Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Zehntes Kapitel

Heinrich Weber kam aus seiner Werkstatt, in der er soeben eine letzte Arbeit vollendet: eine allerletzte. An jener Inschrift unter seiner Marmorgruppe:

»Deutschland huldigt Italien!«

hatte er ein Wort geändert, und jetzt stand unter den beiden leuchtenden Gestalten tief eingegraben:

»Deutschland huldigt der Treue!«

Das getan, ging Heinrich in seine Wohnung und zu seiner Frau, der er sagte:

»Packe die Sachen! Nur das Notwendigste! Für dich und für mich! Wir müssen fort!«

Lavinia fragte, wohin sie beide so eilig müßten? Doch nicht nach Olevano, nicht wieder hinauf nach Bellegra? Sie wolle nicht fort; sie wolle in Rom bleiben.

»Wohin wir müssen? Du kannst noch fragen?... Wir reisen nach Deutschland und das noch diesen Abend.«

»Wir?«

»Ich sagte: wir reisen nach Deutschland.«

»Du reisest nach Deutschland ... Deutschland hat ja wohl Krieg?«

»Es hat Krieg.«

»Also werde ich die Magd für dich packen lassen.«

»Also wirst du für uns beide packen und das sogleich!«

»Weil du ein Deutscher bist? Weil du nach Deutschland gehst? Weil Deutschland Krieg hat, sollte ich mit dir fort? Fort nach Deutschland?«

»Sollst du als meine Frau, als die Frau eines Deutschen, mit mir fort.«

»Deshalb sollte ich mit dir nach Deutschland gehen müssen? Deshalb?« »Deshalb mußt du mit mir. Hörst du wohl? Du mußt!«

»Ich bin Italienerin.«

Heinrich wiederholte:

»Weil du nun einmal meine Frau bist, mußt du jetzt mit deinem deutschen Mann sogleich nach Deutschland abreisen.«

»Ich bleibe hier. Reise allein.«

»Nicht ohne dich!«

»Was kümmert mich dein Deutschland? Was euer Krieg? Geh du, weil du nun einmal ein Deutscher bist, in den Krieg.«

»Das sagst du? Als meine Frau sagst du das? Und in solchem Tone, mit solcher Miene?«

»Ich sage es.«

»Dann sage mir auch –«

Er holte mit Anstrengung Atem und mußte warten, bis er imstande war, wieder zu sprechen. Auch jetzt mußte er nach Fassung ringen. Aber nur nicht jetzt die Besinnung verlieren! Er mußte fort, mußte sich dem Vaterland als Freiwilliger stellen, durfte vielleicht fallen, durfte für das Vaterland sterben. Welch himmlische Vorstellung! Aber sein Weib zurücklassen, sein Weib einem anderen überlassen? ... Nach einer Weile konnte er gelassen sagen:

»Ich gehe in den Krieg, kämpfe für mein Vaterland, falle vielleicht –«

»Du fällst?«

Sie sah ihn an. In ihren Augen leuchtete es blitzartig auf, blitzartig war auch des Mannes Erkenntnis,

»Wenn ich falle, wirst du –«

Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Das Aufleuchten ihrer Augen hatte ihm genug gesagt: für das Weib, das sein Leben vernichtet, das ihn als Künstler und als Mensch zugrunde gerichtet hatte, würde sein Tod Befreiung, Erlösung, Glück sein.

Und so sagte er denn: »Lasse die Magd packen. Nur das Notwendigste. Für mich allein.«

Er verließ sein Haus, das sein Haus niemals gewesen war; verließ sein Weib...

Also ohne seine Frau –

Abschied, Trennung fürs Leben. Zugleich war es für ihn Sieg: Sieg über sich selbst; Sieg über seine Leidenschaft; Sieg über all das Unedle, Unwürdige, Ehrlose, das durch seine Leidenschaft für das schöne Weib über ihn gekommen war. Jetzt brauchte es im Leben für ihn nur noch eines: die Kugel des Feindes.

Ohne seine Frau –

Sie verlassend, überließ er sie einem Liebhaber, dem ein anderer folgen würde und wieder ein anderer. Mochte es so sein. Erfuhr sie dann seinen Tod – Sein Tod würde dann ihr Sieg sein!

Er wollte abreisen und würde nicht wiederkehren. Ein Abreisender, der nicht wiederkehrte, hatte an allerlei zu denken, für allerlei zu sorgen. Als ein dem Tode Verfallener mußte er an diejenigen denken, für diejenigen sorgen, die er zurückließ. Er ließ eine Frau zurück, die seinen Namen trug. Also –

Er mußte einen letzten Willen aufsetzen; mußte über sein Hab und Gut verfügen; mußte eine letzte Pflicht erfüllen.

Sein Hab und Gut mußte der Frau zufallen, die seinen Namen trug. Darüber mußte eine Urkunde aufgesetzt werden...

»Amerigo Minardi. Avvocato.«

Zufällig fiel sein Blick auf den Namen und Titel. Er blieb stehen, las den Namen, mußte sich besinnen, wessen Name es war und – ging hinein.

In einem elegant ausgestatteten Vorraum warteten viele, die zu dem Herrn Advokaten wollten: des Herrn Geschäft blühte. Unter den Wartenden befanden sich sonderbare Gestalten. Der soeben Eingetretene hatte dafür nur einen flüchtigen Blick; aber selbst ihm fielen jene Anwesenden auf. Da er Eile hatte, übergab er dem Schreiber des Herrn Advokaten seine Karte und sagte dem Menschen, der ihn aus großen fiebernden Augen anstarrte: »Ich muß noch heute nach Deutschland abreisen; muß daher sogleich mit dem Herrn Advokaten sprechen. Also lasse ich bitten, mich sogleich vorzulassen.«

Wer war der junge Mensch mit dem fahlen Gesicht und den fiebernden Augen? Wem glich er doch nur? ... Richtig! Dem! Ein Spukbild aus vergangenen Zeiten ... Es war jedoch nicht der Geist eines Toten, sondern er selbst mußte es sein: der Bruder seiner Frau. Der junge Fanatiker hatte ihn durch einen Dolchstoß töten wollen und ihn auch getroffen, leider nicht tief genug ... Nein! Zum Glück nicht tief genug; denn jetzt durfte er für sein Vaterland fallen und das in dem gerechtesten, also heiligsten aller Kriege, die jemals geführt wurden. Orazio Petroni selbst war der junge Mensch mit den fieberglühenden Augen.

»Der Herr Advokat läßt bitten.«

Heinrich Weber trat ein bei dem Manne, von dem er wußte, daß er nach seiner Abreise der Liebhaber seiner Frau werden würde, wenn er es nicht bereits war, trotz der scharfen Wacht, die der Gatte gehalten hatte.

»Was wünschen Sie von mir?«

Der Advokat war erblaßt. Was konnte der Deutsche anderes von ihm wollen, als einen Waffengang auf Leben und Tod? Der Herr Advokat aber durfte sein kostbares Leben in einem Zweikampf mit einem dieser Barbaren nicht auf das Spiel setzen. Sein Leben gehörte Italiens großer Sache, die einstweilen darin bestand, Geld, viel Geld, ungeheuere Summen Geldes, von den Feinden dieses verhaßten Deutschlands zu nehmen. Denn um Deutschland handelte es sich, um Deutschland hauptsächlich, wenn Italien auch Österreich meinte: Italiens Krieg wider Deutschland würde es sein!

»Was wünschen Sie von mir?«

Der Advokat mußte seine Frage wiederholen. Der Herr, der es eilig hatte, bei ihm vorgelassen zu werden, schien die Frage überhört zu haben. Er stand und betrachtete den Mann. Sein Blick glitt über die mit übertriebener Eleganz gekleidete schlanke Gestalt; glitt über das Gesicht, das einem Künstler als Modell für einen edlen jungen Römer dienen konnte. Und Heinrich Weber, dieses Gesicht und diese Gestalt betrachtend, mußte denken –

»Wollen Sie mir nicht gefälligst sagen, was Sie von mir wünschen?«

»Gewiß. Sogleich.«

»Wenn ich bitten darf. Auch ich habe Eile. Sie werden bemerkt haben, daß viele warten.«

»Ihr Geschäft blüht.«

»Es geht gut... Nehmen Sie Platz.«

Heinrich Weber blieb stehen. Kein Auge von dem Geliebten seiner Frau abwendend, sagte er:

»Ich möchte mein Testament machen.«

»Ihr Testament?«

Dem Wort folgte ein tiefes Aufatmen der Erleichterung. Der hübsche Bursche war nicht nur ein durchtriebener, sondern auch ein feiger Halunke.

»Ich möchte meinen letzten Willen aufsetzen.«

»Bei mir?«

»Weshalb nicht bei Ihnen?«

»Weil Sie Deutscher sind und weil Sie auf Ihrem Konsulat –«

»Ich wünsche bei Ihnen, gerade bei Ihnen, meine letzten Verfügungen aufzusetzen... Sie verstehen mich doch?«

»Ich verstehe Sie ... Weshalb wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Ich wünsche bei Ihnen stehen zu bleiben. Auch das werden Sie vielleicht verstehen?«

»Nach Ihrem Belieben... Also was wünschen Sie noch?«

»Ich reise ab, nach Deutschland. Deutschland hat nämlich Krieg.« »Sie wollen nach Deutschland? In den Krieg?«

»Da ich Deutscher bin – Aber das werden Sie vielleicht nicht verstehen?«

»Deutschland wird sicher siegen.«

»Über alle seine Feinde.«

»Wir Italiener –«

»Die Italiener sind ja wohl Deutschlands und Österreichs Bundesgenossen?«

»Freilich, freilich! Wir Italiener wünschen Deutschland und Österreich glorreichen Sieg.«

»Über alle unsre Feinde.«

»Über alle. Sie wissen ja wohl, daß Italien –«

»Neutral bleibt.«

»Einstweilen wenigstens.«

»Italien soll seine sämtlichen Truppen von der französischen Grenze fortziehen – trotz seiner Bundesgenossenschaft und seiner Neutralität.«

»Wir unsre Truppen fortziehen von der französischen Grenze? Das wäre, Herr Heinrich Weber, das wäre –«

»Offenbare Niedertracht.«

»Das wäre es.«

»Mich freut, daß Sie so denken.«

»So denkt ganz Italien!«

»Ganz Italien spricht aus Ihrem Munde: aus dem Munde des Herrn Advokaten Amerigo Minardi ... Aber lassen Sie uns zu meiner Sache, kommen, da wir beide Eile haben.«

»Herr Weber, gehen Sie zu Ihrem Generalkonsul.«

»Der Herr hat im Augenblick anderes und Besseres zu tun. Sobald ich meinen letzten Willen bei Ihnen, Herr Advokat Minardi, aufgesetzt habe, werde ich das Dokument durch das Deutsche Konsulat rechtskräftig machen lassen. Es ist mein besonderer Wunsch, daß Sie meinen letzten Willen kennen lernen: gerade Sie.«

»Ihr besonderer Wunsch?«

»So sagte ich. Sie verstanden mich durchaus recht... Jetzt rufen Sie gefälligst Ihren Schreiber und lassen Sie den Mann niederschreiben, was ich zu sagen habe: aus bewußten besonderen Ursachen gerade Ihnen ... Ich drückte mich doch deutlich aus?«

»Durchaus.«

Und Herr Minardi rief seinen Schreiber ...

In seinem letzten Willen hinterließ der deutsche Bildhauer Heinrich Weber seiner Witwe sein gesamtes Hab und Gut, unter der Bedingung ihrer Wiederverheiratung. Sein gesamtes Hab und Gut bestand hauptsächlich in der Marmorgruppe: »Deutschland huldigt der Treue«. Auch mit der veränderten Inschrift bedeutete das Werk für des Künstlers Witwe ein Vermögen.

Heinrich Weber sagte zu dem Advokaten Minardi:

»Unter der Bedingung, Herr Advokat, einer Wiederverheiratung. Ich habe mich doch in einer Weise ausgedrückt, die jeden Zweifel ausschließt? Mir liegt daran, es von Ihnen, in Gegenwart Ihres Schreibers, ausdrücklich bestätigt zu hören.«

»Ich bestätige es Ihnen ausdrücklich.«

»Sehr wohl. Und Sie, Herr Schreiber, wollen folgenden Wortlaut genau wiedergeben: Mit meinem innigen Wunsche, meine Frau möge mit einem zweiten Gatten glücklicher werden, als sie es mit dem ersten gewesen ... Haben Sie das wörtlich niedergeschrieben?«

»Wörtlich.«

»Auch noch das folgende.«

»Diktieren Sie!«

»Der Verstorbene hat einstmals auf das tiefste bedauert, daß der Dolchstoß des Bruders seiner Gattin sein Herz nicht traf ... Schrieben Sie?«

»Herr –«

»Einstmals bedauert. Jetzt nicht mehr. Da ich jetzt eines edleren Todes sterben kann ... Schreiben Sie!«

»Da Sie es wünschen –«

»Ich wünsche es ... Danke. Was schulde ich Ihnen?«

»Herr!«

»Was schulde ich Ihnen, Herr Advokat? Ich wünsche nicht, mit einer Schuld gegen Sie für mein Vaterland zu fallen.«

»Weshalb sollten Sie fallen?«

»Weil ich für mein Vaterland fallen will, einer von den Tausenden und aber Tausenden, die in diesem Kriege für ihr Vaterland fallen werden ... Also meine Schuld, Herr Advokat Minardi? Sie sind Italiener, und ein Italiener tut nichts umsonst.«

Herr Amerigo Minardi nannte die Summe, und Heinrich Weber zahlte.

Er zahlte mit Gold.


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