Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Viertes Kapitel

Im Casino Baldi wohnte unter anderen nordischen Sommergästen – das Haus wurde von der deutschen Künstlerschaft sozusagen mit Beschlag belegt – auch der Bildhauer Heinrich Weber. Er galt seinen Landsleuten für ein Genie und einen Mann der Zukunft, falls ihm eine solche beschieden sein sollte. Denn seine Freunde flüsterten von Tuberkulose, welche mörderische Krankheit gerade in seinem Alter – er stand Anfangs der Zwanzig – überaus gefährlich war. Niemand ahnte, ob der junge Künstler seinen Zustand kannte, und jedem flößte der arme Jüngling mit dem blassen, fast weißen Gesicht und dem üppigen rotblonden Gelock innige Teilnahme ein. Jeder glaubte an ihn, an seinen Genius. Der ganze Mensch hatte etwas Lichtes, Leuchtendes, und das nicht nur in seinem durchgeistigten Gesicht und Blick, sondern auch in seinem Wesen. »Apollinisch-bacchisch« nannte es der Professor, dessen Liebling und Schmerzenssohn zugleich sein Freund Heinz war: Schmerzenssohn, weil sich Heinrich Weber in seiner Kunst durchaus als »Moderner« erwies, wozu er freilich als Sohn seiner Zeit alles Recht besaß. Seine Kompositionen waren von einem Stil, dem die strenge Antike – die Antike Griechenlands und Phidias' – jede Daseinsberechtigung abgesprochen hätte: Heinrich Weber »malte« in Bronze und Marmor. Dabei welches Talent und welch prachtvoller Mensch! Aber in seiner Kunst eine Persönlichkeit, die an sich nicht rühren ließ. Der Professor galt ihm als – eben als der »gute« Sor Rodolfo. Seine Bilder würdigte er keines Blicks, was der Alte als Zeichen seines sich Überlebthabens voll schweigenden Kummers hinnahm, den Jungen wegen dessen großen Könnens laut rühmend, zugleich um die Verirrung solcher Kunst heimlich trauernd und um die Gesundheit des jungen Freundes sich sorgend. Denn: »Wenn dieses gewaltige Talent und dieser herrliche Mensch von den Göttern zu sehr geliebt werden, also jung sterben sollte – es wäre ein Jammer, nicht auszudenken!«

Einstweilen wollte der scheinbar einem frühen Tode Geweihte leben. Ja, er wollte das Leben wie einen Becher, gefüllt mit berauschendem Trunk, an die Lippen setzen; wollte den vollen Pokal leeren bis zum letzten Tropfen; und nirgends auf der Welt wurde dem Künstler sowohl wie dem Menschen das trunkenmachende Lebenselixir mit solchen glühenden duftenden Rosen bekränzt wie in Italien, wie in Rom, dessen Herrlichkeit Erhabenheit war. In dem einen fanden sich daher der Alte und der Junge: in ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Italien, wie sie in solcher Reinheit nur in dem Herzen eines jener Barbaren von jenseits der Alpen entbrennen konnte, einem Opferfeuer gleich ...

Wenige Tage nach Ankunft der Familie Müller erschien in Olevano auch Heinrich Weber, leidenden Aussehens, aber lodernd in Lebensgluten. In andern Jahren war er später gekommen. Diesen Frühsommer jedoch wollte er dem Volksfest der heiligen Trinität auf dem Monte Autore im Simbriotal, hoch über Subiaco, beiwohnen, eine Wallfahrt aller Völkerschaften der Felsenberge ohnegleichen in Italien. Der Professor hatte in früherer Zeit dieses Ereignis des öfteren genossen und davon dem Freunde begeisterte Schilderungen gemacht. Nun wollte dieser selbst sehen und staunen.

Allein würde er die weite Wanderung unternehmen. Nach dem Winter in Rom sehnte er sich nach Einsamkeit und innerer Einkehr, fühlte er das Bedürfnis nach neuen starken Eindrücken, nach Eindrücken, die ihm Italiens Natur und Volk geben sollten. Seit langem trug er sich mit dem Gedanken einer großen Komposition, die er bisher nur in schwankenden Gestalten geschaut. Es sollte eine Verherrlichung Italiens, eine Huldigung für das Vaterland Michelangelos sein, zugleich der monumentale Ausdruck jener Liebe der Deutschen zu dem Lande ihrer Sehnsucht, die bereits in den ältesten Zeiten deutscher Geschichte von tiefer Tragik für Deutschland war. Das Werk des jungen Künstlers sollte gewissermaßen die Verklärung dieser historischen Liebe bedeuten. Ihm war's, als sei dafür die Zeit gekommen und – als sei es für ihn die höchste Zeit ...

Im Morgengrauen brach er auf, nur das Notwendigste – es galt eine Nachtruhe auf dem Gipfel des Berges – eine warme Decke und einige bescheidene Nahrungsmittel im grünleinenen oberbayrischen Rucksack mit sich führend. Nur in den italienischen Felsengebirgen konnte es, so meinte er, einen Sommermorgen von solcher leuchtenden Herrlichkeit geben. Auf der Landstraße, die steil aufwärts nach Subiaco führte, kam er an einem Walde hochstämmiger deutscher Eichen vorüber, feierlich und geheimnisvoll wie der Hain eines alten germanischen Gottes. Die schöne Waldung war – gleich der Villa Falconieri über der Weinstadt Frascati – inmitten der sabinischen Wildnis eine Scholle deutschen Bodens, überschattet von den Bäumen, daraus einstmals deutschen Helden der Siegeskranz gewunden ward. Den Wald umgab eine Umzäunung, deren Tor das deutsche Wappen hütete: ein Adler, der stolzeste aller Vögel der Erde! Kein deutscher Wanderer ging vorbei, ohne das Symbol deutscher Größe und Kraft freudig zu grüßen, es voll Glück als Begnadigung empfindend, Deutscher zu sein, ein Sohn des Volkes, welches am Rhein fest und treu die Wacht hielt...

Höher stieg die Straße, freier ward der Blick über das Felsenland. Aus den Schluchten brauten blaue Dünste auf. Wallenden azurnen Geweben gleich zogen sie empor zu den kahlen Graten, an denen in der fahlen Farbe des Gesteins die Ortschaften klebten, jedes Dorf eine Siedlung wie von einem Urvolk bewohnt. In dieser Welt gab es kein zwanzigstes Jahrhundert; gab es nur wilde Ursprünglichkeit. Der Mensch, der in dieser stolzen Welt geboren ward, darin lebte und starb, war kein Sohn einer Kultur, welche bald diese, bald jene Form annahm, sondern er gehörte zu der Natur dieser sonnenwärts strebenden Gipfel und von brausenden Bergströmen durchfluteten Schluchten; gehörte dazu, gleich dem Fels, der Steineiche und dem Raubvogel, der zwischen Erde und Himmel mit ausgebreiteten Schwingen sich wiegte.

Auf der Paßhöhe standen die Erikabäume noch in voller lichter Blüte, ein Märchenwald, der bewohnt werden konnte von dem flötenblasenden, bockbeinigen Satyr und dem roßschweifigen Faun. Auch von Dryaden und Nymphen.

Wo der Weg die Schlucht erreicht, durch welche schäumend der junge Anio braust, darüber auf kühler Klippe die Klöster Sant Benedikts sich erheben, verließ der Künstler die Landstraße und folgte dem Laufe des Bergstroms, in dessen Fluten Kaiser Nero mit goldenen Netzen den noch heute berühmten Anioforellen nachgestellt hatte. Heinrich sah die Ruinen des Kaiserpalastes aus den Wirbeln ragen und über dem Abgrund hängen und gedachte des Wandels der Zeiten: dort, wo ein menschlicher Dämon, der in Rom die ersten Christen als lebende Fackeln auflodern ließ, sein »Sabinum«, ein Asyl seiner Lüste, gegründet, wurde die Scholle durch einen Verkünder eben jenes verfolgten Glaubens von den Geistern der Vergangenheit gereinigt, so daß die Stätte, die des Heiligen Fuß betrat, für alle Zeiten geweiht war...

Immer öder, immer gewaltiger die Felsenwelt! Schluchten und von Felsblöcken sich niederstürzende Kaskaden, Klippen und Klüfte, geheimnisvolle Grotten, schwärzliche Waldungen von Steineichen. Und in solcher Landschaft Kapellen und Siedeleien, Ruinen antiker Villen und Bauten des Mittelalters wie durch Zauber an scheinbar unzugängliche Schroffen gebannt. Hoch droben noch immer die Dörfer mit höhlenartigen Behausungen unter grauen Gipfeln, die zu dem Azur eines wolkenlosen Himmels aufstiegen, und, wie die Stimme dieser Natur selbst, in Wolkenhöhen ein Adlerschrei. Nicht ein einziger Reiz dieser Schöpfung ging dem Auge und Sinn des Nordländers verloren. Es war eine monumentale Welt, erschaffen von demselben göttlichen Geist, der Michelangelo beseelt hatte, jenen Michelangelo, der den Gott der Sistina werden ließ und die Peterskuppel wölbte. Und das Volk, das diese Welt belebte! Denn der Künstler war in der ungeheuren Einsamkeit nicht einsam. Auf dem Wege zwischen Fluß und Fels zogen Pilgerscharen zu dem hohen Heiligtum der Trinität, deren Fest die Einwohner der Berge feierten, Gestalten, wie sie urwüchsiger schwer zu denken waren. Besonders die Frauen. So, genau so, fast hochmütig stolz, trug das Frauengeschlecht des Altertums sein Haupt; genau so prachtvoll frei waren noch heute dieses Geschlechtes Haltung und Gang. Männer sowohl wie Frauen hatten ihre Feiertagskleidung angelegt, die zumeist dunkel, häufig sogar schwarz war, was die Prozessionen Trauerzügen gleichen ließ. Da die Straße in Windungen aufwärts führte, sah Heinrich die dunkle Menschenwoge beständig vor sich, über sich. Jedem Zuge voraus schritten die Ältesten, Männer und Frauen. Sie waren nicht nur die Anführer ihrer Gemeinde, sondern auch deren Vorbeter und Vorsänger. Uralte Gebete und Gesänge erschallten. Zuerst schwebten die Stimmen einzelner dumpf und geisterhaft über den Abgründen; plötzlich fiel die ganze Schar ein, an den Chor der Antike erinnernd.

Welch sonderbarer Schwärmer und Phantast selbst solch Moderner sein konnte! Tag und Weg, Landschaft und Staffage erfüllten den jungen Bildhauer mit phantastischen Vorstellungen. Unter den Pilgerzügen – auch aus den Abruzzen und den Volskerbergen waren sie herbeigekommen – befand sich eine überaus eigentümliche Frauengestalt. Sie schritt vor ihm her auf den vielen Windungen des Felsenpfades, groß und schlank, von einem wundervollen Ebenmaß. Unwillkürlich entkleidete sie Heinrichs Künstlerphantasie ihrer düsteren Gewänder und er glaubte niemals solche Frauenherrlichkeit gesehen zu haben. Ihre Gesichtszüge konnte er nicht erkennen. Sie mußte jung sein und – ja, und schön! Ganz seltsam, ganz wunderbar schön!

Auch das war bei dieser einen ungewöhnlich: sie schritt getrennt von den Genossinnen, gleichsam als sei sie eine Gemiedene, eine Verfemte. Nur um so freier schien sie das Haupt zu tragen, nur um so stolzer war ihre Haltung. So wenigstens deuchte es Heinrich in seiner phantasierenden Stimmung, der er verfallen war. Immer wieder mußte er denken: wo gibt es eine Welt, dieser ähnlich? Wo ein Volk, diesem gleich? Wo eine Frauengestalt aus dem Volke von solcher herben Hoheit?

Italien!

Je länger er in Italien lebte, um so heftiger ergriff ihn die Liebe zu diesem Lande; um so klarer erkannte er, was Italien dem Deutschen war: eben das geliebte Land! Eine Liebe war's, die des Deutschen Gemüt bis in seine Tiefen erfüllte, wahrlich kein schlechter, kein unwürdiger Teil seines Wesens ...

Erst bei anbrechender Dämmerung erreichte der junge Künstler sein Ziel. Unter einer im Sonnenuntergangsfeuer brennenden gewaltigen Klippe orangefarbenen Gesteins lag das Sanktuarium, gegründet von Jüngern Sant Benedikts, geschmückt mit verblassenden Fresken, erfüllt von wallendem Weihrauchgewölk, dem die Gestalten der betenden und büßenden Pilger gleich schemenhaften Schatten entstiegen, umbraust von betäubend duftenden Dämpfen, daraus die Lichter zahlloser Opferkerzen aufzuckten, mystischen Flammen gleich.

Gleich einer mystischen Flamme empfand der Deutsche in dieser Stunde seine Liebe zu Italien. Sie lebte als heilige Glut in den Herzen von Tausenden und aber Tausenden seines Vaterlands!

Als heilige Lohe sollte sie dem Herzen der Deutschen erhalten bleiben.


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