Bahn schicken. Er fahre mit dem Florentiner Nachtschnellzug.

Das war Heinrich Webers Abschied von seiner Frau.

Auch das war vorüber und abgetan. Seine Leidenschaft sowohl wie sein Unglück waren von ihm abgefallen gleich einem Gewand. Wundersam war's, wie es in diesen Tagen deutscher Not und deutscher Größe kein persönliches Schicksal mehr gab; wie es für den Deutschen nur noch ein Schicksal gab: das seines Vaterlandes, des teuren, hehren, heiligen.

Ja – »Deutschland, Deutschland über alles.«

So war es und so würde es bleiben bis in alle Ewigkeit.

Amen!


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