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Es waren aber doch Fremde, die eines frühen Sommermorgens in Roms Straßenbild eine höchst unrömische Staffage bildeten, und zwar waren es Deutsche. Sie fuhren in einem Mietwagen, einer »botte«, aus dem Gassengewirr nächst der Via Babuino dem Venezianischen Platz zu. Die kleine nordische Gesellschaft bestand aus drei Personen, einem sehr ältlichen, sehr respektabeln Paar und einer nicht mehr allzu frühlingshaft jungen Dame. Schon in der Art, wie das Trio sich kleidete, waren sie als Vollblutgermanen zu erkennen. Allerdings trug der alte Herr des Sommers wegen nicht den geliebten langschößigen schwarzen Gehrock des deutschen Gelehrten, sondern ein leichtes helles Gewand. Aber wie dieses an seinem hageren, langaufgeschossenen Leibe hing, die Form seines Hutes, die Farbe seiner Krawatte und seine unförmlichen gelbbraunen Stiefel – allein dieses verriet dem Römer auf den ersten Blick einen von jenseits der Alpen, ein Erkennen seiner Nationalität, die Professor Rudolf Müller – so echt germanisch lautete des Würdigen Name – nicht gerade für ein Kompliment hielt: hatte er sich doch nahezu volle fünfzig Jahre am Strande des Tibers der edlen Malkunst befleißigt, konnte keine andere Stätte der Welt als Ort des Lebens sich vorstellen, würde es, trotz seines niemals verläugneten Deutschtums, als höchste Schmeichelei empfunden haben, wäre er von irgend einem unschuldigen Gemüt der Ewigen Stadt für einen Römer gehalten worden, ein Glück, das ihm jedoch zu seinem geheimen Kummer niemals zuteil wurde. Hätte der Rosselenker – es war ein »Romano di Roma« – von dieser echt deutschen Schwäche seines Fahrgasts eine Ahnung gehabt und ihn als Landsmann angesprochen, so hätte er nicht nur das Doppelte der Taxe fordern dürfen, sondern er wäre außerdem mit einem königlichen Trinkgeld – einer »buona mancia reale« – belohnt worden. Das Schmerzlichste, was Professor Müller in dieser Hinsicht erleben konnte, war, daß er trotz seines so langen Verweilens in Rom von einer der mit allerlei schlechtem Kram handelnden menschlichen Schmeißfliegen beständig in schauderhaftem Deutsch als Deutscher angesprochen ward.
Diesen bald fünfzigjährigen Aufenthalt hatte er in seiner Jugend nur ein einziges Mal unterbrochen. Das war, als das schnöde Frankreich seinem Vaterlande den Krieg erklärte. Als Freiwilliger war der blondhaarige Jüngling hinausgezogen in den heiligen Kampf für Deutschlands Recht, um nach Deutschlands Sieg, mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust, zurückzukehren nach seinem geliebten Rom.
Die alte Dame neben dem ehrwürdigen Altmeister würde selbst von einem Bewohner der lateinischen Meeresküste, also von einem Halbwilden, als Germanin erkannt worden sein, wofür sie auch durchaus gehalten sein wollte, eine Tatsache, die zwischen ihr und dem Professor einen unüberbrückbaren Abgrund bildete. Sie trug einen Hut, wie sie solchen bereits vor dreißig Jahren getragen, und über ihrem großgeblümten Kattunkleid prangte eine Pelerine aus dem nämlichen grellfarbigen Stoff. Der Hut, mit mächtigen krebsroten Mohnblumen garniert, war ebenso wie der Umhang selbstverfertigt; denn die Trägerin dieser Kunstwerke hätte es für eine Schande gehalten, ihren ziemlich umfangreichen Leib von einer Schneiderin kleiden oder ihr nach Großmuttermode frisiertes Haupt von einer Putzmacherin schmücken zu lassen. Die Dame wurde von dem Herrn mit dem breitkrempigen Hut in besonders vertraulichen Augenblicken »Tante Minchen« genannt und war dessen unverehelichte Schwester, die nach dem vor sechsundzwanzig Jahren erfolgten Ableben der Frau Professorin zur Pflege eines neugeborenen Kindes und des Witwers von Naumburg an der Saale nach Rom übergesiedelt war, schweren Herzens genug. Dieser Schmerz um die verlassene Heimat hatte sich in den langen Jahren ihres römischen Aufenthalts nicht abgeschwächt. Als Tante Minchen jedoch einmal ihre Familie in Naumburg besuchte, wäre sie vor Heimweh nach Rom fast gestorben, obgleich sie an Rom und den Römern nicht das geringste Gute ließ und nicht aufhörte, Rom und die Römer mit Naumburg und den Naumburgern zu vergleichen, natürlich sehr zugunsten der idyllischen Stadt an der Saale und deren freundlichen Bewohnern.
Gleichfalls eine Vollblutdeutsche nach Aussehen und Tracht war des Professors nicht mehr allzu jugendliches Töchterlein, welches bis dahin ihr nordisches Heimatland noch mit keinem Fuße betreten hatte und das Abbild ihrer blauäugigen, blondhaarigen Mutter war. Zu ihres Vaters nicht geringem Stolz wurde sie in Rom geboren, war also in Wahrheit eine Römerin und hatte als solche bei der Taufe in der deutschen Botschaftskapelle auf dem Kapitol den Namen »Romana« empfangen. »Romana« bei diesem flachsblonden Haar, diesen vergißmeinnichtblauen Augen, dieser germanischen Anmutlosigkeit und einer Sprache, die bedenklich nach dem gewiß sehr hübschen Dialekt der guten Leute von Naumburg an der Saale sich anhörte, in dem bis heutigestags Vater und Tante redeten. Jedenfalls war der majestätische Name des guten Kindes sein Unglück: klang doch »Romana« wie ein Spottname auf Körper und Geist seiner Trägerin, die übrigens die beste Seele von der Welt war, geradezu engelhaft, der Seraph des Hauses.
Hinter dem Wagen mit diesen drei Personen fuhr ein zweiter, hoch beladen mit Gepäck, bewacht von der Dienerin des Hauses, einer gleichfalls überaus umfangreichen Persönlichkeit in sabinischer Landestracht. Auch sie war bereits ältlich, aber von welcher Rasse! Dabei ehemals eine Schönheit, noch heute eindrucksvoll, mit kohlschwarzen mächtigen Augen, die Flammen sprühen konnten, reichem gewellten Haar, gleichfalls von Rabenschwärze, und – leider etwas verfetteten – »klassischen« Zügen, Sie hieß Filomena, gehörte ganz zur Familie des Professors, war treu wie Gold und im Hause Müller eine Macht: war sie doch als Witfrau ins Haus gekommen, und zwar in der hochbedeutsamen Eigenschaft einer Amme – einer »balia« – des mutterlosen Kindes. Und was eine »balia« im Lande deutscher Sehnsucht besagen will, kann nur derjenige ermessen, der ein solches wichtiges Wesen an seinem eigenen Kinde, also gleichsam an seinem eigenen Leibe, erfahren hat. Eine Würde war's, die Herrscherinnenrechte verlieh. Dame Filomena stammte aus Olevano, nach welchem berühmten Ort – berühmt auch durch die Liebe der Deutschen – ihre Herrschaft an diesem frühen Junimorgen sich zur Sommerfrische begab. Gerade diesen Sommer wurden es volle fünfzig Jahre, daß der Mann aus dem Norden die sabinische Felsenstadt für sich entdeckt hatte. Während nahezu voller fünfzig Jahre hatte der jetzt greise Künstler Olevano in Landschaftsbildern und Figuren verherrlicht. Seine Gemälde von Stadt und Volk des Sabinergebirges waren durch die Welt gewandert und hatten zu dem Ruhm der Stätte nicht wenig beigetragen.
Daß er dieses vermocht, war des Überbescheidenen größtes Glück, ein Glück, das ihm selbst von seinen Feinden, hätte der Gute deren gehabt, von Herzen gegönnt wurde.