Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer
Friedrich Theodor Vischer

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Immer mit einer wahren logischen Beunruhigung lese ich die Urteile der Römer und Griechen über das Christentum in seinen Anfängen. Es hat der Welt eine neue Seele eingesetzt. Es ist Religion der Herzlichkeit. Der Stifter war ein Mensch freien, wohlwollenden, lichthellen Gemüts, will uns sanft, liebevoll, verzeihend, gut. Das hatte keine der Naturreligionen, es war ganz neu; was Plato, was Stoiker, was jüdische Sekten lehrten, ist in manchem verwandt, hat vorbereitet, aber dieser Einheitspunkt, dies vertiefte Herz war das grundeigne Geheimnis des Mannes Jesus, von dem wir so wenig Geschichtliches wissen; Bergpredigt – himmlischen Geistes voll. Dazu ist gekommen oder daraus hat sich entwickelt die richtende Einkehr des Menschen in sich selbst, wie keine frühere Religion sie hatte, Geist der sittlichen Selbstkritik, begreiflicherweise zuerst zu negativ, finster dualistische Verwerfung der Sinnlichkeit, doch auch so Grundlage für eine neue Ethik.

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Nun wurde dieser Kern hart am Ursprung schon getrübt, mit Mythologie umhängt. Der Stifter selbst schon glaubt Engel und Teufel, glaubt wiederzukommen als Königmessias und das himmlische Reich auf Erden zu gründen. Kaum tot, so vermehrt sich die Mythenglorie: Wunder, Auferstehung, Christus wird Gottessohn, sein Tod Opfertod nach alter, blutiger, ja grasser Opferidee, bald dann Maria Göttin. Müßte auch wunderbar zugegangen sein, wenn zu den jüdischen Wahnvorstellungen nicht die bekehrten Heiden zeitig die ihrigen zugebracht hätten: Göttersöhne, Frühlingsgötter, Osiris, Adonis, Mithras, Herkules, dann Urgöttinnen, Isis, Here, Venus, Astarte, Mylitta, Rhea, Kybele und wie sie heißen, – nachdem im Teufel schon der Ahriman eingewandert. Dort in Pompeji die ausgehängten Votivbilder im Tempel der Venus, kranke Arme, Beine, Hände, Nasen von Zinn, Silber, Ton, die sie heilen sollte, – sie ersetzen eine ganze religionsgeschichtliche Abhandlung über christliches Heidentum.

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Nun, wenn ich lese, wie die Römer und andre Polytheisten über das Christentum urteilten, so peinigt mich ein eignes Gefühl: ich muß mich vor ihnen schämen für jene frühen Christen, wie ich mich heute noch schämen muß, wenn Missionäre den Heiden unsre Märchen bringen und diese sagen, sie haben das auch und reichlicher. Durch die beigemischte Trübung wurde die neue Religion in die grundschiefe Lage der Konkurrenz mit dem Heidentum gesetzt. Mit Mythologie konnte das auch aufwarten, und mit einer volleren, schöneren. Es ist wahr, die christlichen Götter hatten einen neuen Seelenblick und hoben dadurch dem verborgenen Sinne nach ihre Jenseitigkeit in Immanenz, hoben also ihre eigne Personifikation wieder auf. Aber diese Innigkeit verstand kein Römer, kein Syrier, kein Lydier, kein Aegypter, kein Grieche, und wenn: es war niemand da, ihm den letzteren Sinn zu deuten.

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Dazu noch etwas gar Fatales. Die neue Liebeswelt, die neue Religion, aufgegangen in einem unterjochten Volk, wußte und wollte nichts von Staat, von öffentlichem Leben – heute noch ein für allemal ein ungeheurer Mangel des Christentums. Wollen wir Bürgerpflichten daraus ableiten: es muß auf mühsamem Umweg künstlicher Argumentationen geschehen. Man denke zum Beispiel: zur Vorschule des Mannes für sein politisches Pflichtleben gehört Gymnastik. Dem Griechen sagte das auch ohne Wort der Gott am Eingang der Palästra. Wie höchst verzwungen aber sind Versuche, vom Christentum auf so etwas als Pflicht zu deduzieren! – Die Alten haßten und verachteten die Christen darum am meisten, weil ihnen der Staat gleichgültig, ja Aergernis war. – Allerdings verwickelt sich das: den heidnischen Staat mußten die Christen freilich verabscheuen. Aber damit ist jene arge Lücke nicht hinwegdemonstriert. Das Christentum ist an sich eine apolitische Religion. Die Konsequenz haben wir heute noch: die Kirche leugnet den Staat und will den doch vorhandenen beherrschen. Da der Mensch ein handelndes Wesen und das Christentum diesem Wesentlichen seiner Natur abgewendet ist, so hat sich ergeben, daß es endlich zu einem System von Handlungen wurde, die gegen das System des vernünftigen Handelns, den Staat, gerichtet sind.

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Wie ist es nun mit der mythologischen Trübung? – Ich nenne sie, diese Bilderwelt der Religion, kurzweg Pigment. – Dies führt auf eine Betrachtung, die bei der reinen, verzweifelten Ratlosigkeit anlangt. Die Sache liegt schlechthin amphibolisch, antinomisch.

Für –: Ohne Pigment keine Religion – denn Religion muß ja doch eine Gefühlsgemeinschaft sehr vieler und ein Kultus sein. Es kann keine farblose Volksreligion geben. Die Andacht muß etwas zum Anreden haben, also vorgestellte übersinnliche Person, Personen und, zum Anschauen, Ansingen, auch Tatsachen. Woher sollte die Kirchenmusik – und Musik ist doch das Unentbehrlichste zum Kultus – ihren Text nehmen? – Das weiter zu demonstrieren, wäre vom Ueberfluß. Kurz, »Stützen«, wie es Lessing nennt.

Gegen –: Diese Stützen sind ebensosehr Spieße ins Mark der Religion. Der tiefstliegende Schaden ist: sie dienen als Surrogate fürs Wesen; die Menschen, wie sie einmal in Mehrheit sind, meinen, sie dürfen sich dafür, daß sie an das Pigment glauben, die Religion ersparen. Da haben wir nun den »Glauben«, der = Religion gilt. Millionen Seelen, die nie von einer Ahnung des Unendlichen, nie von einem Gefühl der erhebenden Tragödie des Lebens durchhaucht worden sind, gelten nun sich und der Welt als religiös, weil sie glauben. Diese schnöde Verwechslung hat sich als allgemeines Vorurteil fixiert, mit Macht bekleidet, hat gefoltert, verbrannt, gekreuzigt, gepfählt, lebendig geschunden, Gedärme aus dem Leib gehaspelt, geblendet, verstümmelt, lebendig begraben, erdolcht, gespießt, vergiftet, – es gibt keine so wildviehische und keine so teuflisch durchdachte Grausamkeit, die nicht die gläubige Verfolgungswut mit technischer Vollendung ausgeübt hätte. Bekreuzt euch nicht davor, stillgläubige Seelen! Das folgt haarscharf aus der Verwechslung des Pigments mit dem Wesen! Bekreuzt euch nicht, gebildete Konsistorien! Ihr verbrennt, kreuzigt, pfählt nicht mehr, aber nun haben wir der Unzähligen noch nicht gedacht, denen ihr moralisch das Herz gebrochen, das Gewissen mißhandelt habt, indem ihr sie in die Wahl stießet: gläubiges Bekenntnis gegen die eigne bessere Ueberzeugung oder mit Weib und Kind zum Bettelstab greifen! Und du, zahmer Vermittler, sage nur ja nicht, der tote Glaube tauge freilich nichts, der Auferstandene müsse Leben in uns werden, und wie du es sonst schön ausdrücken magst. Nein! nein! Glauben und Religion sind zweierlei, und jener hat dieser von je mehr geschadet als genützt. Was, »den Glauben beleben«? Nichts da, fort mit dem Glauben, und die Religion kann leben!

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Ihr lobt euern Schiller, ihr kennt sein Distichon:

»Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
Die du mir nennst. Und warum keine? Aus Religion.«

Aber ihr lest es im gewohnten Dusel und seid zu denkfaul, zu begreifen, was es besagt, was daraus folgt.

*

Also der helle Widerspruch von Für und Gegen. Und also, wer weiß nun Rat? – Es scheint da eine Auskunft. Die wohlbekannte: symbolisch nehmen! Man muß wirklich sagen: es ist dies die Auskunft aller edleren Geister von humanistischer Bildung, und ihre Gemütslage ist darin nicht so einfach, als es scheint, es ist da ein sehr interessantes Helldunkel. Wir sind der christlichen Bilderwelt entwachsen, und sie ist uns zum freien ästhetischen Schein geworden, wie die alte Mythologie. Doch nein, wir, auch wir stehen nicht gleich zu beiden. An jene knüpft sich für uns eine Rührung, die einen Anklang an Glauben hat, ohne eigentlich Glauben zu sein, – innige Reminiszenz unsrer Kinderzeit. Faust am Osterfest, – Weihnachtsrührung, – und am stärksten: Versetzung in die Schönheit des Madonnenideals, der heidnischen Göttin, deren Bild das durchweichte und entzückte Herz des Mittelalters mit der Ahnung aller Unschuld und sittlichen Güte echter Weiblichkeit durchläutert hat.

*

Die Sprache selbst könnte ohne den religiösen Glaubensapparat des Christentums rein nicht mehr auskommen. Könnte die Liebe und könnten die Dichter die Engel entbehren? Und wo bliebe Goethes Faust ohne den Teufel und seine Gesellen? Und wo meine treffliche Mythologie?

*

Aber das hilft eben auch nichts, damit ist natürlich auch nicht auszukommen. Es handelt sich ja um die Masse, um das Volk, das sich auf Symbolik ein für allemal nicht versteht. Und da stecken wir nun in einer noch ganz andern, erst in der eigentlichen, verzweifelten Amphibolie –:

Ein Satz: Die Masse braucht in alle Ewigkeit ein geglaubtes Bilderbuch. Wieviel immer das Pigment schaden mag, es ist doch auch Stütze. – Religion fort: auch Moral fort. Gefärbte Religion doch besser als keine.

Andrer Satz: Ein sehr großer Teil des Volks ist allerdings aus der Bilderwelt herausgewachsen, das nimmt nun aber zu in geflügelter Progression; noch ist es nicht die Mehrheit, aber bald wird sie in die Strömung gezogen sein. Wer nur irgend sich etwas umsieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer von Physik und Geschichte auch nur einigen Lichtstrahl empfängt, ist rein fertig mit allem, was übersinnliche Figur, was Regierung des Universums von außen, was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment. Sie zurückführen in den Glauben daran, ist unmöglich; wer seinen Widerstreit mit Natur und Denkgesetz erkannt hat, kann nie und nimmer in ihn zurück. Nun sind aber alle diese hilflos ins Leere geworfen. Die gefärbte Religion sind sie los, zur reinen reicht es bei ihnen nicht, und wenn es reichte, wer reicht sie ihnen? Niemand. Unsre Priester bieten nimmermehr Religion ohne Pigment, und man muß auf Grund des ersten Satzes zugeben: es wäre nicht möglich. Eigentlich ist auch die reine Religion allerdings nicht farblos. Zur Farbe hat sie nichts Geringeres als die Weltgeschichte, die mythenlos wahre. Das aber ist von viel zu langer Hand, mit dieser ungeheuren Palette kann der religiöse Volkserzieher nicht malen, da braucht es einen idealen Auszug, nämlich eben die Mythen. Und so fallen denn die Armen ins Leere, die über das mythisch illustrierte Christentum hinaus sind. Es liegt in der Tat so traurig, daß man jammern möchte. Die alte Ehrfurcht sind sie los, für eine neue können sie die Begründung nicht finden. Moral ruht schlechterdings auf Religion, und da sie mit der bunten Religion die reine wegwerfen, so werden sie Lumpenhunde, lassen sich in den Wirbel der Hetzjagd reißen, die jetzt los ist, der Hetzjagd nach dem Glück, das keines ist. Ihnen sagt niemand, zeigt niemand einfach aus dem inneren Wesen der Seele und aus dem Verhältnis der Einzelseele zur Seele der Menschheit, daß und warum es keinem Menschen wohl wird, außer im Guten. Sagt man es ihnen je, so hängt man doch den Märchenkram wieder daran, den sie nicht mehr ertragen, und so laufen sie weg.

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Weiß der Himmel, wie sehr ich selbst mich oft sehne, mir von einem guten Redner die ermattende Seele aufrichten zu lassen, aber da schenkt uns ja keiner den Farbenzusatz, von dem wir nichts mehr wollen, der unserm erhellten Auge widersteht.

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Wenn die allgemeine Zuchtlosigkeit zunimmt, wenn sie zu Verbrechen auf Verbrechen führt, wird der Staat meinen, die bestehende Religion mit Zwangsmitteln aufrechtzuhalten, wiederherstellen zu müssen. Vergeblich! Eine in der Auflösung begriffene Religionsform läßt sich nicht halten; man pflanzt nur Heuchelei. Drakonische Strenge gegen faktische Unterwühlung der Gesellschaft wird gut tun, aber eine Reaktion im kirchlichen Geist würde den Staat nicht stützen, nur noch mehr untergraben; er würde sich nur die Rute der Pfaffengewalt noch lästiger auf den Rücken binden, und wollte er nachher wieder einlenken, lockern, so würde ein Ravaillac nicht ausbleiben.

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Oft in dieser Not meines Herzens um die hilflose Menschheit denke ich: ehe Luther kam, ahnte auch kein Mensch, daß ein solcher Reformator erscheinen werde. Niemand von allen, die in das Elend ein Einsehen hatten, wußte Rat. In solcher Stunde ist es doch schon mehr als einmal geschehen, daß der rettende Genius geboren wurde. Das ist nun freilich pure Hoffnung, ganz blind, ohne jeden Begriff; denn alle Begriffe führen ja eben ins Ratlose. Luther ließ einen guten Teil des Pigments stehen, dessen bedurfte ja die Mehrheit, und wenn jetzt die Mehrheit dem entwächst, so ist sie doch nicht die Allheit, ein Rest Bedürftiger bleibt in alle Zeit. Wie sollte nun ein neuer Luther etwas schaffen können für beide: für die, welche der Kinderkost bedürfen, und für die andern, die sie nicht mehr verdauen? – Oder bildet sich vielleicht eine Gemeinschaft für die reine Religion, die sich allmählich ausdehnt? Nichts, nichts, da ist ja kein Kultus möglich!

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Allerdings ist es eben auch so eine Sache mit den Lokalen für den Kultus. Gebildete Persönlichkeiten pflegen sich da zu verkälten. In bitterem Ernste: kommt uns je ein Retter aus obiger Not, so denke ich mir gern, er werde zuerst als Erfinder auftreten, der eine urwohltätige Grundlage für die Stimmung herstellt: Luft in geschlossenem Raum und doch kein Zug! Wer diese Aufgabe löst, wird einer der größten Wohltäter der Menschheit sein. Ist dies erst entdeckt, so werden die Menschen milder, launenloser, klarer, gemütsfreier, sie werden besser, sie werden edler werden. Ja, damit wird der erhoffte Reformator beginnen, auf diesem Grunde wird er aufbauen!

*

Bin wahrlich kein Freund vom Allegorisieren, aber wem soll's nicht einfallen: ja, Schwüle oder Zugluft oder beides beisammen: so lebt die Menschheit. Wär' ich ein Egoist, mir könnt's ja eins sein. Warum muß ich dies Sensorium haben, daß mich ihr Los so bekümmert, mich nicht schlafen läßt? Die breiige Föhnluft ihres dumpfen Vorstellungslebens versetzt mir den Atem, und wenn sie die Fenster aufreißt und die tollen Windstöße verkehrten, abstrakten, fanatischen Ideenzugs hereinläßt, so bestürzt mich für sie die pneumatische Grippe. O Elend! O Leiden des Mitleids, das nicht raten, nicht helfen kann! Ich habe Stunden, wo ich die träge Seele beneide, die ihr Stück Käs in Ruhe verzehrt. Bis unter die Nägel brennt mich's, bis in die Zehen durchzuckt mich's. Dann veracht' ich mich wieder, daß ich, ich mit den dunkeln Flecken auf meinem Leben, ich vor mir poche, gar ein Jesus patibilis zu sein! Ach, es ist Zeit, daß ein Ende werde! Nehmt mich, wiegt mich, lüftet mir die Brust, singet den Schlaflosen in Schlaf, gute Geister, wo ihr schweben mögt, in Lüften oder im Meeresschoß! »Macht's gnädig, führt mich noch in eine Reinheit, eine Klarheit und laßt in Ehren mich enden.« – Gute Geister! Einen weiß ich. Zu ihm seufze ich, rufe ich, wie der Hirsch schreit nach Wasserquellen.

*

Was? Was war das? Welcher Abgrund sendet mir das? – Bist du da – dies Bild? – Engel und Boten des Himmels, steht mir bei! – Unter den Lustwandelnden auf Corso Garibaldi. – Nur etwas kleiner und kein Metallhaar, sonst ganze Doppelgängerin – hat bemerkt, wie scheu ich sie ansehe, läßt einen mürrisch fragenden Blick über mich herlaufen. – Gesichter hier sind eine Bilderreihe zur Geschichte der Insel. Dort ein rein latinisches, adlernasiges, hier noch ein Rest griechischen Profils, jetzt tiefbraun arabischer Typus, jetzt glaubt man schwäbisches Gepräge aus Hohenstaufenzeit zu erkennen, mitunter glüht Afrika herüber: äthiopische Wulstlippen und Plattnase, Farbe fast schwarzbraun, dazwischen aber auf einmal normannisch: da und dort ein weiblicher Kopf blond, helläugig, selbst mit dem mattsamtenen Hautton nördlichen Klimas – trotz der Sonne Siziliens. Und nun da – hat einst ein Normanne, ein wilder Vikinger, Ururahns Bruder, hier mit einem Meerweib die Ururahne dieser Erscheinung gezeugt?

*

Der Traum dieser Nacht sei aufgezeichnet, schnell, bevor er sich verwischen kann! So gut ich's vermag nach so viel Grausen, Beben und Entzücken.

Ich wandle wieder auf dem Korso. Der Himmel wie neulich in Pästum. Die schwere Wolkenwand sinkt herab und schließt den Spalt, durch den man dort die Abendsonne im trüben Schirokkogelb leuchten sah. Nacht. Die Begegnenden sehen sich nicht mehr. Schwül und schwüler, endlich fast zum Ersticken. So muß es in und um Pompeji gewesen sein, als der alte Plinius den Atem aufgab. Jetzt langsam wächst eine Ziegelröte über den Himmel, geht in feuerrotes Glanzlicht über. Stille, todesbang. – Horch, welcher Ton? Man hört ein wehendes Blasen, etwas wie ein Fegen, es wird zu einem lauten und lauteren stürmischen Speien, jetzt knallen Donnerschläge dazwischen – jetzt wankt zuckend die Erde unter mir – ich schaue um und auf, der Monte Pelegrino hat sich in den Aetna verwandelt, offen ist die fürchterliche Esse, glutrot fährt die Lohe aus der Unterwelt empor, und rings am schrecklichen Geisterberge schlängeln sich Lavabäche zu Tal und verlöschen zischend im flammenden Gewässer des Hafens. Die Feuersäule aber, die zu oberst emporschießt, wölbt über sich hoch in Lüften eine rabenschwarze Wolke, aus der ein Regen von Asche, Steinen, Lavaklumpen niederprasselt rings über die bebende Menge, die dort fliehend auseinanderstäubt, hier in wilden Knäueln sich drängt und stößt oder Gebete heulend sich am Boden wälzt. Ich stehe schauernd, aber fest, und schaue in die brausende, sausende Lohe, still staunend, einsam unter den vielen, vielen Menschen. Da – was hebt sich aus dem Krater empor? Ein Drachengespann – es reißt hinter sich einen Wagen aus dem Schlund – er scheint leer – dann richtet sich ein Schatten in ihm auf – jetzt schwebt er wie auf sicherem Boden in ebener Linie durch die Lüfte – herwärts der Stadt, meinem Standort zu, – ist das nicht etwas wie eine weibliche Riesengestalt, was aus ihm emporragt? – – der Wagen senkt sich – schwebt sinkend näher und näher – deutlicher im schwefligen Glut- und Blutschein wird die Lenkerin des Drachenpaars – Augen wie Fackeln brennen aus ihrem Antlitz – ihre Locken sind von Gold, ringeln sich aber wie Schlangen, blaue Funken knistern aus ihren Spitzen – jetzt wankt mir der Mut, ich denke an Flucht, die Beine sind mir lahm, angewurzelt stehe ich, denn das ist ja – sie! sie! das Weib, das mir die Seele ver– der Wagen hält in Lüften – ein Blick – was für ein Blick! Ich kenne ihn! – trifft mich, streift dann über die Köpfe der Menge hin –; sie wirft stolz ihr Haupt auf und erhebt die Stimme, – es ist der Ton, mit dem sie einst jene Stellen des Olaflieds sang, woraus es hervorklang wie Mitleid und Hohn zugleich, – nur lauter jetzt, greller, ein Herrscherton – so mag einst Libussa ihre Schlachtbefehle gerufen haben – »Adoratemi! Sono la santa Rosalia!« Das Volk starrt sie an, dann rufen Stimmen: Auf die Knie! Seht ihr das Kreuz auf ihrer Stirn? – und alles sank auf die Knie. Ich sehe hin nach ihrer Stirne und erkenne mit Grausen – – »Betet nicht an! das ist kein Kreuz! schaut besser hin – eingeätztes Bild eines Dolches!« – Das entsetzliche Weib wendet den Blick wieder nach mir und herrscht mir jetzt griechische Worte zu: »Ανω την κεφαλην! Βλεπε ανω!« Ich schaue über ihr Gorgonenhaupt hinweg, hinauf nach dem speienden Krater. Da fliegt wie eine Rakete emporgetrieben ein schwarzer Körper zwischen den Flammengarben auf, hält dann im Schweben still, fängt an mit den Beinen zu gaukeln, zu zappeln, wie ein Hampelmann, tanzt baumelnd, sich überschlagend eine Weile in den Lüften, kugelt dann abwärts und herwärts, immer näher, bis er über meinem Haupte flattert, und beginnt nun mit kreischender Stimme zu stottern: »Gu– gu– guck mich an!« Ich lache, doch verzwungen und angstvoll, und rufe: »Du bist der Stotterer vom Theater S. Carlin in Neapel!« »Oho, oho,« stammelt es jetzt, »wie du– du– dumm! Ich bin ja der Pla– Pla– Plato! Kann auch pfei– pfeifen!« – Er pfiff, der schrille Ton ging in eine Schelmenmelodie über, und es war jetzt, als pfiffen zwei Stimmen, eine höhere und eine tiefere, und die tiefere schien aus einem großen Loch in der Brust zu kommen. – O, ich hatte mir's nur verhehlen wollen, – schon vorher hatte ich die nun verzerrten Züge, die halbgrauen, nun wild flatternden Locken erkannt, die mir einst so ehrwürdig erschienen. Eine Wut befiel mich mitten in der Versteinerung, im kalten Schauer, der mir vom Wirbel zur Fußsohle niederrieselte. »O, ein Gewehr, ein Gewehr,« brachte ich mit halb gebannter Stimme mühsam hervor, »wie einen Geier, wie einen Schuhu hole ich dich, Schandfetzen, aus der Luft herunter!« – »Da, nimm!« höre ich jetzt eine freundliche Stimme mir über die Schulter sagen, drehe mich um und in rotem Hemde steht ein Mann vor mir mit den bekannten Zügen Garibaldis und reicht mir ein Gewehr, doch war es auch wieder nicht Garibaldi, sondern der arme, treue Karl, der mir bei Krusau sterbend seine Büchse herbot; »da nimm, sie ist geladen und auch schon gespannt!« »O Dank, Dank, Dank!« Ich ergreife die Waffe, lege an, ziele, drücke – sie versagt! Nicht plötzlicher Donnerschlag, nicht Kanonenknall kann erschrecken, wie dies Ausbleiben eines Schalls, dieser Nichtschuß mich entsetzte.

Ich erwachte, fuhr auf, eiskalt rann es mir durch die Glieder, aber schnell wich die tödliche Kälte einer brennenden Fieberglut. Mir war, ich fühle mein Gehirn in seiner Höhle kochen. Mein linker Arm war noch ausgestreckt, als hielte er den Lauf des Geschosses, mein rechter gekrümmt und der Zeigefinger gebogen, als läge er noch am Drücker. Ein Krampf spannte mir alle Muskeln auf die Folter. Als ich klarer zu mir kam, war mein ganzes Wesen nur ein Sehnen, nur ein Seufzer nach Ruhe, Stille, Kühlung. In diesem Gefühle schlief ich wieder ein. Der Traum nahm sein Spiel wieder auf und knüpfte seinen Faden an den ersten Gang, lose, wie er zu tun pflegt. Ich fand mich unterwegs aus der Stadt. Ich will jetzt auf meinen lieben Berg hinauf, sagte ich mir, hinauf nach der Grotte der wahren Rosalia, da will ich Kühlung suchen. Ich wanderte und wanderte, zwischen Villen, zwischen Aloëhecken, Gartenmauern weiter und weiter, konnte den Weg nicht finden, den Berg nicht gewahr werden. Da sehe ich unter dem Blätterbusch einer blühenden, hochaufgeschossenen Aloë einen Zwerg sitzen, der mich sinnend, freundlich, mitleidig ansieht. »Könnten Sie mir nicht sagen, guter Herr Nano,« rede ich ihn an, »wo es auf den Monte Pelegrino geht?« – »Verehrter Herr Pilger, Exzellenza irren sich,« ist die Antwort, »der Berg ist jetzt umgekehrt im Meer drunten – wissen Sie nicht, der Aetna hat ihn weg- und umgedrückt – wenn Sie nur gefälligst –«

In dem Augenblick fühlte ich mich von Wasser umgeben und sinken. Ich sank tiefer und tiefer, nicht mit Bangen. sondern voll labenden Gefühles der Kühlung. Delphine huschten vorbei und sahen mich mit klugen Augen an, als wollten sie sagen: nicht wahr, hier ist es gut, hier sind keine feuerspeienden Drachen? Endlich fühlte ich Grund und der Zwerg stand wieder neben mir. »Hier,« sprach er, »hier ist die Grotte.« – »Das ist ja keine Grotte,« sagte ich, denn ich stand vor einem Hochaltar mit vergoldetem reichen Schnitzwerk, das über den geschlossenen Flügeln des Diptychon auf stieg. »Tut nichts,« flüsterte der Zwerg, den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen legend, indes er mit der rechten einen Schlüsselbund aufnahm, der an seinem Gürtel hing. Er suchte lange, während ich in gespannter Erwartung nach dem geschlossenen Schreine hinsah und mich vergeblich bemühte, zu erkennen, was die verwaschenen Heiligenbilder auf den Flügeln vorstellten. Jetzt zog er aus dem Stahlring einen silbernen Schlüssel, öffnete, schlug die Flügel auseinander und –

Hat sich der Himmel aufgetan? Vor mir wölbte sich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht Gemälde, sondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewissen Felshöhlen an jener Inselküste, es seien Spiriti darin, aber was leuchtet hier, welch Unbekanntes, Neues, welchen Wunderkern umschließen diese blauerglänzenden Wölbungen? Eine Erhöhung des Felsens ragt aus dem Wasser, wie zur natürlichen Ruhestätte gebildet; auf weißer Decke, die darüber sich breitet und faltenreich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf weißem Schlummerkissen ruht ein Weib, mir entgegengekehrt, das Angesicht mir gegenüber, halbgeschlossen sind die von langen Wimpern überschleierten Augen. Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein seliges Lächeln umspielt ihre Lippen, Verklärung ist dies Antlitz. Das magische Licht, das auf Correggios berühmter »Nacht« vom Christuskind ausgeht, auf den Gesichtern der anbetenden Gruppe wiederscheint und im Dunkel der Hütte, der nächtlichen Landschaft verschwebt, es ist stumpf und erdig gegen die Lichtfülle, die von diesem Himmelsbilde ausströmt und doch nicht blendet, sondern mondscheingleich das Blau, das vor lauter Leuchtkraft wie Rot auf das Auge wirkt, zu sanfter Kühle ermäßigt. Ich sollte die Züge dieses Weibes kennen, sprach es in mir. Nur so wagte ich es im Innern zu sagen, denn sehr wohl beim ersten Blicke kannte ich sie. Doch drang es mir über die Lippen: »Soteira!« flüsterte ich und trat um einen kleinen Schritt näher; das Wasser, das ihr Felsbett umschwankte, schien zugleich fester Boden, der dem Fuße Stand und Gang erlaubte. Sie öffnete jetzt die Augen und ließ sie auf mir ruhen. Wer beschreibt den Blick! Mir war wie damals, als sie sich über mich beugte und das feuchtkühle Tuch auf meine Stirne legte, nur dasselbe Gefühl ins Unmeßbare, ins Unsagbare erhöht. Nun sprach sie, – es war jener grundgute Ton, der mir einst ins Herz des Herzens gedrungen –: »Nicht wahr, hier ist es gut still und kühl?« – »Ja, du Gute,« sagte ich, »aber das ist ein Ort für Reine, da darf ich nicht bleiben; verzeih, verzeih, daß ich hier eingedrungen; aber du glaubst nicht, o, du glaubst nicht, wie fürchterlich es droben aussieht im Tale der Schrecken.« Wie vorher ruhten diese Augen auf mir mit dem Blick der Güte und des Mitleids, den keine Zunge nennt. Dann hob sie langsam den Arm, bot mir die schneeweiße Hand und sagte: »Reiche die deine, das kühle Lichtblau hat alles, alles abgewaschen.« Zitternd hob ich die Hand und faßte die ihre. Sie war kalt, aber nie im Leben hat der Druck einer warmen, lebendigen Hand einen Menschennerv und ein Menschenherz so selig durchzittert, wie mich die Berührung dieser weichen, zarten Finger, die wie aus Schnee gerundet schienen. Ich hielt sie fest und flüsterte: »Ewig.« – »Ja,. ewig,« hauchte sie.

*

Ich glaubte sie noch zu halten, als ich erwachte. Dies Erwachen! Hinweggespült aus meiner hämmernden Brust ist der Krampf und Brand des Lebens, sanft geht mein Puls. Ich bin frei.

*

Aus Wust und Wut,
Aus Schwefelglut,
Aus atemloser Schwüle
Hinab in Meeresgrund, hinab ins Kühle.

Da ruh' ich aus
Im Felsenhaus
Von all dem Angstgewühle,
Gebadet in der sanften, reinen Kühle.

Im tiefen Blau
Ruht eine Frau,
Lichtweiß auf weißem Pfühle,
Und lächelt selig in der stillen Kühle.

Nah' ich mich ihr?
Sie schaut nach mir,
Fragt mich, ob ich auch fühle,
Wie gut es weilen ist in dieser Kühle.

Reicht mir die Hand,
Daß ich den Brand
Aus meinem Busen spüle
Und mit ihr ewig bleibe in der Kühle.

*

Aber da bin ich noch und was nun tun? Der aufzuckende Gedanke, ich müsse nun auf und fort, hinwärts, dorthin – nein! Mein Traum und die Fragen, die Zwecke der Wirklichkeit: zwischen ihnen ist kein Verhältnis, keine Gleichung. Auch den Gedanken, mein Gesicht könne eine Ahnung gewesen sein, halte ich nieder. Ich mag mich mit keinerlei Fragen einlassen. Mir ist alles vollendet. Ich bin. Ich habe das Gefühl, zu sein. Mit ihr, in ihr. Tief in der blau schimmernden Grotte. – Die Dinge am Tageslicht sind mir nun pure Gegenstände, nichts mehr mit mir verwachsen.

*

Wenn man nicht weiß, was nun tun, so tut man vorerst nichts; das heißt, man treibt, was der Tag bringt. Ich bin einmal in Palermo, will mich erst noch weiter umsehen. Ich will doch die Einladung des fremden Herrn annehmen, den ich beim Frühstück getroffen, mit ihm zwei Bilder von Crescenzio, dem merkwürdigen Maler des Quattrocento, zu sehen, eines im Hofe des Hospitals, das andre eine Stunde von der Stadt im Kloster S. Maria di Gesù.

*

Freske im Kreuzgang des Hospitals: eine Art von Totentanz – trionfo della morte. Sieht sich fast deutsch an, blonde Köpfe, herb individuelle Formen; Sage von einem flandrischen Meister, doch möglich von Crescenzio unter frühem nordischen Einfluß. Der Tod rennt als Gerippe auf magerem Klepper durch die Luft, Pfeile vom Bogen schießend, Arme und Krüppel, die ihn um Erlösung flehen, übergehend, Hohe und Ueppige ereilend. Links eine heitere Gesellschaft: festlich gekleidete Mädchen zum Tanz antretend nach dem Klang einer Zither, aber schon von Todesblässe überzogen, dabei ein Paar, das verlobt wird. Ihr verlobt euch gültig, der Tod wird kopulieren. –

Die Fresken im Kloster draußen großenteils verdorben; monochrom. Erhalten eigentlich nur eines der Seitenbilder: der Leichnam des heiligen Franziskus, umgeben von trauernden Mönchen und Volk. Der Meister, schwerlich Crescenzio, hat die streng auf die Sache losgehende Art des Giotto. Schmerz, andächtig rührungsvolles Schauen in die stillen Züge des Toten, diese Affekte in ihrer Einfachheit, ohne Zusatz feinerer Mischung, aber auch ohne abflachende Rundungen, und nur um so ergreifender. Die ausgewachsene Kunst füllt Formen und Ausdruck, spielt aber stets an der Grenze hin und über sie, wo das fühlbare Zeigen ihres Könnens beginnt. An der vollen Krone des Baums, der in Sommersmitte prangt, findet man immer schon einige welke Blätter. – Eigentümlich hat mich der tote Franziskus berührt, der tiefe Friede in seinen hageren Büßerzügen. Was ist es, worin er liegt? Ein gläserner Sarg? Nicht mehr zu erkennen. – Als Ort wird Assisi zu denken sein. –

*

Jetzt weiß ich, wohin! – Der Fremde im Rückweg lange schweigsam. Ich auch. »Die Bilder,« beginnt er endlich, »haben mich seltsam ergriffen, – auch darum, weil die Szene, die wir zuletzt gesehen, in Assisi vorzustellen ist. Ich habe eine traurige Nachricht: der Tod zielt jetzt eben in meine Verwandtschaft.« – Er nennt mir seinen Namen, sein Vaterland Schweden, seinen Heimatsort Gotenburg und seinen Stiefbruder – Erik. Dessen Witwe, ein Juwel aller Frauen, liege todkrank nieder in Assisi. – Zu Schiff, zu Schiff!

*

Neapel. So weit wär' ich. Der Seesturm überstanden, ich wußte gut, daß er mir nichts anhaben könne. Das Dampfschiff gilt für altersschwach, es müsse noch dienen, solange es halte; der Kapitän stand immer an der Maschine, sah hinab, horchte, ob sie noch gehe. Bald alles seekrank außer mir und der Bedienung des Fahrzeuges. Halte mich am Mast und schaue und höre. Ton durchaus wie von Millionen Trommlern, die mit anwachsender Schlaggewalt zum Sturme wirbeln, immer wieder von vorn beginnend. Womöglich furchtbarer das dünne, schneidend scharfe Pfeifen des Winds in den Tauen, wie wenn einer auf der schermesserschmalen Kante von Papier pfeift, – dies ins Unendliche gesteigert. Wogen – eine Welt; nicht jede gelingt, die gelungenen herrlich in der Linie ihrer Hohlkehlen und Roßhalsrücken, drüber die Schaummähnen, die der Sturm flockig hinausbläst. Wälzt sich eine heran, man meint jedesmal, sie müsse das Schiff umstoßen oder überflutend begraben, doch sie nimmt es auf ihre Schultern, dann schießt es ins nächste Wogental hinab. Welches Brausen und Donnern! Kann sonst den Wind nicht ausstehen; so gefällt er mir, wie neulich in Sorrent auf der Klippe: wenn einmal doch, dann auch recht! – Weinen, Jammern, Beten ringsum. Ich lasse mir stark den Syrakusaner munden; der Kellner preßt sich, um einschenken zu können, an Mastbaum oder Wand, wenn ich dann nicht schnell trinke, ist der Wein fort, als schlüge jemand mit Gewalt unten ans Glas. Nacht, unmöglich oben zu bleiben, ich muß hinab in meine Koje und wie ich entkleidet bin, beschleicht mich eine kurze Anwandlung von Feigheit. Was doch Kleider, namentlich Stiefel, ein Gefühl von Halt geben! – Da unten ist's unheimlich; an der Schiffwand höre ich mitten unter dem dumpfen Brummstoß der Wellen und dem Aechzen aller Rippen des hohlen Baues manchmal etwas wie Saugen und Gurgeln, als lutschten da draußen die Mollusken so vorläufig am Holz in Aussicht auf bessere Speise. Auf der Treppe sitzt ein großer, schöner Kerl mit langem Bart, in flotter Uniform, Leibjäger irgend eines vornehmen Herrn, und weint wie ein Kind; – vielleicht ein andermal beherzt; sind halbantike Menschen, lassen alles heraus. Im Damenkabinett liegt eine seekranke Frau mit Kind; ruft alle Viertelstund: cameriere! come sta?. Und der sagt jedesmal: così, così. Die Laterne hängt in immer spitzerem Winkel von der Decke; wenn sie mit ihr gar keinen Winkel mehr bildet, sondern parallele Linie, so sind wir fertig. Kommt ein Kapuziner und bittet mich, mit halbem Leib in meine Koje hineinliegen zu dürfen, die unterste von je dreien; ich erlaub' es, der Kapuzenzipfel kitzelt mich im Gesicht und überdies heult und jammert der Tropf, betet wimmernd den heiligen Antonius an und alle Heiligen noch dazu. Ich halte nun dem Wurm von Menschen eine Predigt – die erste in meinem Leben – ziemlich wohlgesetzt, im wesentlichen des Inhalts, er sehe mich, ein Weltkind, ruhig, er solle sich doch schämen, daß er, der all Tag und Stund die Erde als Jammertal schmähe, den Tod und den Himmel preise, nun so erbärmlich verzweifle. Hat natürlich den Teufel gefruchtet, obwohl der Vortrag nicht bloß leidlich gut eingeteilt, sondern auch rhetorisch hübsch geschmückt war. – Gegen Morgen ermattet die Sturmwut; man kann auf das Verdeck, doch als ich mich auf einen Feldstuhl gesetzt und eingenickt, rollt mich ein Ruck wie eine Kugel das Verdeck entlang. Hat mich gefreut, daß ich wieder hell lachen kann. – Der Sturm mit all seinem Lärm ist mir ganz still vorgekommen im Vergleich mit dem höllischen Traum, mit dem stummen Brüten in der Luft, das den Larven voranging, und mit ihren Hohnrufen.

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Rom. Nur eine Wanderung hier über das Kapitol hinaus. Morgen vorerst Perugia. – Dum Capitolium scandet cum tacita virgine pontifex. Horaz hatte doch Momente. Cum tacita virgine – begleite mich, Bild der priesterlichen Jungfrau – mit ihren, ihren Zügen! – Ueber das Forum hinaus ein Stück in die Campagna, an diesem stillen Abend im Mondschein. Mein Leben wird Vergangenheit, es ist müdes, weiches Verdämmern ohne Empfindungsschwäche. Tiefes Weh nur, wenn ich vergleiche. Trümmer von so großem – und mein Dasein niemals mit vollem Band an großes geknüpft. Schäme mich vor den Geistern, die hier schweben. Horaz kann sich doch wenigstens rühmen, das äolische Versmaß der lateinischen Sprache angeeignet zu haben. Aber die Männer, die Helden! Und ich? Ja einmal, einmal, da wollte es werden, habe gekämpft für ein Vaterland. Kurzer Traum! – Ihr Gewaltigen habt Reiche besiegt, habt die Welt beherrscht.

Wohl seh' ich auch im Geist, wie blondlockige Gotenscharen dort auf den Palatinus hinaus und ins Kolosseum dringen und die Mauern brechen. Alte Geschichten. Mein Deutschland schläft wieder, nachdem eine Halbheit auf zweifelhaften Wegen zustande gekommen. Man muß auch das lernen: hingehen, ohne ein Vaterland erlebt zu haben. Gefaßt, ganz gefaßt. Und so wird's wieder ruhig in mir, sanft. Ich fange eure Größe ein in süßem Diebstahl, ihr Trümmer, atme Heldenluft in großer Stille.

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Was haben die deutschen Künstler da drin im Café Greco? Haschen heftig nach den Zeitungen. Wird auch der Mühe wert sein! – Mich kümmern keine Neuigkeiten mehr.

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Perugia. Es ist so, sie liegt drüben in Assisi; man hat sie in die freiere Bergluft gebracht, zur Muhme Cornelia. Ihr Vater, ihre Söhne bei ihr. Habe an ihn geschrieben, ob ich erscheinen darf. Mir war nur still und feierlich zumute: jetzt bin ich nicht mehr so ruhig. Mutarm, schwer, bang, daß mir fast Arm und Fuß den Dienst versagt, bis Antwort da ist. – Stehe wieder vor dem Geburtshaus ihrer Mutter, verwechsle sie immer, und wenn ich da nach der Loggia hinaussehe, sehe ich statt ihrer Cordelia als Kind dort zwischen den Oleandern herabschauen.

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Man erwartet mich, soll kommen, schnell. Mir wird schon leichter. Ich darf.

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Es ist gewesen. Es ist. Ja, wie dort auf dem Bilde des Kölner Meisters die heilige Jungfrau, so umgeben von Weinenden, Vater, Kindern, so lag sie. Und auch wie der selige Geist im blauen Lichtmeer der verklärten geheimnisvollen Grotte.

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Kniend an ihrem Bett – sie weint – weint sie auch um mich? – Es gibt Krieg, sagt sie. – Ich wußte nichts von der Welt draußen. – Der Vater bestätigt: Krieg Deutschlands mit Frankreich. – Ist die Stunde wieder da, wo in Christiania – ihr Aufruf –? Sie mahnt nicht, diesmal nicht. – In mir Entschluß, augenblicklich. Nun weiß ich meinen Weg, sage ich, – sie schweigt, sie weint, reicht mir die Hand, die weiße, bleiche, – hebt sie, nachdem ich sie lang gehalten, und legt sie auf mein Haupt, segnend, Worte flüsternd, unhörbar, meine Tränen strömen, – sie bedarf Ruhe – Leb wohl! leb wohl! – Ein sanftes »wohl« kann ich noch vernehmen – ein Blick ruht auf mir – ich werd' ihn ewig sehen. Und du, Erik! – dein Geist über uns – ich sah ihn freundlich nicken. – Ja, ja, nun weiß ich meinen Weg. –

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Der Erdenstoff verzehrt sich sacht und mild,
Bald ist's vorbei und du bist ganz nur Bild!
Du schwebst hinweg, schon strahlen wie von ferne
In fremdem Glanz der Augen milde Sterne.

Sei, Bild, mein Schild, solang der heiße Tag
Mich noch umtost mit wildem Stoß und Schlag!
O senke, steigt der dunkle Zorn mir wieder,
Auf mich herab die träumerischen Lider.

Die Blicke, die, dem reinen Kinde gleich,
Nicht wissen, wie so gut sie sind, so weich!
Ganz Geist, kannst du nun allerorten leben
Und auch zu mir, dem Umgetrieb'nen, schweben.

Vielleicht ist doch in nicht zu ferner Zeit
Ein bleibend Haus zur Rast für mich bereit.
Dann schwinge sanft um meinen Totenhügel
Am stillen Abend deine Geisterflügel.

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Hier endigt das Tagebuch. Weitere Aufzeichnungen haben sich nicht gefunden; nur die Tage der Schlachten jenes Sommers sind noch eingetragen, zuletzt der Entscheidungstag von Sedan.


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