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Auf Sor Rodolfos Seele lag ein Druck, davon er sich befreien mußte. War es das seit ihrer Heirat so stille Gesicht seiner Tochter; war es die Ehe seines jungen Freundes, aus dessen Mienen gleichfalls eine fast trostlose Traurigkeit sprach, oder war es das Alter, der Anfang seiner Ermattung, seiner Müdigkeit? Genug, der Professor fühlte auf sich etwas Dumpfes lasten und versuchte, seiner Art nach, damit fertig zu werden. Seine Art aber war ein Hinauseilen in die Natur, eine Flucht in Einsamkeit, ein Sichversenken in Schönheit, in die hehre Schönheit der Campagna Roms.
Wenn sein Gemüt solchen Stimmungen erlag, ließ ihn Tante Minchen ungehindert seiner Wege gehen, und selbst Dame Filomena führte an dergleichen Tagen ein mildes Zepter, bemüht, die Macht ihrer Persönlichkeit durch eines ihrer berühmten Gerichte zu verstärken; etwa durch risotto al sugo, oder spaghetti alla Napolitana, Besänftigungsmittel, die wie ein leises Streicheln wirkten, gegen welches Tante Minchens zarteste Schwesterliebe nicht aufkommen konnte. Heute also fuhr Sor Rodolfo, frei wie in seinen Jünglingsjahren, mit dem Frühzug hinaus nach Frascati.
Wie in seinen Jünglingsjahren –
Das war damals, als er, nicht viel reicher als eine Kirchenmaus, jeden Morgen mit Skizzenbuch, Farbenkasten und einem halben Dutzend Apfelsinen im Rucksack, aus einem der Tore Roms hinauswanderte, um erst am späten Abend zurückzukehren. Mal für Mal in feierlicher Stimmung mit einem stummen Dankgebet, daß ihm gütige Götter diese Heimkehr gewährten, ein wahres himmlisches Gnadengeschenk. Die Porta del Popolo, durch welche Goethe seinen Einzug gehalten, dann erst Roms sicher sich fühlend, bildete damals den Beginn seiner Wanderungen. Von dort aus schlug Rudolf Müller von Tor zu Tor um Rom einen Kreis, bis er nach einem vollen Jahr wieder anlangte, von wo er ausgegangen war, sein Skizzenbuch bis zur letzten Seite angefüllt mit Studien der römischen Landschaft, sein Herz voller Begeisterung für ihre Herrlichkeiten, die Erhabenheiten waren. Das halbe Dutzend Orangen war über Tag seine Nahrung gewesen, köstliche Mahlzeiten, eingenommen unter einer knorrigen Steineiche, auf blumiger Hügelwelle, bei den Ruinen einer antiken Wasserleitung oder eines mittelalterlichen Wachturms, jubilierende Lerchenchöre über sich, vor sich unabsehbar weit das Land vom Gebirge bis zum Meeresstrand. Das waren Zeiten gewesen! Sie kehrten so wenig wieder, wie die unberührte Schönheit der römischen Landschaft wiederkehren konnte, die damals noch Wüste und Wildnis war. Jetzt hatte sie sich zum großen Teil in Kulturland verwandelt, auch dies eine Metamorphose, darüber nur Künstler, Poeten und ähnliche sonderbare Schwärmer Klage führen konnten...
Eine Fahrt durch die Campagna, selbst im Bahnzuge mit keiner andern Fahrt zu vergleichen. Sor Rodolfo kannte den Bogen eines jeden Aquädukts, jede Wölbung einer Ruine, jeden Blick auf das ferne Sabinergebirge, dessen höchsten Gipfel ein leuchtender Schneemantel einhüllte. Im Vordergrund antikes rotbraunes Gemäuer, smaragdgrüne Pinienwipfel, ein letztes Stück Weideland mit einer Herde Schafe und silbergrauer Rinder oder einem Trupp wie in glückseliger Freiheit lebender langschweifiger Pferde. Ein Bild neben dem andern!
Hinter der Station Ciampino begann die Bahn anzusteigen. Sor Rodolfo begrüßte den von Kastanien umwaldeten, noch winterlich violetten Gipfel des Monte Cavo, der einstmals Latiums höchstes Heiligtum trug; begrüßte den lichten Kranz der albanischen Weinstädte, während er auf der andern Seite bis zu den fernen Grenzen Umbriens mit dem Monument des Soracte schaute und im Vordergrund Rom lag, als lang sich hinziehender schimmernder Streifen, überschwebt von der wie von unsichtbaren Händen emporgehobenen Peterskuppel.
Höher stieg die Bahn, umfassender wurde der Blick.
Gen Westen ein leuchtendes Band: das Meer; gen Osten Gipfel an Gipfel: der Apennin; zu beiden Seiten längs der Bahn silbriger Ölwald, von blühenden Pfirsichbäumen rosig durchglüht.
Jetzt eine bunte Stadt, eingebettet in Oliveten, Vignen, Gärten, Hainen. Landhäuser, von denen jedes ein Palast war, stiegen auf, Frascati ward sichtbar, die Perle des Albanergebirgs, ein Paradies der Erde, in eng umgrenztem Raum eine Welt von Schönheit ...
Es war gerade ein Festtag: Frascati feierte den Jahrestag seiner Gründung nach Tusculums Zerstörung durch Rom.
Damals hatten sich geflüchtete Tusculaner unterhalb ihres Berges aus Zweigen Hütten gebaut. Also war es ein Laubhüttenfest, welches die Frascataner zur Erinnerung an die mythische Gründung ihrer Stadt in harmloser Fröhlichkeit begingen.
Wie ein Jüngling ließ sich der Alte von dem Strom der Feiernden erfassen und fortführen. Den Hohlweg zwischen den Villen Torlonia und Belvedere ging es unter Musik und Gesang hinauf, eine Wallfahrt fröhlicher, also frommer Menschen. Auf der Höhe der albanischen Landstraße angelangt, wälzten sich die bunten Scharen seitwärts in die aldobrandinischen Wiesengründe, die dem Volk an diesem einen Tage für Fußgänger, Fuhrwerk und Reiter geöffnet waren.
Sprießende Knospen vergoldeten über und über die Ulmenbäume, die Matten färbten violette Anemonen, die Lüfte schallten von Lerchenjubel, der Monte Cavo in seinem Purpurgewand glühte herüber, und in der Ferne stiegen über der Wildnis des Algidumtals in tiefer Bläue die Volskerberge auf. Jetzt wurde dem Professor feierlich zumut. Auf antiker Straße, einem Pflaster aus bläulichem Basalt, dessen gewaltige Blöcke soeben erst kunstvoll aneinandergefügt schienen, an zerstörten Grabmalen und Kolumbarien vorüber, führte der Weg zu den tusculanischen Höhen hinauf. Auf dieser nämlichen Straße war Tusculums mythologischer Gründer, der Sohn des Odysseus und der Circe – dort drüben ragte der Fels der argen Zauberin! – den Berg hinangezogen; waren hinangezogen alle die Helden aus Tusculums großer Zeit; war hinangezogen der aus Rom fliehende Tarquinierkönig; waren hinangezogen Roms Kaiser, darunter Tiberius, wenn er von seinem tusculanischen Hochsitz aus auf das verhaßte Rom herabschauen wollte; hinangezogen waren diese nämliche Straße sämtliche Volksstämme, die Italien überfluteten, darunter mit seinem Heere ein Hohenstaufenkaiser; und noch heute konnte nicht ein einziger Grashalm zwischen die Fugen des ehrwürdigen Pflasters sich drängen, welches die vor Jahrtausenden tief eingegrabenen Spuren der Wagenräder immer noch auf sich trug. Heute nun wallten die nämliche Straße hinan die fröhlichen Kinder einer Zeit des Telephons, des Funkentelegraphen und der Luftschiffe ...
Tusculums Veilchen blühten. Ihr duftender Purpur durchleuchtete den Pinienwald nächst dem Amphitheater, umhüllte die Ruinen der Tiberiusvilla, die gleich den Felsblöcken eines Bergsturzes auf den steil abfallenden Abhängen lagerten, schmückte mit der Kaiserfarbe die Stätte des einstigen Forums, breitete einen Teppich über die Matten, in deren Mitte Szene und Sitzreihen des Griechischen Theaters aufstiegen, zog sich empor bis zu dem Felsen der Arx, den das triumphierende Kreuz krönte. Tusculums Veilchen blühten und dufteten und machten Sor Rodolfos Künstlerseele frühlingsjung, so daß er den Winter auf seinem Haupte nicht fühlte.
In dem Frühlingssonnenschein wimmelte zwischen den Ruinen Frascatis feierndes Volk. Es hatte sich gelagert, schmauste und trank, ließ die Musik spielen und seine Jugend tanzen. In alter Zeit wären Tusculums Veilchen zu Kränzen gewunden worden, mit denen die Jungfrauen und Jünglinge sich festlich gekrönt und die Bildsäulen ihrer Götter geschmückt hätten. Heutigentags wurden Tusculums Veilchen in Massen gepflückt und korbweise nach Rom verschleppt; Veilchen von Tusculum für die Fremden, die Rom überschwemmten, als hätten sie, von allen vier Weltteilen zusammenströmend, die Stadt des Romulus wiederum erobert...
Die Gruppen der Lagernden durchschreitend, wurde der Professor von allen Seiten aufgefordert, den Fröhlichen sich zu gesellen und mitzuschmausen, mitzutrinken. Sie hoben die gefüllten Gläser, um dem alten Herrn zuzutrinken, den sie gut kannten, und der aus solchen jungen Augen, mit solchem strahlenden Lächeln auf sie herabschaute. Auch die Gastfreiheit gehörte zu den liebenswürdigen Eigenschaften des Völkchens, um derentwillen der schwerfällige Nordländer es lieben mußte, hätte Italien nur nicht diesen schändlichen Krieg wider eine schuldlose Völkerschaft geführt. Dabei schien von dieser Tücke in keiner Seele auch nur eine Ahnung zu dämmern! Kinder sollten es sein? Aber der Deutsche wollte von solcher Kindlichkeit nichts wissen. Er konnte sich jedesmal ereifern und entrüsten, hörte er seine Landsleute mit dem Lächeln freundlicher Nachsicht Italiens Volk den Schmeichelnamen von großen Kindern beilegen, deren Recht schließlich war, liebenswürdig ungezogen und wohl noch Schlimmeres zu sein. Als ob Kinder nicht grausam, verlogen, im Grunde ihrer Seele böse sein konnten! Aber Kinder brauchten für ihre Taten keine Rechenschaft abzulegen, keine Verantwortung zu übernehmen; für Kinder gab es daher weder ein Gericht noch einen Rechtspruch. Für das Volk eines großen Staates war es – so schien es dem deutschen Philister – eine Beleidigung, mit herablassender Großmut eine Nation von Kindern genannt zu werden: Italiens Volk sollte sich den Namen einer Nation von Männern verdienen. So war es der Wunsch des Deutschen, der dieses Volk mit einer großen Vergangenheit liebte ...
»Heinz! Du hier? Allein?«
»Meine Frau kam mit mir.«
»Wo ist sie?«
»Bei ihrer Gesellschaft, der Gesellschaft ihrer Verehrer. Wie du weißt, habe ich eine wunderschöne Frau. Übrigens ist auch dein Herr Schwiegersohn dabei.«
»Doch wohl mit meiner Tochter?«
»Mit deiner Tochter? ... Nein.«
»Sie wird keine Lust gehabt haben.«
»Vermutlich.«
»Weshalb bliebst du nicht bei deiner Gesellschaft?«
»Ich wollte etwas allein sein.«
»Also lasse ich dich allein.«
»Nein, nein!«
Heinrich verneinte heftig und erregt, wie in Angst vor dem Alleinsein, welches zu suchen er sich von seiner Gesellschaft getrennt hatte. Nicht zum erstenmal gewahrte der Professor in dem bleichen Gesicht seines jungen Freundes einen ganz neuen Zug tiefen Leidens. Doch war es nichts Körperliches; war etwas viel Schmerzlicheres, aus der Seele kommend, ein Kummer, ein Gram: Kummer und Gram bei diesem von den Göttern Geliebten, der, trotz seines Todübels, leben wollte, »leben«, bevor die Götter ihren Liebling von dem Genius mit der gesenkten Fackel in den Händen auf die Stirn küssen ließen, die auch er sich mit Rosen, mit scharlachroten berauschend duftenden, kränzen wollte.