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Ich mochte ein paar Stündchen geschlafen haben, als ich, die Augen aufschlagend, meinen Retter neben mir sitzen sah. Ich erkannte ihn nicht sogleich, denn er hatte eine Pelzkappe auf dem Kopf. Er merkte es, zeigte sie mir her und erzählte, das Glück habe ihn an einen ländlichen Kleiderkram geführt, wo er sie gefunden. Sie stand ihm wirklich ganz gut zu Gesichte. »Nun,« fing er dann an, »Sie sehen ja ganz frisch aus, jetzt aus der Wickel! und da ist der Herr Obermedizinalrat von Göschenen.« Ein echtes Charakterbild von ländlichem Chirurgen sah ich jetzt erst drüben am Tisch stehen und Pflaster streichen. »Es wird dem Herrn gut tun, wie Ihnen,« sagte der ehrsame Künstler, legte mir zwei große Pflaster auf und half mich dann ankleiden. Doch ich hätte der Hilfe nicht mehr bedurft; ich fühlte mich ganz leicht und stark, die tobende Musik im Kopfe war verstummt; mich drängte es, meinem Schicksalsbruder um den Hals zu fallen und Laute des Dankes zu stammeln, aber ich hütete mich wohl, diesem Gefühle zu folgen; ich wußte, wie es mir gegangen wäre: ein Pah! und ein paar Sprachspiele von gerettetem Retter und rettendem Gerettetem wären sicher nachgefolgt, ja bei einer leidigen Neigung zum schlechten Witz, die ich schon an ihm kannte, hätte er nicht geruht, bis ein gegabelter Retter-Rettich zum Vorschein gekommen wäre, und so hätte er die rührende Szene in eine Lachszene verkehrt.
»Appetit?«
»Ja wohl, ja freilich!«
»Schon besorgt, kommen Sie zu Tisch!«
Der Bader wurde, zufrieden mit seiner Belohnung, entlassen, wir Zwei traten in ein etwas niedriges Zimmer, das aber mit seiner Täfelung und reinlichen Gardinen einen ganz heimeligen Eindruck machte, der Wirt erschien und hinter ihm ein Mädchen mit der Suppenschüssel. Ich bemerkte, daß A. E. sie ins Auge faßte. »Ein Töchterchen?« fragte er den Wirt. »Eine Nichte,« war die Antwort. »Ein hübsches Kind,« sagte ich, als beide hinaus waren. »Ich weiß nicht; halb hübsch oder so oder – halt! so ist's: sie sieht aus, als hätte sie eine schöne Schwester.« Ich nahm mir keine Zeit zum Nachdenken über gemischte hälftige Schönheit und über Schließbarkeit auf eine schönere Hälfte, denn der Hunger war groß, und ebenso erging es sichtlich meinem Tischkameraden.
Es begann nach Stillung des ersten Bedürfnisses ein wachsend heiteres, belebtes Gespräch. Ich sah ihn zum erstenmal eigentlich hell in seiner Stimmung. Seine Atmungsorgane erschienen mir unbelästigt, das starke Ereignis hatte wohl eine gute Krisis mit sich geführt. Er fing wie dort am Axen vom Wetter an: »Der Föhn legt sich, will sehen, wann der Regen kommt; ich glaube, viel wird's nicht sein, er wird wohl diesmal die Hauptmasse des Feuchten drüben überm Bodensee hinunterschütten. Können Sie denn den Wind ausstehen?« Ich hütete mich wie billig, von der physikalischen Notwendigkeit der Luftbewegung anzufangen, und A. E. fuhr auch fort, ohne Antwort abzuwarten: »Geduld bei allem andern übeln Wetter, aber der Wind ist spezifisch unverschämt, betäubt die feinsten Sinne, Auge und Ohr, macht durch den unnötigen Lärm das Hirn trunken, wild, ist wie ein Kerl, der mich mit Ohrfeigenregen begleitet, mir auf Tritt und Schritt vorheult, der Teufel sei los, kurz, kann mich geradezu ganz wütig machen.«
Dies war die einzige Andeutung, das einzige, entfernte, nur sehr mittelbare Geständnis der Unvernunft der Szene, die er am Fels aufgeführt. Der Wink war mir wenigstens hinreichend, um zu schließen, was übrigens auch sonst der Augenschein zeigte: daß eine gewisse Befreiung eingetreten sei. Nur nehme der Leser die Befreiung nicht für wirkliche Besserung: er würde sich täuschen, wie sich bald finden wird.
Er hatte gestern den Föhn mit einem bösen schönen Weibe verglichen, jetzt führte ihn das Föhngespräch auf die selbe, aber umgekehrte Vergleichung: »Dämonisch reizvolle Weiber sind doch wie der Föhn; sie machen warm, warm, aber schwül, nicht Sonnenwärme, – elektrisch, bang, – Schönheit des Tigers – geben die Seele nicht, haben keine – wurzelt nichts – Liebe und Katarrh wurzelt im Mann tiefer als im Weib, – aber, aber, mein Herr –« hier begannen seine Augen zu funkeln und er fuhr mit der Stimme heraus, als spräche er mit einem Feind – »es gibt Kuren – wenn erst ein rechter Katarrh dazu kommt – wild – scheußlich –« Er brach ab, erbleichte, versank in ein Brüten und sprach mit plötzlich erweichtem Tone vor sich hin: »O keine Kuren – Heilung erst vom Himmel – vom Lichtgeist – dann ein gesunder Säbelhieb –«
Er faßte sich schnell, und als wäre ihm mit den letzten Worten das Stichwort von außen gegeben, auf ein andres Thema einzugehen, nahm er die deutsche Frage auf und trug durch einen sichtbar künstlichen Akt der Seele seine Erregung auf diesen ganz andern, sächlichen Inhalt über: eine Gewaltsamkeit, die ihm doch so völlig gelang, daß die Kunst zur Natur wurde und nun die ganz ungeheuchelte Leidenschaft eines echten Patrioten zum Vorschein kam. Er brach in bittere Klage aus über die Verachtung, die noch auf der Nation laste. »Fast gleichen wir ja,« rief er aus, »den Juden, die auf Kohlen sitzen, wo das Gespräch auf ihr Volk führt. Ich hab's Ihnen nicht erzählen mögen,« sagte er; »vorgestern nacht in Brunnen – ich saß eigentlich gern unter den Schwyzer-Mannen, obwohl ich sonst das Schreien nicht leiden kann; Luftstimmen, voces non subactae, aber Bruststimmen, Metall, Korn! Da kommen die Kerle auf die Dinge zwischen Preußen und Oesterreich« – (wir sind im Spätsommer 1865) –»fängt einer an: ›ja, die Dütschen! 's ist nüt und wird nüt‹; ich fahr' auf, weis ihn zurecht, man droht mir, aber da sie sahen, daß ich keinen Teufel fürchte, haben sie mich in Ruhe gelassen. – Inzwischen, es kommt jetzt anders, Sie werden sehen, aus diesem Wirrwarr entsteht etwas. – So gewiß glaub' ich's, meine es schon zu sehen, daß mir schon vor den nächsten Folgen bang ist, wenn das Deutsche Reich aufgebaut sein wird.«
»Da sind Sie doch mehr als eine Wetter-Kassandra! Was für Folgen?«
»Sehen Sie, die Deutschen können das Glück und die Größe nicht recht vertragen. Ihre Art Idealität ruht auf Sehnsucht. Wenn sie's einmal haben – vielleicht erleben wir's, geben Sie acht, – und nun nichts mehr zu sehnen ist, so werden sie frivol werden, die Hände reiben und sagen: unsre Heere haben's ja besorgt, seien wir jetzt recht gemeine Genuß- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge –«
Ich erschrak, wollte es nicht glauben, und erschrak doch.
Und an dieser Stelle angelangt, erlaube mir der Leser eine kurze Unterbrechung: Seit es nach und nach kam, wie es nun gekommen, seit Unehrlichkeit, Betrug, Fälschung, Fäulnis so mancher Art tiefer und tiefer in das Blut unsrer Nation sich einfrißt, muß ich täglich dieser Prophetenworte gedenken. Ja ich bekenne, vielleicht hätte ich trotz meinem Vorsatz es doch unterlassen, den unbequemen Sonderling zu schildern, wenn nicht diese Weissagung zu melden wäre, die so leidig eingetroffen ist.
A. E. legte mir, den er sehr nachdenklich sah, jetzt die Hand auf den Arm und sagte: »Nehmen wir's auch nicht zu schwer; eine anständige Minorität wird bleiben, eine Nation kann so was überdauern; es bedarf dann eines großen Unglücks, und das wird kommen in einem neuen Krieg, dann werden wir uns aufraffen müssen, die letzte Faser daran setzen, und dann wird's wieder besser und recht werden.«
Ob auch dies in Erfüllung gehen wird?
A. E. wurde, als dieser schwer lastende Ernst heraus war, wirklich munter, er geriet, redselig aufgelegt wie er war, in sein altes Fahrwasser, und sein Schiff fuhr so mit vollen Segeln, daß ich in meinem Zuhörerkahne daneben von ganzen Sturzwellen übergossen wurde. Wie sollte ich dieses Sturzbad schildern können! Nur einige Wellen mögen ausgehoben werden.
Die Politik brachte ihn auf die Geschichtsschreibung, und nun ging's an, nun legte er wieder mit seinen Marotten los. Er fordere Gründlichkeit, und die Frucht werde sein: Billigkeit, Gerechtigkeit, Mitgefühl, Toleranz, wahre Humanität. Der Geschichtsforscher müsse vor allem eine richtige metaphysische Vorbildung genießen, müsse sich gute Kenntnisse in der Urgeschichte erwerben. Ich bekam bei dieser Gelegenheit etwas mehr vom philosophischen System oder vielmehr eigentlich der Mythologie des sonderbaren Denkers zu hören, als ich bisher wußte. Die Natur sei das Produkt eines Urwesens weiblichen Geschlechts. Dieses höchst geniale, reizvolle, höchst gütige und zugleich höchst leichtsinnige und dämonische, höchst grausame Weib habe sich mit Legionen böser Geister verbündet, die sich im Urschlamm erzeugten. Man solle zusehen, ob nicht alles Tun und Hervorbringen der Natur weibartig sei. So leicht, als die Weiber empfangen, schaffe sie; so ohne alles Nachdenken, wie ein begabtes Weib geistvolle Gedanken und Pläne entwickle, quellen aus ihrer Hand die unendlichen Formen hervor; so geschmackvoll und eitel, als das Weib sich aufputze, schmücke sie ihre Wesen; man solle doch nur zum Beispiel die Toilette der Vögel sehen, die Büsche, Hauben, Klunker, Kragen, Schweife in allen Formen, namentlich in solchen, die sich zu Prachträdern aufschlagen: man werde doch nicht meinen, diese Dinge seien gemacht, damit niemand sie sehe, es liege ja auf der flachen Hand, daß das von einer genialen Urkokette stamme; dies Weib sei wohl auch gut: sie nähre, pflege, sorge, heile, wie nur ein Weib es könne; dann aber sei sie plötzlich total gedankenlos, absolut vergeßlich, ganz so dumm, wie oft das geistreichste Weib, ja eine reine Gans.«
»Von der Sie auch gelegt sind,« fiel ich ein.
»Jawohl, ja leider wohl,« sagte er und fuhr ungestört fort: »So vergißt sie, daß sie einen Frühling voll Blütenherrlichkeit hat sprossen lassen, macht den ganzen Spaß mit einem Nachtfroste hin, vertilgt ihre eignen Produkte, läßt ihre geliebten Kinder verhungern, verschmachten, verfrieren; sie flößt der Tiermutter die zärtlichste Liebe für ihre Jungen ein und leitet den Bärenvater, den Kater an, sie zu fressen; sie gibt dem besten aller Tiere, dem sehr philosophischen Tiere, wie Plato es nennt, dem Hunde, die Hundswut zur Mitgift und macht ihn zum Scheuel und Greuel der Menschen, die er liebt und die ihn lieben; sie ist mißlaunisch, widerwärtig just wie die Weiber und wirft neben ihre Künstlergebilde das Warzenschwein, die Kröte, den Bandwurm, die Läuse, Flöhe, die Wanzen. Kann dies alles noch aus purem Dusel und Unwirschsein erklärt werden, so ist sie nun aber auch recht eigentlich grausam, so grausam als gütig, und hier nun erst gleicht sie ganz dem dämonischen Weibe oder vielmehr hier am deutlichsten liegt der Beweis, daß dieses alles nur von einem Weibe herkommen kann, nämlich einem genial boshaften. Ich habe diesen Zug oft am Weibe bewundert. Macht das Weib eine rechte Teufelei und man hält es ihr nun vor, so pflegt sie zu sagen, es sei nicht mit Ueberlegung geschehen. Das ist denn auch ganz wahr: eine Bosheit, so raffiniert, wie sie der Mann nur mit angestrengtem Denken ersinnen könnte, bringt das Weib ohne alles Nachdenken im Augenblick fertig, satanisch schuldhaft ganz unschuldig; das Weib führt ein Gift, das ein moralisches und doch ebensosehr ein pures Naturgift ist, genau wie die Nattern, Skorpionen, Taranteln; ich habe schon Briefe gelesen, von erbosten Weibern geschrieben: kein Mann, so lange er auch grübelte, könnte ein solches Arsenal von Nadeln mit vergifteten Widerhaken zustande bringen; den Stich fühlt man oft im Anfang kaum, dann fängt er an zu brennen, und nach und nach empfindet man sein ganzes Wesen bis ins Herz hinein vom höllischen Schierling durchträufelt, durchsickert, durchbeizt. Doch weiter im Text: inzwischen nun hatten sich im Urschlamm infusorisch, unabhängig vom Fortpflanzungssystem der persönlichen Urgottheit, nämlich eben jenes Weibs, in der tropischen Hitze der Urwelt Legionen von bösen Geistern erzeugt, sie boten sich ihr als Gehilfen an, und mit ihrer Assistenz erst ist nun das Ganze aller Scheußlichkeiten, die ganze Welt raffinierter Grausamkeit fertig geworden, welche die Natur ausweist, die ganze wurstgiftige Wurst des Daseins. Es ist viel zu mild, die Natur ein allgemeines Wechselmordsystem zu nennen, man soll bedenken, wie die Tiere ihr Opfer nicht einfach morden, sondern zum Ueberfluß, zur reinen Wollust stundenlang, tagelang martern; wissen Sie, daß die Raben einen feineren Leckerbissen nicht kennen, als die Augen eines jungen Hasen? – es ist mir gelungen, einmal einen solchen armen kleinen Tropf zu retten, hinter dem sie schon her waren. In Norwegen sah ich in einem Fjord einen Walfisch stundenlang wie toll aus dem Wasser emporschnellen, ich erzählte es einem Schiffer, der fragte mich, ob ich nicht an seiner Brust zwei schwarze Körper bemerkt habe, ich solle acht geben, wenn ich diese Erscheinung wieder beobachte; es sei eine Art kleinerer Haie, die immer paarweise schwimmen, denen die Brüste des weiblichen Walfisches die höchste Delikatesse seien, die sich darin festbeißen und nicht ablassen, bis das ganze weiche Organ aus seinem tiefsten Sitz herausgenagt sei; das könne tagelang, nächtelang dauern, und da springe denn das wehrlose Tier vor wütendem Schmerz aus der Flut empor, bis es ermatte und verende. Und da soll man singen: Wie groß ist des Allmächtigen Güte!? Nein, nein, das freilich ist klar, daß dies ebenso pein- als freudenreiche Ganze, dies kunst- und pracht- und teufeleivolle System nur von einem höchst intelligenten persönlichen Wesen hervorgebracht sein kann, aber nicht minder klar, daß dieses Wesen ebenso blind als weise, ebenso bös als gut ist, kurz, daß es nur ein geniales Weib sein kann. Uebrigens erhellt dies auch daraus, daß die Natur schlechterdings nicht mit sich reden läßt, daß man mit Gründen absolut nichts bei ihr ausrichtet, just wie die Weiber, die sagen: drum eben, wenn man sie stundenlang widerlegt hat.«
»Zu was brauchen Sie aber noch die Geister?«
»Bitte, mich nicht zu unterbrechen. Der Natur war etwas Ausnehmendes gelungen: sie hatte endlich den Menschen gebildet. Mit Hilfe der Geister wurde er die grausamste aller Bestien, denn ihm diente der Verstand zur Erfindung ausgesuchter Qualen für Tiere und seinesgleichen. Allein es geschah ein Strich durch die Rechnung. Derselbe Mensch erfand, geführt von einer zweiten, höheren Gottheit, einer männlichen, einem Lichtgeist, von dem wir ein andermal noch sprechen, nach und nach Dinge, auf welche das Urweib und die Geister nicht gefaßt waren: das Recht, den Staat, die Wissenschaft, die begierdelose Liebe und die Künste. Das Weib war mehr nur verwundert, die Natur ist ja gut und bös, bös und gut durcheinander; sie hatte es in unachtsamen Stunden werden lassen und machte nun große Augen, wie es da war. Aber die Geister, das Schandschlammprodukt, wüteten und beschlossen furchtbare Rache. Sie schlüpften in die Objekte. – Das Weitere wissen Sie, wissen, wie der Mensch nun geschunden wird, was alles ihm über den Weg rennt, wenn er mitten im besten, im vernünftigsten, im zweckmäßigsten Tun begriffen ist, wissen, wie er in allem tückisch durchkreuzt, durchbrochen, das Hackbrett ist, worauf kichernd, hohnlachend die bösen Geister spielen. Es ist nur noch beizubringen, daß es ungenau gesprochen ist, wenn man das besessene Objekt anschuldigt, statt den besitzenden Dämon. Dies ist nur sprach- und phantasiegemäß; man kann nicht allemal zwei nennen.«
»Aber Sie waren eigentlich an der Geschichte.«
»Ja so, ja! Billigkeit, Gerechtigkeit, Mitleid, Humanität – wenn sie gründlich geschrieben würde. Wenn ein braver, wenn ein gescheiter, wenn ein großer Mann unsinnig, zweckwidrig, unrecht handelt, schwächlich unterläßt, wenn ein Redner, wenn ein Denker sich in unbegreifliche Widersprüche verwickelt: wissen wir denn, ob ihm nicht ein Knopf an den Hosen gerissen war? Wer kann Vernunft bewahren in diesem Zustand? Ob ihm nicht der Katarrh ein teuflisches Haarseil durch den Schlund zog, sein Gehirn trübte, bewölkte, versimpelte und nichts ihm zu denken mehr übrig ließ als Unsinn, Unrecht, Widersinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab ihm glühende Dolchstiche von der Zehe aufwärts bis ins Herz und Mark? O Menschheit, erkenne dies, werde klar und du wirst verzeihender, wohlwollender, edler werden! Menschheit, habe Religion! Ein Held kann über einen Strohhalm stolpern! Ein Halbgott an einer Gräte ersticken! Und das ist noch nicht das Schlimmste, aber ein Begünstiger, ein Braver kann zum Fex, zum Trottel, zum Kinderspott, zum bösen Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum Scheusal werden. Kurz, der Wahnsinn beherrscht das Geschehen: die Schuld der Geister, die Schuld der Teufelsrotte. Und aber trotzdem: sie können die Menschheit placken und schinden, aber nicht mehr unterkriegen, den Oberbau: Gesetz, Staat, Liebe, Kunst nicht mehr einstürzen, wir müssen streben, ringen, kämpfen, als ob sie nicht wären. Ja die Geister selbst und ihre bösen Werke, obwohl wir sie nicht hindern können, müssen uns dienen: wir erkennen sie, wir verwenden sie, namentlich in der Kunst.«
Ich erschrak, weil ich mir denken konnte, nun werde er erst recht ins Zeug gehen. Denn er war immer aufgeräumter geworden, ließ sich nicht im geringsten verstimmen durch die schwierige Aufgabe, die uns ein Teil des gediegenen Mittagessens stellte: alles Fleisch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der uns gar wohl tat nach unserm Abenteuer. Ich durfte ihn nicht stören in seinen Tischreden und hörte denn geduldig weiter.
Er bewegte sich durch das Gebiet der verschiedenen Künste. Zunächst kam die Poesie daran und zwar das Drama, die Tragödie. Schillers Tell fiel ihm wieder ein, und er sagte: »Wollen Sie dagegen eine wahre Tragödie, das heißt eine solche, die den Konflikt der Konflikte, den des Menschen mit den Geistern, behandelt? Eine Tragödie, die aus der Menschengeschichte den wahren Inhalt destilliert hat? Eine Tragödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Humanität schöpfen sollen? Eine Tragödie, deren wahre Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt ist? Ich kenne, darf ich sagen, die ganze Literatur über Shakespeares Othello. Nirgends auch die blasse Spur von Ahnung der eigentlichen Intention des tiefsinnigen Dichters, zu deren Verständnis er uns doch einen so deutlichen Wink gegeben hat! Was sagt denn Othello im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona? ›Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier‹, und wie erläutert er dies deutlicher im vierten? ›Mich plagt ein widerwärtiger böser Schnupfen.‹ Weiter ist hier zu bemerken, wie erbärmlich die Uebersetzer verflachen: ›Widerwärt'ger!‹ Salt sagt Shakespeare: salzig; o, Shakespeare ist konkret, nie abstrakt allgemein! o, der kennt es! – Nun meinen die seichten Köpfe, das sei bloß Vorwand von Othello, um herauszubringen, ob Desdemona das Schnupftuch noch habe. Schnupftuch! Handkerchief! Worüber die gemeinen Seelen noch lachen! Als ob Shakespeare nicht leicht sonst ein Tuch hätte setzen können, wenn nicht tiefere Absicht gerade dies verlangt hätte! Meint man denn, eine Wut, eine Tat wie des Othello sei aus moralischer Verfinsterung allein zu erklären? Nimmermehr! Der Schauspieler, der sich ganz in die Tiefe des Dichtergeistes versetzt, wird schon im zweiten Akte bei der Ankunft auf Cypern durch eine gewisse Dumpfheit, eine nasale Färbung des Tons fein andeuten, daß sich Othello auf der stürmischen Seefahrt bedenklich verkältet hat; nun erwäge man, daß es ihm, schon angeschnupft, wie er ist, unmöglich gut sein kann, wenn er bei dem nächtlichen Skandal auf der Wache schnell das Bett verlassen muß; der darstellende Künstler wird also vom dritten Akt an die Symptome etwas steigern, etwa auch durch Auftragung von etwas Rot auf dem Nasenzipfel – (hier fühlte A. E. nachdenklich an seinen eignen) – oder, als Mohr – von etwas Dunkelblau oder Grün? – er wird beim ersten Ausbruch von Heftigkeit gegen Desdemona durch scharfes, trockenes Husten dem Zuhörer die Ueberzeugung einflößen, daß der Katarrh jetzt in den Hals getreten ist und allda wie mit einer Nadelspitze kratzt, kitzelt und krabbelt. Jetzt tritt das eigentliche Katarrhfieber ein, das Hirn ist eingenommen, giftig gereizt, alles Blut im Kopf, nicht nur die Nase ist rot oder blau, auch die Ohren sind es – Sie wissen, mein Herr, wie wütend und blutdürstig der Mensch ist, wenn er heiße, rote Ohren hat –; mit Jagos Scheinbeweisen, stets erneuten Einflüsterungen steigt in gleichem Schritte dieser traurige Zustand, die Ohnmacht im vierten Akt, aus bloßer Phantasieaufregung denn doch nicht erklärlich, ist Beweis einer radikalen inneren Verpfropfung, das Uebel ist offenbar in den Magen niedergestiegen, ist ganz zur höllischen Grippe geworden; von nun an begleite Räuspern, Husten, unendliches Schnäuzen jeden Schritt des Unglücklichen! So gelangen wir zur Mordszene; hier leistet der Künstler das Höchste! Othello ist jetzt auf dem Gipfel seines Leidens; nicht in kleinlich naturalistischer Weise, nein, ganz im furchtbar hohen Stil werde dieses Aeußerste des tragischen Zustands dargestellt, es seien Hustenanfälle erhabener Art, die wie Kanonenschüsse explodieren, endlich wird der Unselige blaurotgrünschwarz im ganzen Gesicht, er kann mit aller verzweifelten Anstrengung die im Halse sitzenden zähen, schmählichen Hindernisse nicht herauswürgen, er kann durch den Mund nicht genug atmen, und die ganz verschwollene Nase versagt völlig den Luftdurchgang; er ist am Ersticken; da, in der Wut, in diesem Krampf des Lebens, diesem rasenden Sieden des Gehirns wird er zum Teufel: soll ich ersticken, so sollst du es auch, so denkt er; das Schnupftuch! das Schnupftuch! Dieser Ausruf – (er hat das seinige offenbar verlegt) – zeigt an, mit welchen Objekten seine tollgewordene Phantasie sich einzig noch beschäftigt, und jetzt – erwürgt er Desdemona. In diesem Sinn, und in diesem allein richtig aufgefaßt, haben wir im Othello die Tragödie aller Tragödien, die erste, vollkommenste, ergreifendste Dichtung aller Zeiten. Da erst muß jedes Herz klopfen, jede Lippe seufzen: o, was ist Menschengröße, Menschenruhm! O, sehen Sie,« fuhr er heftiger fort – »ich selbst – an wie viel Gutem haben mich die Katarrhteufel verhindert, aber zum Bösen, zum Grauenhaften – ja dazu – damals – damals – o man bedarf Nachsicht –«
Er stockte, besann und faßte sich und fuhr ganz nüchtern fort, es falle ihm übrigens nicht ein, irgend jemand zu vergöttern. Von den bekannten Flecken Shakespeares – Absurditäten, Roheiten – wolle er jetzt nicht reden, sondern nur bemerken, daß es ihm widerfahren könne, gerade in dem Punkte zu fehlen, worin doch seine wahre Größe bestehe. Er mache auf eine schwere Unterlassung im König Lear aufmerksam. Der brave Kent lange nach scharfem Ritt in Cornwalls Schloß an, überreiche den Brief von Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan nach Glosters Schloß zu folgen, und zwar nachts, erhitze sich hieraus wieder sehr stark in der herrlichen Schimpf- und Prügelszene mit Oswald, werde dann von Cornwall in den Block gespannt, liege nun da, die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde, schlafe sogar in dieser Lage und – kriege bei solcher Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber sehr geistlos, zu meinen, dies stehe in keinem Zusammenhang mit dem sittlichen Gehalte der Tragödie. Dieser Kent, dieses wackere, herzstärkende Mannsbild, vergelte seines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Dienertreue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde für ihn beleidigt, schmählich bestraft, aber das größte, das erhabenste aller Opfer, daß er für ihn einen Schnupfen, einen Katarrh auf sich nehme: das sei vergessen, dieses Prachtmotiv nicht entwickelt. – Von da an sprang er zu der Skulptur über. Auch hier äußerte er sich leidenschaftlich gegen das, was er falschen Idealismus nannte, um das Prädikat des wahren Idealismus dem entsetzlichen Naturalismus vorzubehalten, den er predigte, von dem er sich aber vorstellte, daß er mit allen hohen Zügen des klassischen, hohen Stils vereinbar sei. So rief er unter anderm aus: »Da stellen uns die Zuckerlecker die drei Grazien dar in holder, marzipansüßer Umschlingung! Es ist leicht, es ist wohlfeil, mit so butterweichem Symbole lügen, das Leben verlaufe sich in ungebrochenen Wellenlinien! Man stelle die Wahrheit dar, allerdings in mythischem Gewand, in großartiger, geisterhafter Personifikation! Drei furchtbare Weiber, schön und entsetzlich, grauenhaft schön, bilden, sich umarmend, eine Gruppe, ein Symplegma! –: der Schnupfen, der Katarrh oder Pfnüssel (dies Wort hatte er, wie er mir sagte, in der Schweiz aufgefangen; er unterbrach hier den Zug seiner Rede, verbreitete sich über dessen onomato-poetischen Wert und behauptete mit komischer Heftigkeit, das Wort sei keltischen Ursprungs, was ich ihm doch nicht bestritt, obwohl ich es für gut deutsch hielt) – der Pfnüssel – und die Grippe! Ziel, des edelsten Künstlers würdig! Hauptaufgabe: die Nuancen, die Stufen richtig zu geben, abzutonen! Es bedarf dabei keiner gemeinen Naturwahrheit, man kann ganz ideal und doch ganz wahr sein, der Ausdruck in Stirne, Augen, Lippen, Haltung und Bewegung des ganzen Leibes genügt, wenn er mit zartem Verständnis behandelt wird, vollständig, die verschiedenen Grundzustände, die Stimmung, die Verdüsterungsgrade der Nerven, des Gehirns höchst überzeugend auszuprägen; haben doch die Griechen selbst uns den Weg gezeigt, indem sie die Meduse – vielleicht selbst ursprünglich eine Personifikation des Katarrhs – (er drohte, die Hypothese durch eine mythologische Untersuchung zu beweisen, doch glückte es mir, dies wenigstens abzuschneiden) – die Meduse früher als scheußliche Fratze, endlich aber in jenem Wunderwerk aus Palast Rondanini als ein Weib darstellten, das den Reiz hoher Schönheit mit den hippokratischen Zügen und dem Ausdruck dämonischer Bosheit so schaurig entzückend und entzückend schaurig in sich vereinigt!«
Bei den Griechen angekommen, verfiel er auf die Architektur. Das Rätsel des »reinen Segensstils«, von dem er auf dem Vierwaldstättersee gesprochen, sollte mir jetzt gelöst werden. Allein meine Aufmerksamkeit war denn doch an der Linie der Ermüdung angekommen, um so mehr, da ich mit Prämissen jetzt reichlich genug versehen war, um mir eigentlich selbst vorstellen zu können, was folgen werde. Dazu kam aber noch ein besonderer Umstand, den ich angeben werde; zuerst sei bloß flüchtig gesagt, daß ich nur obenhin einige Bemerkungen vernahm, wie in den neuen Stil aus der klassischen Architektur ein System von kannelierten Pilastern für die Dekoration der Schauseite, ebenso zu dem Kranzgesimse wesentlich die Hängeplatte mit den kleinen Zäpfchen an den mutuli, genannt guttae oder Tropfen, herüberzunehmen seien, am Sockel dann eine Reihe schön und entgegenkommend ausgebreiteter Nastücher auszumeißeln wäre, und so weiter, und so weiter; kurz, alle Formen müssen aussprechen: hier tritt nur ein, hier soll dir's bequem gemacht werden, hier darfst du dir normalen »Verlauf« versprechen und unbehinderte Pflege. – Ich weiß nicht mehr, wie es sich gab, daß er noch einmal auf die Poesie zurücksprang. Es summt mir noch halbdeutlich im Ohre nach, daß er weiterhin auf das Epos zu sprechen kam und sich rühmte, sein System könne es wieder beleben, da es eine neue, tiefe, herrliche Mythologie darbiete, und daß er hierauf noch einmal zum Drama, zu seinem Shakespeare überging. Er war eben beim Hamlet angekommen und eifrig beschäftigt, auszuführen, wie es doch wieder ein Beleg der Leichtigkeit aller bisherigen Erklärung sei, daß noch niemand die Grundursache aller Ursachen seines Zauderns, Stockens, seiner geistigen Obstruktion als eine physiologische erkannt habe; alle Hauptstellen in diesem unsterblichen Drama verkünden doch mit Flammenschrift: jeder Zoll ein Hämorrhoidarius! Er machte nun Anstalt, das Gesamtbild der Konstitution des Helden in breiter Ausführung aus den Worten der Königin zu entwickeln: »Hamlet ist fett und kurz von Atem,« dies alles war eben im Zuge, als das psychologische Ereignis in mir eintrat, das ich zu melden habe. Der Tisch war fast voll besetzt mit Schüsseln, Nebenschüsseln, Töpfchen, Flaschen, Gläsern; ein alter steinerner Krug solider Gestalt enthielt das Wasser; ich hatte ihn wohl bald zehnmal anders gestellt; er wollte nirgends recht Platz finden; auch A. E., wie ich wohl bemerkt hatte, war schon lange von ihm belästigt. Was kann gleichgültiger, nennensunwerter sein? Aber – auf unbewußten Stufen vorbereitet – sprang plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewisse Art von zweitem Gesicht, oder wie soll ich es nennen? Der Krug war mir kein Krug mehr, sondern ein beseeltes. unverschämtes Wesen, ein Geisterlümmel oder Lümmelgeist; – seine Schnauze war ein unverschämtes Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Gesicht, der Griff ein trotzig eingestemmter Arm, dieses Wesen kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für uns unbequem stand. Und das Schlimmste war. daß ich über diesen unseligen neuen Sinn, der mir angehext war, nicht einmal erschrak, wie gestern über die andern bedenklichen Symptome, sondern ganz mit mir eins, ganz sicher war und voll Begierde, das unzweifelhaft schuldvolle Wesen nach Recht und Gerechtigkeit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der Ansteckung sich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich fuhr aus, ergriff den Sünder, stürzte ans Fenster, riß es auf, – aber schnell fiel A. E. mir in den Arm: »Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß schon, daß Sie schöne Fortschritte gemacht haben in der Bildung, aber es ist noch nicht ganz reif, vielleicht sogar noch etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn es Zeit, werde ich das Zeichen geben!«
Wir waren beim Nachtisch angekommen. und bei den aufgetragenen Früchten erinnerte sich A. E. des verkohlten Obstes, das er kürzlich unter den Funden aus der Pfahldorfzeit gesehen hatte, welche in besonders reicher Sammlung die Stadt Zürich bewahrt; wir sprachen vom Kulturzustande der Steinperiode, wie er sich aus den Resten ergibt, die man nicht lang vorher in überraschender Menge da und dort im Grunde des Bodensees und der Schweizerseen ausgegraben hatte, von den Fortschritten der Technik, die doch schon gemacht waren, als das Metall noch unbekannt war, von Ackerbau, Brot, Webekunst, Schnitz- und Töpferarbeit. Der Wirt hatte auf unser Gespräch gemerkt und sagte: »Ich hab' so etwas, ich bringe Ihnen zum Nachtisch ein extrafeines Messer.« Wirklich erschien mit den Dessertbrocken ein derber Meißel aus Nephrit, sehr geschickt in einen Hirschhorngriff eingefügt, einer der wertvolleren Funde, da man begreiflicherweise Klinge und Griff selten mehr vereinigt findet; A. E., der auf das Thema mit lebhaftem Interesse eingegangen war, zeigte große Freude an dem Gerät, und der Wirt ließ es sich abkaufen.
»Ich kann es gut für meine Novelle brauchen,« sagte er, als der Verkäufer aus der Türe war.
Er schien einen Moment in Verlegenheit, daß ihm das Wort entflogen, ergab sich aber schnell in das einmal Geschehene und fuhr dann fort: »Eine Pfahldorfgeschichte. – Die kann ordentlich werden.«
»Ja, sind Sie denn auch ein Dichter?«
»Nun, das will ich doch glauben! Wen anders werden denn die Geister so placken und schinden als einen Dichter?«
Pause. Dann sagte er mit einem Ausdruck von großer Freundlichkeit, ja wahrer Herzlichkeit: »Sie sollen sie haben, bald vollends ist sie fertig, das Manuskript hab' ich im Koffer mit, der nach Airolo vorausgeschickt ist. Wenn die Arbeit vollendet ist, sollen Sie eine Abschrift bekommen aus Italien.«
Bei dem Anlaß fiel mir ein, daß ich selbst ein wenig in Poesie gepfuscht hatte. Ich erzählte ihm von dem kartoffel-nährenden Felsblock, zog mein Blatt heraus und schickte mich an, ihm meine Verse vorzulesen, nicht ohne erst versichert zu haben, daß ich mich sehr bescheide, mich als Kollege in Apollo aufspielen zu wollen. Er unterbrach mich bei den ersten Worten mit der Frage, ob ich auch die Haufwerke angesehen habe. Ich erfuhr von ihm, daß man so die wild übereinander gestürzten Felstrümmermassen nennt. »Wissen Sie auch,« sagte er, »wie sie das Volk hierzulande heißt?« Ich verneinte. »Dolmen,« sagte er, »das ist keltisch und bedeutet Opfertisch – Sie wissen doch von den uralten, geheimnisvollen Steinmalen in der Bretagne, Skandinavien, England – Dolmen sollten nur die Gruppen heißen, wo ein Felsblock wagrecht über senkrecht stehende hergestürzt ist, das Gebirgsvolk hier hat das Wort noch, versteht es nicht und wendet es auf das ganze Haufwerk an. – Nun haben Sie die Güte, zu lesen.« So las ich denn:
Aus des Felsblocks rauhen Spalten Soll der Sohn so hoher Ahnen, Wild und frei emporgehoben O die Zeit, da um beeiste Hätt' ich, als herabgewettert Lieber Staub und Splitter werden, Und so hebt er an zu drücken, Laß das Klagen, laß das Knacken, Denke nur: auch die Kartoffel Mußt dich gar so sehr nicht schämen, Siehst du, so wird jener, dieser |
Meine Leistung wollte mir doch wirklich im Vorlesen gar nicht so übel vorkommen, und der wartende Blick, den ich auf A. E. richtete, mochte ziemlich selbstzufrieden aussehen. »Nun, das ist ja ganz nett,« sagte er heiter, »aber, bitte, werden Sie mir nicht böse, wenn ich sage: eigentlich nur unter heiteren Freunden beim Weinglas ostensibel. Die ironischen Abschnappungen einer poetischen Anschauung, diese prosaisch negativen Schlüsse sind mehr nur ein Studentenspaß als Poesie, wobei ich nur nebenbei bemerke, daß das Wort Stoffel doch etwas zu hemdärmelig ist. Ich will Ihnen damit ja nicht weh tun, wenn ich sage: Heine hat's angefangen und dann ins Giftige getrieben. Und was Sie von mir lesen werden, kann sich auch nicht hoch rühmen, man wird es zur ironischen, ja vielleicht zur satirischen Gattung stellen, mein Talent geht nicht weit, ich hab' da vorhin im Eifer etwas dick getan. Inzwischen bitte ich Sie doch, geben Sie ein bißchen Achtung, ob Sie nicht doch auch Positives, ich meine: so etwas, was man –« »Was man Poesie nennt,« half ich nach. – »Nun ja, falls Sie so etwas finden, da und dort wenigstens, so dürfen Sie den Spaß drucken lassen, wenn ich einmal ausgehustet habe. Mir ist immer vor, es währe nicht mehr lang bis dahin.«
Das Schlußwort seiner Rede packte mich so, daß ich, über seine Kritik ohnedies nicht empfindlich, nun mich und mein Werk ganz vergaß.
Ich drückte ihm dankbar für sein Vertrauen und wehmütig die Hand und glaubte billig jetzt wenigstens den Augenblick gekommen, daß wir einander uns endlich vorstellten. Ich griff nach meiner Brieftasche, um ihm meine Karte zu geben, und hoffte auf die seinige.
»Bitte, bitte,« sagte er, »lassen wir's lieber! Kommt es Ihnen denn nicht auch hübsch vor, einmal im Leben nur Mensch zu Mensch?«
Ich verstand und darf sagen: mir tat wohl, was ich entnahm. Eine feurige Freundschaftserklärung hätte mir so viel, so Schönes nicht gesagt. Von einem andern geübt, hätte die Abwehr und Versagung alles Wissens um Stand und Namen gesucht und eitel erscheinen können; hier wäre nur eine stumpfe Seele einer solchen Auffassung fähig gewesen.
»Aber wie bekommen?«
»Bitte um eine Chiffre und Wohnort.« Ich schrieb und die Sache war abgemacht, worauf A. E. noch so weit auf sein Opus einging, daß er sich sehr lebhaft der Originalität seiner Erfindung annahm, ja dafür verwehrte, als hätte ich sie bezweifelt. Das Pfahldorf- und Steinzeitthema war damals in Karikatur und Schrift schon zu mancherlei Scherzen verwendet worden. Mit einer Leidenschaft, als handelte es sich um einen wichtigen Ehrenpunkt, rief mein Freund – so darf ich ihn nun nennen, nachdem er mir Menschenwert ohne Rücksicht auf Namen und gesellschaftliche Stellung zuerkannt hatte – rief mein Freund aus: »Glauben Sie mir, ich bin darin neu und ganz selbständig! Sie werden sehen, die ganze Dichtung geht tiefsinnig von einer Entdeckung, die nur mir gehört, von einer Idee über den wahren, noch immer nicht erforschten Grund aus, warum diese Menschen auf Seen wohnten; denn Sicherheit gegen wilde Tiere und Feinde? Ist ja nichts! Fror ja im Winter zu!«
Der Nachtisch war inzwischen vorüber und der Wirt brachte Licht zum Zigarrenanzünden. Als A. E. das Handleuchterchen gefaßt hatte, hielt er es mir hin mit den Worten: »Da, sehen Sie: ist das nicht wieder, um sich aufs tiefste zu empören!« Er zeigte mir, daß dem Geräte das flache Plättchen am Griffe fehlte, worauf man den Daumen setzen muß, um es sicher zu halten; das Metall hatte an dieser Stelle eine runde Biegung, die so wenig Halt bot, daß es in jedem Moment vornüberzurutschen drohte. Wie ich ihn kannte, ließ ich mich durch das Maß seines Zorns über diese Kleinigkeit nicht befremden; ja, es schien mir einen belehrenden Blick in das Innere dieses Menschen zu öffnen. Wer über so etwas ergrimmen kann, in dem muß das Gefühl der Zweckmäßigkeit von ungewöhnlicher Schärfe sein. – Uebrigens setzte er noch hinzu, ein solches Produkt sei ein wahres Bild unsrer deutschen Industrie, deren Hauptbestreben es ja doch sei, alles zweckwidrig zu machen. »Man sollte meinen,« sagte er, »was einer sachgemäß treibt, das müsse er doch verstehen; ja, ja, hübsch umgekehrt! Der Schneider kann erst recht nicht schneiden, der Sattler nicht polstern, der Schreiner erst recht keinen Stuhl bauen! Der erste schneidet einen Kasten statt eines Rocks, der zweite bauscht Matratze und Sitz so, daß du nicht liegen, nicht sitzen kannst, der dritte baut den Sessel so, daß du dich mit den Füßen anstemmen mußt, um nicht unter den Tisch zu rutschen.«
Inzwischen war ihm über Eis und Winter das Ziel seiner Reise, Italien, wieder eingefallen. »Und nun will ich's also eben wieder dort probieren,« sagte er, »bei meinen lieben Zugteufeln! Denn Teufel sind sie im Zugmachen; Fenster und Türen auf! anders tun sie's nicht! Und die verruchten steinernen Böden! Aber mein Doktor hat doch recht: er bleibt dort zwar nicht aus, aber verläuft milder, unschädlicher. Und eben dann noch etwas!«
»Was denn?«
»Wissen Sie – es ekelt einem eben oft am Menschen, zumeist in der nordischen Kulturwelt, die so vieles so ängstlich verbirgt, – Akzent durch Gegensatz: Sie wissen, Sie wissen! Dort aber: naturalia non sunt turpia. Also weniger Ekel.«
Er zog nun eine Landkarte hervor, um mir seinen Reiseplan darauf zu zeigen. Es war nicht Raum auf dem Tisch, um sie ganz auszubreiten; die Karte war aufgezogen, er öffnete die Blätter zunächst so weit, als der Tisch Platz bot, aber die weitere Verfolgung der Reiselinie forderte, daß nach und nach die andern Abteilungen aufgeschlagen wurden, und nun ging ein Umstellen, ein Aufräumen mit den mancherlei Geräten an, womit die Fläche besetzt war. Der Wirt schien gern zu zeigen, daß er einen reichhaltigen und schmucken Service besitze, und hatte daher manches entbehrlich gewordene Gefäß nicht abgetragen; auf einem zweiten Tisch und einer Kommode standen Blumenvasen, Tassen und andres, in derselben Art wie jene Gefäße mit Goldrand und farbigen Mustern verziert, umher; wollten wir auf dem Speistisch abräumen, so mußte erst auf einem dieser Möbel dieselbe Arbeit vorgenommen werden, dazu bot aber wieder nur der Speistisch Raum, den man doch eben leeren wollte, und so entstand ein Kreislauf höchst verwirrender und bemühender Art, der endlich in ein leidenschaftlich wirbelndes Hin und Her überging und kein Ende zu nehmen drohte. Ein Gott schien uns mit Blindheit geschlagen zu haben, daß uns das einfachste Mittel nicht einfiel, nämlich abtragen zu lassen. Plötzlich hielt A. E. inne, während ich in diesem Geschäfte noch fortfuhr. Daß er bei diesem Kreisen der Objekte soeben noch selbst mittätig gewesen, schien er rein vergessen zu haben. Mit Stentorstimme rief er: »Auch gar noch Fandango? Es ist genug!«
Er klingelte. Der Wirt erschien. »Was kostet der ganze Service, alles was hier im ganzen Zimmer umhersteht?« Der Wirt fragte: »Wozu?« und zeigte sich auf die ungenügende Antwort von A. E., er möchte ihn eben haben, wenig geneigt, seinen Schatz zu verkaufen. Doch, da er kaum anders denken konnte, als, der Gast sei auf diese Gegenstände um ihrer Schönheit willen erpicht, da ihm dies schmeichelte und da er schließlich wohl kein Geldverächter war, so ließ er sich bestimmen und nannte eine Summe, die eben nicht bescheiden, doch auch nicht so hoch gegriffen war, als die kundigere Gewinnsucht eines Städters sie gespannt hätte. Sie wurde ihm rund in Gold ausbezahlt; er strich ein und fragte: »Soll ich auch die Verpackung übernehmen?« A. E. sah ihn sonderbar an, wendete sich gegen mich und sprach feierlich, wie damals im Wirtshaus zu Brunnen: »Supplicium! Todesurteil!«
Er gab mir den Krug in die Hand und sagte: »Ihnen die Ehre des Vortritts!«
Ich, wie ich nun leider geworden war, gehorchte mit Pflichtgefühl. Dem Fenster gegenüber stand jenseits der Straße ein mächtiger Granitblock, einst – wer weiß vor wie viel Jahrhunderten – herabgestürzt von einem der Felsungeheuer und nun als Damm und Schranke hier aufgepflanzt, Zeuge einer Zeit, da es Krüge und Service freilich noch nicht gegeben. Ich zielte nicht schlecht und der Krug zerschellte an ihm in zahllose Scherben und Splitter. A. E. belobte mich und ergriff eine Obstvase; ihr Schicksal war dasselbe. Wir wechselten ab mit Tellern, Platten, Gläsern, was uns nur in die Hände kam. Unten hatte sich schnell ein Zuschauerkreis von Dorfjugend versammelt und jubelte über das ungewohnte Schauspiel. Unter großem Gelächter wurde nach jeder Aktion unsrer Kriminaljustiz gerufen: »G'hei abe! G'hei abe!« A. E. hatte eben eine hübsche Karaffe aufgenommen, als dieser Ruf zum erstenmal erscholl, hatte auch schon zum Wurf ausgeholt, hemmte aber seine Bewegung, faßte mit der einen Hand meinen Rockknopf, während die andre mit dem Gefäß mitten im Schwung hoch gehoben verweilte, und hielt mir eine kurze Vorlesung über das Wort, das die Knaben riefen und das ich, der Aussprache folgend, ohne seine Belehrung schreiben würde: Keien. »G'heien,« so dozierte er in der geschilderten Stellung, – »schreibe G, Apostroph, HEI – also eigentlich geheien – von heien mit Vorschlagsilbe ge – heißt:
Ob noch eine andre Bedeutung zugrunde liege, darüber habe ich lange vergeblich geforscht, glaube aber jetzt auf der rechten Spur zu sein. Davon ein andermal.«
Nach diesem Vortrage befreite er den gehobenen Arm aus seinem Banne, holte noch einmal aus, die Karaffe flog den Weg ihrer Geschwister und zerplatschte am Granitblock.
Ich wollte nun in rhythmischer Abwechslung alsbald wieder folgen, als er, den Blick auf unsern Zuschauerkreis geheftet, mir plötzlich in den Arm fiel und sagte: »Halten Sie inne, bis ich wieder komme.« Er eilte hinaus und hinab, ich sah ihn mitten durch den Haufen der Dorfjungen dringen auf eine Frau zu, die hinter ihren Reihen stand, ein Kind auf dem Arme. Sie war dürftig gekleidet, ihr und dem Kind sah der Hunger aus den Augen. A. E. hatte mit seiner scharfen Sehkraft offenbar von oben bemerkt gehabt, daß sie dem tollen Schauspiel mit vorwurfsvollen Blicken zusah; man konnte schließen, daß seine Anrede an das Weib etwas darauf Bezügliches enthielt. Ihre Antwort ließ sich deutlich hören, da der ganze Haufen mäuschenstill geworden war: »Ja, Herr, wie das Geschirr so flog, dachte ich: wenn ich nur in meiner irdenen Schüssel zu Haus ein paar Schübchen gute Suppe hätte.« Ich sah, daß Geldstücke in ihre Hand glitten, er flüsterte ihr einiges zu, das sichtbar beruhigend wirkte, wohl aber zugleich eine Bitte enthalten mochte, nicht weiter zuzusehen; denn sie ging hinweg und mit sichtbar aufgeheiterter Miene.
A. E. eilte wieder herauf und sagte sehr munter: »Vereinbar! vereinbar! so, nun kann es wieder fortgehen!« Ich holte wieder aus und zum großen Troste der Versammlung auf der Straße lief denn die Aktion weiter.
Hinter uns stand der Wirt und sah zu, starr, sprachlos, »zur Statue entgeistert«.
»Hoffnungslos |
Unser Eifer nahm zu, als sich unsre Arbeit dem Ende näherte, die Bogen, in denen wir warfen, wurden immer kühner, der Wurf immer sicherer; im Feuer dieses Tuns bemerkten wir nicht, daß außer dem Mädchen, das mit dem Wirt uns bedient hatte, noch jemand zu ihm getreten war; es war mir nur vor, als hörte ich hinter mir ein helles Lachen und Klatschen, ich hatte keine Zeit, darauf zu achten. Jetzt war der feierliche Akt vollendet, und wie wir uns zurückwenden, steht bei jenen zweien eine dritte Gestalt, ein hohes, bildschönes Mädchen, mit großen, dunkeln, vor Freude leuchtenden Augen, in die Hände klatschend und lachend, wie Kinder im höchsten Jubel lachen. Schwarze Locken, von silberner Nadel gehalten, fielen um ihr braunes Antlitz, gefüllt und stolz geschwungen stieg der Nacken und hielt aufrecht das Haupt mit seinem reinen Profil empor; man sah wieder eine Wölbung des Brustbaues, wie sie in unsern nördlichen Ländern so selten ist: frei, kräftig, ein wohlgebildeter Raum für das Organ des Atmens.
Wie ich sie näher ansah, tauchte mir erst von ferne, dann deutlicher eine Erinnerung auf. Um diese schönen Augen spielte etwas Weiches, man konnte nicht sagen, in welchen Formen der Augenhöhle und ihrer Umgebung es lag, nicht wenig trugen die großen Lider und die langen Wimpern dazu bei; nach kurzem Suchen kam mein Gedächtnis bei der Dame an, die ich erst gestern in Bürglen gesehen hatte. Die Aehnlichkeit in diesem Zuge war so stark, daß man leicht das Unähnliche in Gedanken ausschied; man konnte sagen: es war diese Erscheinung aus Blond in Schwarz und Braun, aus dem fein Schlanken ins Vollere, aus dem zart Durchgebildeten ins kräftig Volksmäßige übersetzt.
A. E. stand erstaunt, in Schauen verloren. »Come vi chiamate?« fragte er.
»Cornelia.«
»Siete da Perugia?«
»No, Signore.«
»Da Assisi?«
»No, Signore.«
»Da Arezzo?«
»No, Signore.«
»Da Siena?«
»No, Signore. Io sono da Bellinzona.«
»Fa niente,« rief er jetzt, schloß sie in die Arme und drückte der Ueberraschten, die kaum sich sträubte, einen feurigen Kuß auf die Lippen. Der Wirt sah verwundert, halb ärgerlich, halb lachend zu dieser Szene, ließ jedoch geschehen. Man konnte ihm aus dem Gesichte lesen, daß in seinem Gemüte zwei Mächte sich eine ordentliche Schlacht lieferten: das Gefühl der Zweckwidrigkeit des erst Vorgefallenen, der Unmut über so verkehrtes Handeln und über die jetzige Dreistigkeit auf der einen, und auf der andern Seite der Respekt vor Fremden, die sich eine so großartige Verschwendung erlaubten, und die Lust am Spaße, den eine Szene, wie die letzte, denn doch jedem Zuschauer bereiten mußte. A. E. wandte sich jetzt mit der Gebärde eines Mannes, dem etwas Vergessenes einfällt, plötzlich zu ihm, nahm ihn beiseite, fragte ihn leise etwas, die Antwort des Wirts, der seine Stimme zum Flüstern nicht gebildet hatte, verriet, von was die Rede war: er nannte den Namen einer Frau mit dem Zusatz einiger weiteren Personalien; es konnte nur das arme Weib sein, dessen Erscheinen das kurze Zwischenspiel im großen Töpfedrama herbeigeführt hatte. A. E. machte sich eine Notiz ins Tagebuch. Der Wirt war jetzt sichtbar so ausgesöhnt, daß er unsres Wohlgefallens an dem Mädchen einfach sich erfreute; er sagte freundlich: »Meines Bruders Kinder, der eine Italienerin zur Frau hat und in Bellinzona wohnt.«
A. E. stand noch einige Augenblicke, die Hand des schönen Mädchens haltend, fragte, ob er Grüße nach der Heimat bringen dürfe, sie wurden ihm gern aufgetragen, dann wandte er sich zu mir und sagte: »So, jetzt lassen Sie uns scheiden und gehen; nach dem Vernunftakte, nach der religiösen Opferhandlung, die wir vollzogen, könnte uns ein schöneres Punktum nicht mehr werden.« Er nahm seine Sachen um und an, gab dem Wirt und seinen Nichten noch herzlich die Hand und ging voran und ich folgsam ihm nach. Während er die Treppe hinabstieg, blieb ich noch bei Cornelia, die mir vor die Türe folgte, stehen und sah sie fragend an; sie verstand meinen Blick, sie las schnell darin, daß er forschte, wie ihr der Herr gefalle, und sie sagte: È pazzo, ma pur simpatico. Pazzi siete tutti e due.[Er ist verrückt, aber sympathisch. Ihr seid alle beide verrückt.] Es drängte mich, sie dafür nun meinerseits auch zu küssen, ich bedachte aber schnell, daß sie »pazzi« in den Plural verwandelt hatte, »simpatico« aber nicht, auch widersprach ein Etwas in mir der Nachahmung in diesem Fall, kurz ich bezwang die Anwandlung und drückte ihr nur zum Abschied die Hand.
Ich trat zu A. E. vor die Haustüre. Der Föhn hatte sich gelegt, sein Glutsturm schien die Wassermassen, die er mit sich zu führen pflegt, hinter uns auf die Flächen Deutschlands gejagt zu haben; hier im Gebirg war nur ein leichter Regen gefallen und hatte die Luft mäßig gekühlt.
»Ich wollte eigentlich bis Andermatt,« sagte ich, doch setzte ich alsbald hinzu: »Nein, es ist wahr, es ist besser, wir scheiden nun.« – »Nicht wahr?« sagte A. E. mit herzlichem Tone und grundfreundlichem Blick; – »das weitere würde nur nachhinken, und beisammen bleiben wir ja doch nicht; den Rest des Passes mit Teufelsbrücke können Sie ja morgen oder sonst einmal sehen. Die Novelle also kommt. Addio!« Er schüttelte mir die Hand, schwenkte mit rascher Wendung und ging dahin.
Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, auch nur ein Wort zu sagen, eine Bewegung zu machen, wodurch ich dem Gefühl Ausdruck gab, das im Augenblick dieses Abschieds über mich kam, obwohl es nach aller Wahrscheinlichkeit ein Abschied für immer war. Ich kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, wie wenig Glück ich mit einem Anlauf zärtlicher Art gemacht hätte; ich erwiderte stumm den Handdruck und ging gleichfalls meines Weges.
Im nächsten Moment fiel mir ein, daß ich nicht dazu gelangt war, nach dem Sinn des seltsamen Wortes zu fragen, das mich am vorigen Tage wie ein Geist verfolgt hatte. Schnell aber wurde ich mir bewußt, daß dies darum unterblieben war, weil ich einen passenden Moment zu der Frage nicht fand, und weiter wurde mir klar, daß noch etwas andres zugrunde lag: ich war eigentlich doch nicht dazu aufgelegt. Alsbald verging mir daher auch die augenblickliche Lust, zurückzulaufen und das Versäumte nachzuholen. Ich wäre vor A. E. schlecht bestanden, wenn ich, vollends nach dem Abschied, einen besondern Schritt getan hätte, um zu erfahren, was ein Humorwort bedeute, das irgend einer geringfügigen Anekdote seinen Ursprung verdanken mochte. So resignierte ich denn darauf, jemals noch im Diesseits das Rätsel des Tetem gelöst zu sehen.
Ich war etwa zwanzig Schritte entfernt, als ich seine Stimme rufen hörte: »Sie!«
Ich kehrte mich um: A. E. war stillgestanden und rief mit einem Tone, woraus die helle Froheit klang, mir zu: »Und sie hat's erst nicht abgewischt!« Dann wandte er sich und ich sah ihn mit nervigen Schritten die Straße hinansteigen. Zugleich erkannte ich am Fenster das dunkle Lockenhaupt Corneliens; sie sah ihm nach, bis er an der nächsten Biegung der Straße verschwand.
Ich wanderte langsamen Schrittes bergab. Warum sollte ich nicht gestehen dürfen, daß mir das Auge feucht wurde und warum nicht, daß ich zu fühlen meinte, dieser Tropfen gelte gar nicht allein dem Abschied, sondern wohl mehr noch gerade dem letzten, komischen Wort und dem, was es mir zu denken gab, zu denken nicht bloß über den einen Menschen, der dort über das wilde Gebirgsjoch in die Ferne zog.