Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Zehntes Kapitel

Sie war es selbst: Lavinia, die Enkelin der Verstorbenen, die Lebende; sie, die der junge Künstler am Tage der großen Prozession gesehen hatte; sie, die er nicht vergessen konnte, die zu suchen er gekommen war. Nun hatte er sie gefunden. In ihrer ganzen hoheitsvollen Schönheit stand sie plötzlich vor ihm. Kein Wort vermochte er zu sprechen, nur sie anschauen, die bei seinem unerwarteten Anblick keine Miene veränderte, ihn nicht zu erkennen schien. Der Greis mußte sie mahnen:

»Grüße den Herrn, er kennt dich.«

Aber sie würdigte den Herrn keines Blicks; auch dann nicht, als der Priester fortfuhr:

»Der Herr ist ein Künstler, ein Deutscher, wie der gute Jüngling gewesen, der das Bildnis deiner seligen Großmutter gemacht hat. Der Herr war so gütig, bei uns einzukehren. Er wird mit uns speisen. Daß wir hier oben sehr arm sind, weiß er. Sieh zu, ihm vom Besten vorzusetzen, was wir haben. Sein Besuch ist eine große Ehre für uns, eine große Freude.«

Jetzt streifte ihn ihr Blick, flüchtig und feindselig. Schweigend ging sie hinaus.

»Ehrwürdiger Herr, sagen Sie mir –«

Er stockte, nahm sich zusammen, fuhr mit Anstrengung fort:

»Gestatten Sie mir eine Frage: Wie kommt Lavinia in Ihr Haus? Gerade in das Ihre?«

»Wie ich Ihnen schon sagte – Sie scheinen es überhört zu haben – ist sie meiner Schwester Tochter. Auch ihr Bruder lebt gegenwärtig bei mir. Beide leider nur über den Sommer.«

»Demnach ist dieses Alpendorf Ihre Heimat?«

»Es ist meine geliebte, herrliche Heimat!« »Und nur im Sommer befinden sich Bruder und Schwester bei Ihnen?«

»Sie sind Waisen. Ihr Vater starb in den lateinischen Sümpfen am Fieber, und ihre Mutter stürzte ab: in jenen Abgrund vor meinem Hause, als sie einer verirrten Ziege nachstieg. Also sehen wir ihr Grab jeden Tag zu unsern Füßen liegen. Ihre Kinder haben auf der Welt nur mich alten Mann zum Verwandten.«

»Nur über den Sommer befindet sich Lavinia bei Ihnen? Sagten Sie nicht so?«

»So sagte ich.«

»Und im Winter? Wo leben die Geschwister im Winter? Es muß hier oben furchtbar sein!«

»Es stürmt, als würde der Fels zersplittern und der ganze Ort in den Abgrund hinabgerissen. Der Schnee liegt hier oben so hoch, daß wir oft wochenlang darunter begraben sind, nicht anders, als lebten wir im Lande Ihrer Landsleute, unsrer Bundesgenossen. In dieser Zeit schleichen die Wölfe bis ins Dorf, und wir müssen nachts zum Schutz unsrer Schafe und Ziegen Wachen aufstellen. Aber schön ist es hier oben auch dann; furchtbar schön ist es bei uns im Winter, lieber Herr.«

Heinrich wiederholte seine Frage nach dem Winteraufenthalt der beiden und erhielt zur Antwort:

»In Rom, lieber Herr. Mein Neffe – er heißt nach dem großen Dichter, der im Sabinergebirge, bei Vicovaro, ein Landhaus besaß – mein Neffe, Orazio Petroni, ist Student an der Hochschule, und seine Schwester –«

»Was ist's mit der Schwester?«

Erst nach einer Weile wurde dem jungen Manne, der mit angehaltenem Atem – obgleich er die Antwort wußte – die Frage tat, geantwortet:

»Sehen Sie, lieber Herr, Sie sind Künstler. Daher werden Sie gewiß verstehen, was die Leute hier oben nicht verstehen; was auch Lavinias Bruder nicht versteht, der eine glühende Seele hat; die Seele eines Fanatikers, lieber Herr. Was kann ich armer alter Mann wohl tun? An sie glauben; glauben an ihre unberührte Jungfräulichkeit. Sie ist nämlich dasselbe, was ihre Mutter war und was ihre Großmutter gewesen: ein Modell. Ihr berühmter Landsmann, jener Herr Ludwig Richter, hat ihre Großmutter dazu gemacht, und sie, die gleichfalls Lavinia hieß, mit sich nach Rom genommen. Finden also auch Sie eine Schuld dabei, daß meine Nichte ein Modell ist, so ist es die Schuld Ihres Landsmanns. Sie müssen jedoch nicht etwa glauben, daß – . Eine heilige Barbara hat Ihr Landsmann nach jener andern Lavinia gemalt. Sogar für die Mutter unsres Herrn und Heilands hat sie Modell gestanden. Aber nur im Gewand ließ sie sich abkonterfeien; nur dicht verhüllt, lieber Herr. Ebenso die Mutter meiner Nichte, meine liebe Schwester. Ebenso diese Lavinia, meine liebe Nichte. Sie dürfen mir's glauben: auch sie ist rein, wie ihre Großmutter und ihre Mutter es waren, die beide hier oben in ihrem Heimatsort brave Männer bekamen. Meine Nichte dient in Rom mit ihrer großen Schönheit der Kunst. So ist es. Es ist eben stärker als sie. Nämlich, daß sie der Kunst dienen muß. Sie sind ein Künstler und werden es gewiß verstehen. Aber die Leute hier oben verstehen es nicht und sind daher auf meine arme Nichte übel zu sprechen, was mich unsäglich betrübt. Gerade deshalb nehme ich sie Sommers über zu mir: bin ich doch ein Diener des Herrn, vor dem ich mein Leben reinen Gewissens ausbreiten kann: Herr, hier bin ich! Mit der Kunst geht es mir gar seltsam. Ich bin ein einfältiger Mann und verstehe davon nichts. Mir ist's jedoch, als ob die Kunst etwas Heiliges sei. Jawohl, lieber Herr Künstler, etwas Heiliges. Also dient meiner Schwester Tochter etwas Heiligem ... Hier kommt sie, um uns zu sagen, daß sie für unsern Gast auftischte, was das Haus hergeben kann. Kommen Sie, lieber Gast aus dem Lande unsrer treuen Bundesgenossen!«

Das Mahl, welches das schöne Geschöpf bereitet hatte, wurde in dem wohnlichsten Raum des armseligen Hauses, der Küche, eingenommen und bestand aus einem Gericht in Öl gedämpfter Steinpilze, denen auf dem Rost gebratene Wildtauben folgten. Das Brot war grau und steinhart und mußte erst mit dem Hammer zerklopft werden, ehe es genießbar wurde. Voller Stolz brachte der Greis zu diesem Besten seines Hauses das Allerbeste: eine Flasche selbst angesetzten, mit allerlei aromatischen Kräutern gewürzten Wermuts. Mit seinen armen alten, zitternden Händen schenkte er ein und ließ den Gast und dessen Vaterland leben, für welche echt italienische Gentilezza der Deutsche mit einem Evviva auf seinen gütigen geistlichen Wirt und Italien dankte, auf das von den Deutschen geliebte Bundesland.

Der Tisch war für drei Personen gedeckt; aber der dritte Platz blieb leer. Nicht Lavinia nahm ihn ein. Also mußte der dritte Stuhl für den Studenten bestimmt sein, der ein Fanatiker war, eine glühende Seele hatte und den das Modellstehen seiner Schwester, trotz sicher reichen Verdienstes, mit Empörung erfüllte. Es war jedoch stärker »als sie« ....

Das Gläschen Wermut machte den Greis gesprächig. Er schilderte das Leben seiner Gemeinde in der Felsenwüste; schilderte ohne Klage das trostlose Dasein dieser Menschen und sein eigenes. Es war nun einmal so! Von jeher war es so gewesen: schon vor Jahrtausenden, da der Fels noch eine Siedelung der Ureinwohner trug, von gewaltigen Steinblöcken ummauert. Und so, wie es damals gewesen, würde es hier oben immer sein; noch nach Jahrhunderten! In der Welt, tief dort unten, war alles anders geworden. Dort gab es Eisenbahnen, Telegraphen und viele andre Wunderdinge, die den Leuten von Bellegra als Zauberei erschienen. Man konnte mittels eines Drahtes die Stimme eines Menschen aus weiter Ferne vernehmen; konnte in einem verdunkelten Saale Bilder sehen, die sich bewegten, die lebten; konnte eine große Trompete Musik machen und singen hören; konnte Funken als Worte über Länder und Ozeane sprühen lassen; konnte die Meerestiefen durchschiffen wie ein Fisch und wie ein Vogel die Lüfte durchfliegen, sogar über Bellegras hohe Felsengebirge hinüber bis zu den Wolken empor. Von derartigen erstaunlichen Dingen berichteten bei ihrer Heimkehr die Männer, die zur Arbeit in die Ebene hinabgestiegen oder in Rom und Neapel gewesen waren.

Hatten die Kinder in Bellegra Schule und Lehrer? Nein. Wer lesen und schreiben lernen wollte, mußte nach Olevano zur Schule hinunter. Aber die Leute von Bellegra wollten nicht lesen und schreiben lernen. Wozu sollten sie? Um in einem frommen Buche oder einem der geliebten Traumdeuter sich auszukennen? Die Gebete, die sie mechanisch in der Kirche hersagten, kannten sie auswendig von Mutter und Ahne her, und das Deuten ihrer Träume besorgten die alten Weiber. Die Träume von jung und alt handelten einzig und allein von einer Sache: vom Lottospiel. Lediglich davon! Daß der Himmel und die lieben Heiligen die Leute von Bellegra träumen ließen, und daß die gute Regierung ihnen das Lottospiel schenkte, war für sie ein großes Glück, ihr größtes. Außer ihren Träumen besaßen sie noch ein drittes Herrliches: die Kirche. War auch ihr Gotteshaus, wie das sämtlicher sabinischer Bergdörfer, armselig genug, so war es doch immerhin, mit ihren Höhlen verglichen, ein wahrer Palast. In ihrer Kirche gab es etwas Glänzendes, eine mit dürftigem Flitter behangene Madonna, bunte Heiligenbilder, Weihwasser und Weihrauch. Und dann die Zeremonien des katholischen Kultus! In ihrem Gotteshause konnten sie sich nach Herzenslust bekreuzigen, verbeugen und niederknieen; konnten sie geheimnisvolle Worte murmeln und auf ebensolche rätselhafte Worte aus dem Munde des Priesters lauschen. Sie konnten die Messe anhören und Beichte ablegen; konnten die heilige Kommunion empfangen, den Leib des gekreuzigten Gottessohns in Gestalt einer Hostie; konnten ihren ehrwürdigen geistlichen Herrn für sie alle, die großen Sünder, das Blut des Heilands trinken sehen Auch Prozessionen hatten die Leute von Bellegra, feierliche Umzüge mit Kirchenfahnen, Heiligtümern und einem verblichenen seidenen Baldachin, darunter der geistliche Herr mit dem Sanktissimum einherschritt. An solchen großen Festtagen waren die Gassen vom Schmutz gereinigt, waren Myrtenzweige gestreut, Gewinde von Ginster und Lorbeer von Hütte zu Hütte gezogen. Doch das herrlichste war, wenn an solchen Tagen die Böller krachten, die Feuerkörper knatterten und zu Ehren der süßen Gottesmutter und der lieben Heiligen ein Höllenlärm gemacht wurde. An solchen wundervollen Tagen gab es als Festspeise eine Schüssel Makkaroni – man denke! So war denn auch das Leben der Leute von Bellegra schön ...

Nach dem Essen brachte Lavinia als Nachtisch in der Sonne gedörrte Feigen und mit ihr kam für den deutschen Gast aller Glanz Italiens in den düsteren Raum.

Nachdem sie die Schüssel niedergesetzt, wendete sich das schöne Mädchen sofort wieder zum Gehen. Der leidenschaftlich Verliebte versuchte sie zurückzuhalten. Er bat seinen Wirt:

»Ehrwürdiger Herr, lassen Sie Ihre Nichte sich zu uns setzen. Hier ist noch ein dritter Platz.«

»Er ist für Orazio bestimmt. Da er jedoch nicht zu kommen scheint –«

»Ich will sehen, wo er bleibt.«

Diese Lavinia, die ein Modell war, hatte einen fast hochmütigen Stolz. Heinrich mußte sie mit einer Frau aus dem deutschen Volk vergleichen: wie wohl diese die gleichgültigen Worte gesagt hatte? Zugleich gestand er sich in diesem Augenblick, daß auch er dem Zauber, den Italiens Volk auf den Germanen ausübte, rettungslos verfallen sei. Eine andere monumentale Allegorie von Deutschland und Italien, als er sie in seiner Phantasie trug, hätte er schaffen können: Deutschland als Odysseus, an den Mast eines Schiffes gebunden und auf der Klippe über dem Meere die Sirene Italien. Darunter müßte in goldenen Lettern eingegraben stehen:

»Deutschland, hüte dich!«

Sie befand sich bereits unter der Tür, als er ihr hastig nachrief:

»Gib mir ein Glas Wasser!«

»Ihr habt Wein.«

»Ich bitte dich um einen Trunk Wasser!«

Sie sah ihn aus großen Augen an, füllte ein Glas aus der kupfernen Amphora, die neben dem Herde stand, und reichte es dem Durstigen. Trinkend schaute er ihr tief in die Augen. In seinem Blick lag eine leidenschaftliche Bitte, ein heißes Flehen; lag das Geständnis seiner Liebe.

Als er das Glas zurückgab, sagte er, seinen Blick in den ihren senkend:

»Ihr habt hier oben köstliches Wasser. Entspringt die Quelle auf eurem Berge?«

»Nein, Herr.«

»Wo ist euer Brunnen?«

»Tief unten.«

»Steigst du dort hinab?«

»Ich hole das Wasser.«

»Jeden Morgen steigst du hinab?«

»Jeden Abend.«

»Spät abends?«

»Das Wasser bleibt um so kühler, je später es geschöpft wird.«

Auch sie sah ihn jetzt unverwandt an. Aus ihrem Blick leuchtete der nämliche feindselige Trotz, mit dem sie ihn angesehen, als er sie im Morgengrauen auf dem Monte Autore vor der Kapelle der heiligen Dreieinigkeit angesprochen hatte. Es war, als wollte sie den Gegner auf seinen Widerstand hin prüfen? Dann ging sie. Sofort erschien dem Verliebten der Raum öde und trüb. Im nämlichen Augenblick trat ihr Bruder ins Zimmer und wurde ihm von dem geistlichen Herrn vorgestellt:

»Meiner Schwester Sohn, Orazio Petroni.«


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