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Professor Müller begab sich also mit den Seinen nach Olevano ins Sabinergebirge, seinem fünfzigjährigen Sommersitz. Er hätte zum großen Teil die Bahn benützen können, entweder bis Valmontone oder bis Subiaco. Aber mit der Eisenbahn nach Olevano – der alte Herr hätte sich dessen geschämt! Entehrend wäre es gewesen für einen Künstler, der zu den Beglückten gehörte, welche einstmals gleich Winckelmann und Goethe mit dem Vetturin durch die Porta del Popolo, dieser heiligen Pforte der Pilger von Norden her, in Rom eingezogen waren. Schon während seines ersten römischen Sommers war Rudolf Müller zu Fuß nach der schönen felsumschlossenen Sabinerstadt gewandert, eine Wallfahrt, von deren Weihe die junge Generation keine Ahnung besaß. Jetzt war der damals Junge ein Greis; also war es mit dem fröhlichen Wandern vorbei. Zum Glück gab es selbst in dem modernen Rom – allen Göttern Roms und Griechenlands sei Roms Metamorphose in eine neuzeitliche Großstadt geklagt! – zum Glück für dergleichen sonderbare Schwärmer gab es in der barbarisch modernisierten Kapitale des geeinigten Italien noch Landkutschen. Von einem gewissen Platz aus unter dem Kapitolinischen Felsen fuhren diese ehrwürdigen Vehikel an bestimmten Tagen der Woche aus Roms Toren nach allen Richtungen durch die Campagna bis zu den fernen Gebirgen, Volk der Campagna und der Berge als geduldige Fahrgäste, das nämliche Volk, welches seit Jahrtausenden das von Göttern und Menschen geliebte Land bewohnte, mit den nämlichen Anschauungen und Sitten, der nämlichen Lebensweise seiner Vorväter. Das aber, gerade das war es, was der deutsche Künstler leidenschaftlich liebte: unverfälschtes, urwüchsiges Volk der römischen Wildnis und Felsenberge, Dieses Volk kannte der alte Germane, und dieses Volk liebte er. Auch war es dieses Volk, das dem deutschesten aller Namen: »Müller« in der Sabinerstadt ein wohllautendes »o« anhängte, durch welchen kleinen kugelrunden Buchstaben der durch seine allzu große Häufigkeit so banale Name in den so viel klangvolleren »Muellero« verwandelt und gewissermaßen geadelt ward. Auch konnte die italienische Zunge, die noch heutigentags in der erhabenen Sprache Petrarcas, Dantes und Ariosts redete, den »Muellero« wenigstens aussprechen.
Durch das sommerliche Rom rollte die Familie in aller Frühe der Stelle zu, wo die nach Olevano über Palestrina und Genazzano fahrende Landkutsche ihrer wartete. Im Vorüberfahren grüßte der Meister auf dem Spanischen Platz das antike Brunnenschiff und die schönste Treppe der Welt, auf deren untersten Stufen bereits Wälle von Nelken und Rosen sich türmten. Er grüßte in Via Condotti – auch sie sollte die Schmach einer »Elektrischen« erfahren – Café Greco, die Stätte geweihter Erinnerungen jener Deutschen, die noch das alte, das wahre Rom gekannt hatten; und im Korso ärgerte er sich über die Zeitungsverkäufer, die mit barbarischen Stimmen einen Sieg Italiens über Tripolitanien ausschrieen, einen Sieg in dem schmählichen Kriege eines Bundesgenossen Deutschlands, dieses unverbrüchlich Getreuen. Und der alte Künstler ärgerte sich auf dem Venezianischen Platz über das Denkmal Viktor Emanuels, welches dieses Herrschers ebenso unwürdig war wie Italiens Angriff auf ein wehrloses Volk von Halbwilden. Auch heute schämte sich der Greis in seine ehrliche Künstlerseele hinein über die berghohe Anhäufung antiken Marmors, schlechter Vergoldung und gemeinen Stucks, ein Monument künstlerischer Unkultur wie er kein zweites kannte. Aber dann das Kapitol! Das Kapital mit der Treppe und der Kirche von Aracoeli, der Bildsäule Mark Aurels, Michelangelos Konservatorenpalast und – der deutschen Botschaft! Bald darauf kam Piazza Montanara mit ihrem Volksgewühl inmitten eines Rom, das immer noch ein Stück des alten Rom war. Wenigstens ein Stück!
Seelenvergnügt, wie es nur ein Deutschrömer, nur ein alter Künstler mit jungem Herzen in seinem geliebten Italien sein kann, saß Sor Rodolfo auf dem steinharten Hochsitz der urväterlichen Landkutsche, eingeklemmt zwischen dem bäurischen Vetturin und einem geistlichen Herrn, der in Rom seinem Bischof aufgewartet hatte und nun in sein sabinisches Bergnest zurückkehrte. Des Professors Gepäck lag wohlverstaut auf dem Verdeck des mehr als ehrwürdigen Fahrzeugs, zusammen mit einem Hügel von Körben, Schachteln und allerlei geheimnisvoll Verschnürtem; des Professors weibliche Begleitung war in dem wegen des Staubes fest verschlossenen Innern des Wagens untergebracht nebst mehreren andern Mitgliedern des schönen Geschlechts. Es waren Frauen von dem doppelten Umfang der gewiß nicht gerade zierlichen Tante Minchen; Frauen mit üppigem Busen, von ihrem »busto« wie von einem Panzer umschlossen. Sie trugen Lasten spitzenbesetzter weißer Tücher auf dem Haupt und dicke Korallenketten um den bronzefarbenen Hals oder sie waren mit Goldschmuck beladen, jedes Stück monumental, dazu tief niederhängende goldene Ringe als Ohrgeschmeide. Diese Urechten spreizten ihr stattliches Beinwerk weit auseinander, hielten umfangreiche Körbe voller Eßwaren fest umklammert auf dem Schoß, schwatzten mit kreischender Stimme das Blaue von Roms Sommerhimmel herab, erwiesen jedoch den beiden sogleich als Deutsche erkannten Fremdlingen alle Höflichkeit, was Fräulein Mina Müller, trotz schwerbedrückten Gemütszustandes – sie gedachte eines längst vergangenen Sommertags auf der Rudelsburg bei Kösen – huldreichst anerkannte.
Vorbei ging es am Forum und Palatin; vorbei am Konstantinsbogen und Kolosseum; vorbei an Obelisk, Palast und Kirche des Laterans zur Porta Maggiore. Alsdann auf der alten Via Labicana hinaus in die Campagna, hinein in die Sommerpracht der römischen Landschaft, wo aus den versumpften Bachläufen und um die braunroten Ruinen der Wasserleitungen grünblaues Röhricht, hoch wie Bambus, aufschoß; wo Rosen meilenlange Hecken bildeten, großblumiger Mohn die Felder mit Scharlach überzog und Lerchenchöre himmelan stiegen in einem Jubel, als wollten sie den Preis von Roms Herrlichkeit emportragen zur Gottheit.
Mit echt deutscher Ergriffenheit hatte der Professor diese Natur als Jüngling empfunden und genau ebenso tief empfand er sie an diesem leuchtenden Sommertag als Greis. Gleich ihm erging es Tausenden seiner Landsleute, denen gütige Götter Auge und Herz für dieses gelobte Land deutscher Sehnsucht geöffnet. Außer seinem sehr späten und sehr kurzen Eheglück, seiner ihm in reichlichem Maße zuteil gewordenen Anerkennung als tüchtiger Künstler, erachtete er als sein höchstes Glück, daß ihn das Schicksal schon in jungen Jahren nach Rom geführt hatte und ihm gegeben worden war, in Umrissen und Farben zu sagen, was er so leidenschaftlich liebte, so überschwenglich empfand. Sein heißer Wunsch war, alt, recht alt zu werden; nur deswegen recht alt, um in Landschaften und Figuren recht lange sein Italien verherrlichen zu können. Hätte ihm seine Frau einen Sohn geboren, so würde er dem Knaben für sein Leben nichts Höheres haben mitgeben können, als die glühende Liebe zu Italien. Aber auch seine Tochter war darin seines Geistes Kind; nur schmerzte ihn, daß ihm noch immer kein lieber Schwiegersohn eine Schar blühender Enkel in sein sonst so gesegnetes Haus gebracht hatte, gesegnet auch durch irdische Güter. Denn ein »Rudolf Müller« wurde selbst in dieser Zeit neuer und neuester Kunst von vermöglichen Romschwärmern teuer bezahlt. Allerdings nur von solchen ...
Der Tag begann heiß zu werden, ein römischer Sommertag in seiner ganzen prangenden Herrlichkeit. Das schwerfällige Fuhrwerk, von vier mit klingenden Schellen behangenen Rossen gezogen, wirbelte auf der weißen Landstraße Staub in solchen Mengen auf, daß der Professor auf seinem Hochsitz wie ein auf die Erde herabgestiegener Jupiter thronte, um dessen olympisches Haupt sich noch immer Wolkendunst sammelte. Wie durch silberne Schleier sah er die Landschaft, die scharlachfarbenen Mohnfelder, die Hecken wilder Rosen, die Bollwerke ultramarinblauer Winden und bunten Geißblattes; sah er die rotbraunen Ruinen antiker Villen und mittelalterlicher Wachttürme; sah er die Sabiner- und Albanerberge. Und er sah im Westen die ferne Meeresküste mit den schwärzlichen Wildnissen der Buschwälder.
Nachdem das Gefährt Roms Mauerring hinter sich gelassen, leuchtete dem Reisenden schon von weitem unter einem umwaldeten Felsgipfel ein schloßähnliches Gebäude entgegen. Der Berg trug einstmals die Burg von Tusculum, und das leuchtende Haus war die Villa Falconieri. Frei und stolz erhob sich der königliche Bau über den Ölwäldern und Rebenhügeln der schönsten aller Städte des alten Latium: über Frascati. Der weithin schimmernde Palast wurde von dem alten Germanen mit Begeisterung begrüßt, war er doch inmitten des römischen Berglandes ein Stück Deutschland, Eigentum des Deutschen Kaisers, zugleich ein Asyl deutscher Kunst und Gelehrsamkeit, also eine Weihestätte, von guten Menschen bewohnt. Denn für den Professor war es undenkbar, daß Kunst und Wissenschaft dem Menschen nicht den geistigen Adel verleihen sollten, wobei er jedoch nicht an sich selbst dachte, der er sich des Namens eines »Künstlers« für unwert erachtete, für solche hehre Himmlische hielt der Greis die Göttin, der er in Demut diente, als einer der Letzten und Geringsten ...
Schnell machte er mit seinen beiden Nebenmännern, dem Vetturin und dem geistlichen Herrn, Bekanntschaft, zu seinem geheimen Kummer auch von diesen beiden sogleich als Deutscher erkannt. Schuld daran konnte lediglich sein etwas mangelhaftes »R« sein, welches der Italiener so virtuos herunterschnarrt. Und wie hatte der Professor wegen dieses für die italienische Aussprache so wichtigen Buchstabens sich abgequält! Eigens zur Übung des »R« hatte er sich höchst kunstvoll einen Satz zusammengestellt und jeden Morgen und Abend als Lautgymnastik getrieben, dabei die Zunge genau in vorschriftsmäßiger Lage haltend. Die Sprachübung lautete: »Questo Nerone era un gran Imperator romano.« Aber selbst solche zungenbrecherische Lektion hatte nicht geholfen, den Italienern den unverfälschten Germanen zu verbergen.
Die Unterhaltung der drei: des Deutschen, des Priesters und des ländlichen Rosselenkers, drehte sich ausschließlich um Italiens gegenwärtigen Krieg an der afrikanischen Küste. Als treuer Bundesgenosse der beutelustigen Halbinsel verschwieg Rudolf Müller seine Meinung über ein Abenteuer, für welches die beiden Römer nicht die leiseste patriotische Begeisterung hegten, den Krieg lediglich vom Standpunkt des praktischen Interesses betrachtend. Ihr Vaterland bedurfte in Gottes Namen einer neuen Eroberung, ganz gleich durch welche Mittel. Sogar der Vetturin fand für seine Anschauungen Worte höchsten Pathos, eine Sprache im Munde des gewöhnlichen Mannes, die des Professors schweigende Entrüstung in offenkundiges Entzücken verwandelte. Es war eben ein Volk, dessen geringste Söhne sich einer geradezu berauschenden Sprache befleißigten. Was Wunder, wenn diese begnadete Nation sich in eine Ekstase schwatzte, in der sie heilig glaubte, was sie so hinreißend auszudrücken verstand!
Und wie stolz dieses Volk auf sein Vaterland war! Die Straße führte durch ein Gelände, darin jeder Fußbreit klassisches Gebiet war, jeder Stein Weltgeschichte predigte. Der geistliche Herr war ein armer Landpfarrer in schmieriger Sutane, für den ein Gericht mit schlechtem Öl angemachter Makkaroni als Festessen galt. Aber wie kannte der Mann seine Campagna! Daß er einen Archäologen hätte beschämen können! Der Vetturin konnte weder lesen noch schreiben. Aber als er an dem hochgelegenen Colonna vorbeifuhr, erzählte er seinem deutschen Fahrgast von dem großen Geschlecht, dessen Wiege jener Ort war, und er zeigte ihm die Stätte von Gabii, wo Romulus und Remus, der Legende nach, ihre gymnastische Ausbildung genossen hatten: »Hanno fatto i loro studii!« Und gar als auf braunem Bergrücken über silbernen Olivenwaldungen Palestrina aufstieg. Da erfuhr der Deutsche aus dem Munde des Priesters die Geschichte des einst hochherrlichen Präneste mit dem gewaltigen Tempelbezirk der goldenen Fortuna, als hielte ihm ein Historiker darüber Vortrag, und der Rosselenker berichtete leuchtenden Auges von den Kämpfen der mittelalterlichen Barone jener berühmten Stadt, als hätte der Analphabet Ferdinand Gregorovius studiert.
Es war eben ein Volk, bis ins Innerste durchdrungen von dem Bewußtsein, noch immer überall dort zu herrschen, wo es einstmals vor Jahrtausenden geherrscht hatte.
Also über den halben Erdkreis!