Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer
Friedrich Theodor Vischer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In der Pfahldorfgeschichte hat der geneigte Leser das Manuskript kennen gelernt, das mir aus Venedig zukam. Der zwei Bedingungen, an welche die Vollmacht zum Abdruck geknüpft war, erinnert er sich aus unserm Gespräch in Göschenen. Er wird also auf der Tatsache, daß der Abdruck vorliegt, bezüglich der einen Bedingung von selbst den Schluß ziehen, daß ich in der Pfahldorfgeschichte noch etwas andres fand als nur einen anachronistisch satirischen Scherz. Was dies andre sei, hat A. E. dazumal so bescheiden angedeutet, als man es irgend von einem Menschen erwarten darf, der Selbstgefühl, der Charakter hat; ich würde näher darauf eintreten, wenn ich nicht allen Schein der Parteilichkeit für meinen Mann vermeiden möchte; eher ist es von Interesse für mich, auf die Mängel hinzudeuten, wozu Gelegenheit sich ergeben wird. Bevor ich erzähle, wie die andre Bedingung eintraf, will ich noch melden, was auf dem beigelegten Zettel geschrieben stand; es lautete: »Sollte Ihnen das Opus in dem Sinne, wie ich damals in Göschenen gesagt, nicht eben unwert erscheinen, so mögen Sie es also vom Stapel lassen, wenn ich tot bin. Dann müssen Sie aber eine Bemerkung beifügen. Ich habe in dem Hymnus des Barden ein Gedicht von einem lebenden Dichter auf eine Weise verwendet, die unverantwortlich ist, wenn ihm nicht eine Genugtuung gegeben wird, falls der Spaß gedruckt erscheint. Ich habe seine Strophen erweitert, da verändert, dort unverändert gelassen. So verlangte es mein Zusammenhang. Es lieber durch ein andres ersetzen? Das konnte ich nicht über mich bringen, weil ich einen gleich guten Grund für den gegebenen Zweck zu legen mich unfähig fühlte. Aber auf mein heilig Ehrenwort, es soll kein Diebstahl sein und ebensowenig eine wohlweise Verbesserung. Wer die Gedichte des Mannes kennt, der weiß, welches ich meine; wer sie nicht kennt, den geht dieser Umstand eben einfach nichts an. Noch eine andre Untat habe ich begangen: demselben Poeten ist das Kahnlied zugeschrieben, das Alpin singt dort, wo über die Beschickung der Barden beraten wird. Taugt es nichts, so habe ich sehr gefrevelt. Es soll für beide Sünden seine Verzeihung, seine Zulassung eingeholt und dies im Buch angemerkt werden.«Ist geschehen.   Anm. d. Herausg.

Mit Seufzen packte ich das Manuskript zusammen, als ich es gelesen, und barg es bei den Papieren, die ich am sorglichsten verwahre. Je mehr es mich rührte, daß der Mann, mit dem ich menschlich einst in so eigentümliche Berührung gekommen, mich nun so vertraut auch in die Gänge seines Talents blicken ließ, desto stärker wollte sich der Unmut in mir melden, daß er mit seiner Person solch grillenhaft heimliches Wesen trieb. Von Zeit zu Zeit überfiel mich auch einfach die Neugierde, ein paarmal schoß der Gedanke in mir auf, ich wolle schnell nach Italien aufbrechen, seine Spuren aufsuchen, seinen Namen und Stand erkunden. Doch ebenso schnell faßte ich mich nach solchen Momenten und sagte mir, daß das kindisch wäre. Und gerade diese Selbstrüge führte auch wieder zu gerechterer Auffassung jener Grille. Mußte ich mir gestehen, daß ein solcher Spürungsgang ein kleinliches Tun wäre, so war damit auch anerkannt, daß es gar so unnatürlich eben nicht war, wenn der Sonderling die Anhängsel seiner Persönlichkeit, Namen, Heimat, Stand verbarg und nur Mensch zu Mensch sich stellen wollte. Freilich konnte auch diese Erwägung nicht immer vorhalten; denn jene Anhängsel sind ja das Mittel, wodurch Menschen, die sich kennen gelernt, sich menschlich nahe getreten, einander wieder auffinden können. Warum sollte ich ihn, warum wollte er mich nicht wiedersehen? Dies war denn doch krank. Was konnte dahinter stecken? Hatte ihm unser Abenteuer in den Schöllenen den Gedanken des Selbstmords, der ja unheimlich genug aus seinem Selbstgespräch am schauerlichen Felsrand hervorblitzte, noch nicht ausgeheilt? Wollte er allein wandeln, um frei dem Todesgedanken nachzugehen und ungestört, wenn er reif wäre, ihn zur Tat zu machen? Bei dieser Betrachtung überkam mich wieder das Mitleid, jenes Mitleid, das mich einst zum halsbrecherischen Kletterwagnis getrieben, das mir beim Abschied die Träne ausgepreßt hatte. Und nun ward mir der Inhalt der Pfahldorfgeschichte zu einer Quelle neuer herzlicher Rührung. Ich zog sie wieder hervor und vertiefte mich so recht rein pathologisch in das durchgehende Motiv: die wunderliche Erfindung einer Religion, einer Mythologie, worin sich alles um den Katarrh dreht. Doch wurde durch ein Gefühl andrer Art dem Mitleid das Gleichgewicht gehalten: der Arme, der mit diesem lästigen Leiden so fatal verwachsen war, daß sein Gedankenleben sich gewöhnt hatte, sich halbwahnsinnig um diesen einen und verwandte Punkte zu drehen: er hatte es ja doch vermocht, sich so seiner selbst zu entäußern, daß der Krankheitsstoff als gegenständliches Bild humoristisch ausgeschieden wurde. Das war denn wirklich kein geringer Akt geistiger Freiheit. Immerhin komisch war mir allerdings die Stelle in Arthurs Feuerrede, wo so manches Böse doch als Ausfluß genannten Uebels entschuldigt wird, der Redner aber fühlt, daß dies gegen den Strich seines Gedankengangs läuft und sich mühsam in diesen zurückhilft. Dabei drängte sich mir zugleich die Bemerkung auf, daß der Autor sich im Verhältnis zum Umfang seiner Grille im Grund enthaltsam erwiesen habe, denn die Versuchung mußte groß genug sein, sich nicht auf das eine der sogenannten kleinen Uebel zu beschränken, sondern deren noch gar manche andre einzuführen, um eine weite Aussicht auf das unabsehliche Gebiet lästiger Durchkreuzungen menschlichen Seins und Tuns vom winzigen Zufall zu eröffnen, mit dem er sich in so großer Ausdehnung und so verbissen beschäftigte. Einzelnes der Art, was vorkommt, wie das Herabfallen des Druiden von der Kanzel, ist doch motiviert und zählt also eigentlich nicht in die Sphäre des reinen Widersinns. Diese Einschränkung durfte ich ebenfalls für einen Erweis von Freiheit gelten lassen: er konnte eine Menge komischer Motive aus diesem Gebiete schöpfen, aber der Zusammenhang seiner Komposition wollte es nicht zulassen, und als Künstler fügte er sich in dies Verbot, während er als Mensch doch gewiß auf Schritt und Tritt einen starken Reiz fühlen mußte, es zu übertreten.

So schwankte mir Denken und Gefühl hin und her, bis endlich die allgewaltige Macht der Zeit, die politischen Ereignisse, die Häufung täglicher Arbeit das Bild des Mannes und seines Werks mir in den Hintergrund der Erinnerung schoben, aus dem es nun seltener, doch allemal frisch und lebendig wieder auftauchte. Des Tages dachte ich weniger daran, aber häufig träumte mir von Urhixidur, vom Wisentkampf, vom Scheiterhaufen, zu welchem Arthur verdammt war, und ein andermal schwebte ich schwindelnd über Abgründen, tosenden Wassern, über mir, hoch am steilen Fels, eine geisterhafte, titanisch bewegte Gestalt, und oft erwachte ich dann schweißgebadet im Augenblick, wo ich in die jähe Tiefe zu stürzen glaubte. Es war in der Nacht, nachdem die französische Kriegserklärung 1870 bekannt geworden, als sich mir solche Erinnerungsbilder mit Vorstellungen, welche diese Kunde mit sich brachte, wunderlich im Traume verknüpften. Ich befand mich wieder in der Schöllenenschlucht und sah auf einer der wilden, steilen Felshöhen – nicht meinen Mann, sondern einen Spahi, einen wilden Sohn Afrikas – nicht stehen, sondern reiten; der Fels nahm die Form eines Pferdes an, der Spahi, während sein weißer Mantel dunkler und dunkler wurde, sich mehr und mehr ausbreitete und als silbergesäumte Wetterwolke am Himmel zu flattern schien, spornte es heftig in die Seite und rief: »Nach Berlin! nach Berlin!« Jetzt kam A. E. herbeigeeilt, schrie: »Herab, Pferdsschinder!« packte ihn am Bein, der Spahi springt aus dem granitnen Sattel herab, zieht seinen krummen Säbel, ich stürze hinzu, wir raufen, und im Handgemenge sehe ich A. E. stürzen, die blitzende Waffe ist ihm in die Hüfte gefahren, ein Blutstrahl spritzt aus der Wunde, der Schreck weckt mich auf, und erwacht meine ich noch mein Stöhnen im Traume zu hören.

Am Morgen darauf hatte ich eine kleine Reise anzutreten in der Richtung gegen Süden. Ich stand auf dem Perron eines Bahnhofes und sah die Leute in einen Zug einsteigen, der, von oben kommend, einen kurzen Halt gemacht hatte. Das Zeichen zur Weiterfahrt war schon gegeben, als ich einen Mann, der sich etwas verspätet hatte, dem Wagen zueilen sah. Er erreichte ihn noch, blieb aber mit der Brusttasche seines nur umgeworfenen Ueberrocks im Griff der Wagentüre hängen; ich hörte einen heftigen Fluch und sah zugleich, wie der Fremde einen zornigen, so gewaltsamen Ruck mit seinem Kleide tat, daß die Tasche riß; man hörte trotz dem Prusten des Dampfrohrs die Nähte krachen, und der Inhalt rollte über den Wagentritt auf die Schienen und über sie hinweg bis an die Grenze des Perrons. Inzwischen war der Mann im Wagen verschwunden und der Zug fortgesaust. Ich war seiner nur von hinten ansichtig geworden, aber Gestalt und Bewegung waren mir bekannt vorgekommen, die Stimme, der Fluch und das ungeduldige Reißen kamen mir noch bekannter vor; jetzt beeilte ich mich, die Sachen aufzunehmen; es war eine Brieftasche und eine Zigarrenspitze; mit dem ersten Blick erkannte ich diese Dinge als Eigentum A. E.s, denn wenn sich bedeutende Stunden in unserm Gedächtnis festsetzen, so gräbt sich ja gern auch unwichtig Aeußerliches als geläufiges Zubehör der Persönlichkeit in die geistige Tafel mit ein. Ich begab mich mit meinem Fund auf das Zimmer des Inspektors. Er öffnete vor meinen Augen die Brieftasche und zog neben einigen Blättern und Briefen eine Paßkarte hervor; sie war 1869 ausgestellt nach Italien (und Sizilien), daneben aber lag ein älterer, ganz vergilbter Paß von 1865, der wohl mitgenommen war für den Fall, daß die Paßkarte nicht genügen sollte. Er lautete ebenfalls nach Italien. Ganz merkwürdig: der Name hieß Albert Einhart; also die Anfangsbuchstaben ebendie, womit ich mir nur zur Aushilfe, die Bedeutung: »Auch Einer« hineinlegend, bisher den Mann bezeichnet hatte. Alter auf dem Paß: fünfzig Jahre, Paßkarte demgemäß: vierundfünfzig. Stand: Vogt außer Diensten. Flugs fiel mir dabei der Auftritt mit den zwei Strolchen auf dem Gotthardpaß ein. – Den Wohnort wollen wir übergehen; er tut nichts zur Sache, und der Leser, wenn ihn etwa die Neugierde hinreizte, würde den Mann doch nicht mehr finden. Ich schrieb auf eine Karte mit meinem Namen: »Der glückliche Finder, der Reisekamerad von 1865, grüßt;« ich bat den Beamten, die Karte zu den Sachen zu legen; er erklärte am übernächsten Tage, wo sich die Ankunft des Eigentümers in seinem Wohnort als erfolgt mit Wahrscheinlichkeit annehmen lasse, werde er telegraphieren. Der Vorfall machte mir Spaß, wohlgestimmt reiste ich weiter; allein die Zufriedenheit hielt nicht lange vor, eine Unruhe kam über mich; du mußt hin, sagte ich mir, eine Dummheit wär's, sich länger an die Schrulle eines Eigensinnigen binden; naturwidrig, barbarisch ist's, daß man sich nicht mehr sehen soll. Ich entschloß mich und wollte, wieder zu Haus angekommen, ungesäumt aufbrechen. Allein ich konnte mich so schnell nicht losmachen. Der Krieg hatte seine blutige Arbeit begonnen, nahe Verwandte hatten Söhne im Feld, Schlag auf Schlag folgten sich die großen, mörderischen Schlachten, es gab zu Hause gar viel zu tun für Pflege der Verwundeten, für Sanitätszüge, ich durfte, ich konnte mich von meinen nächsten Umgebungen nicht trennen. Endlich kam der Schicksalstag von Sedan. Die Hoffnung auf das Ende des Kriegs konnte ich zwar nicht teilen, aber eine Pause mußte folgen, ich glaubte mich auf einige Tage freimachen zu dürfen, doch nicht so schnell gelang es mir, loszukommen; erst gegen Ende Septembers reiste ich ab; bald genug wird der Leser erfahren, wie sehr ich diesen neuen Aufschub zu bedauern hatte.

Auf der Station, wo der erzählte Vorfall spielte, setzte ich einen Zug aus und fragte an, ob die Sachen abgegangen und Nachricht von ihrer Ankunft eingetroffen sei. Der Beamte zeigte mir den Empfangschein, und ich erkannte mit dem ersten Blick die Handschrift. Man kann sich denken, daß ich mich doch nicht wenig gespannt fühlte, als der Zug am folgenden Morgen dem Ziele sich näherte. Ich enthielt mich, Mitreisende mit Erkundigungen anzugehen; ungeschmälert von halbem Vorwissen wollte ich die Wohltat genießen, nun den Mann in seiner Heimat, seinen Lebensbedingungen erst ganz kennen zu lernen. Gleich nach der Ankunft eilte ich in einen Gasthof und fragte schon unter der Türe nach der Wohnung des rätselhaften Freundes. »Sie treffen ihn nicht mehr am Leben,« sagte mit schmerzlicher Miene der Wirt. Ich zuckte zusammen. »Ein blutiger Tod,« setzte er hinzu; »Tod durch einen Messerstich im Streite mit einem rohen Fuhrmann.« – »Hat er Familie hinterlassen?« – »Er war Junggeselle, eine Verwandte hielt ihm Haus, Frau Hedwig, eine Witwe.« – »Ist sie noch da?« – »Sie verbleibt im Hause.« – Ich ließ mir Straße und Hausnummer angeben, wies Begleitung ab und fand mich bald zurecht.

Ich sah an der Nummernzahl, daß ich der Wohnung nahe sein müsse, als mir hart an der Nase ein Trinkglas vorüberflog und auf dem Pflaster klirrend zerschellte. Mir war, als streifte mich der Geist des Verstorbenen. – Das Haus war gefunden und wurde auf mein Läuten geöffnet; im Flur stürzten zwei Hunde die Treppe herab auf mich zu, laut bellend, doch nicht in feindlichem Tone, es war der halbwimmernde Ruf, welchen dies Haustier in der Aufregung der Freude hören läßt. Plötzlich blieben sie vor mir stehen, blinzten mich an und hängten die Schweife. Es war ein großer Hatzrüde von der gelbgrau gestriemten Rasse und ein borstiger Rattenfänger. Ich betrachtete sie mir und redete sie wie alte Bekannte an, denn das waren sie doch, da ihr verlorener Herr sie mir ja im Geiste längst schon vorgeführt hatte. – »Ach, ihr guten Kerle, gelt, 's ist eben nicht euer Herr, der kommt nicht mehr.« Die Tiere winselten leise und gingen mir die Treppe hinauf zur Türe voran, die nun geöffnet wurde, ehe ich sie erreicht hatte. Eine Frau im Alter von etwa fünfzig Jahren, ganz in Schwarz gekleidet, kam mir entgegen; ich nannte meinen Namen. – »Ach, sind Sie's?« rief sie, »es war mir doch vor, ich hab's gleich gedacht! Denken Sie, ich bin zusammengefahren, als Sie schellten! Sie ziehen die Glocke ganz wie der Herr selig!« – Sie gab mir die Hand, führte mich in ein behagliches getäfeltes Zimmer, worin auf dem Fenstersims ein großer Kater ruhte und halbschläfrig nach mir hersah. Wir standen uns gegenüber und sahen uns in die Augen. Sie weinte, und auch ich konnte die Tränen nicht unterdrücken. Mit gebrochener Stimme brachte sie nach einer Pause hervor: »O, wie ist das unglücklich gegangen! Er hat mir von Ihnen erzählt, ich weiß, daß Sie die Pfahldorfgeschichte haben, ich hab' ihm recht Vorwürfe gemacht, daß er so grundlos Geheimnis hielt, er war darin gar so eigensinnig, doch gegen das Ende ist er milder geworden, und als die Sachen ankamen mit Ihrer Karte, so wollte er Ihnen schreiben oder Sie besuchen, aber dann verschleppte er es wieder, nun kam das Unglück, und danach in seinen letzten Stunden hat er noch einmal von Ihnen gesprochen und mir das Versprechen abgenommen, Sie noch recht herzlich zu grüßen, auch noch einen Auftrag gegeben, von dem wir ein andermal reden wollen.«

»Und das Unglück? Wie ist es geschehen?«

Wir hatten uns gesetzt.

Sie fing an: »Mein Vetter war seit der Nachricht von der Schlacht von Gravelotte –«

Sie wurde durch ein Klopfen unterbrochen. Ein Polizeidiener trat ein, blieb an der Türe stehen und sagte, den Kopf schief haltend und schmunzelnd: »Frau Hedwig, 's Gewöhnliche!«

Die Frau wurde hochrot bis unter die Stirnhaare, ging zu einem Schranke, holte Münze heraus und gab sie dem Polizeimann, der, immer noch halblächelnd, mit Verbeugung abging.

Ich hatte verstanden – das Glas! Also auch sie – auch diese sichtbar so gehaltene, verständige Frau! –

Sie machte sich beiseite zu schaffen, suchte ihr Gesicht zu verbergen, besann sich aber, trat vor mich, sah mich fest an und sagte: »Göschenen – ich weiß.« Mir kam mitten im Weh das Lachen, ihr auch, und sie überließ sich der befreienden Erschütterung, während ihr noch die hellen Tränen in den Augen standen. Und so lachten zwei redlich tiefbetrübte Menschen ein Duett.

Der Ernst stellte sich schnell genug wieder ein, und sie erzählte:

»Herr Einhart kam im Frühjahr 1866 von seiner zweiten Reise nach Italien zurück. Die erste hat er im Jahre 1860 gemacht. Er hatte Italien früher sehen wollen; ein Jahr Urlaub von 1847 auf 1848 war, das weiß ich, zuerst für Norwegen, dann für Italien bestimmt. Damals muß ihn nicht nur ein Nervenfieber aufgehalten haben, das ihn dort heimsuchte, dort spielt ein Geheimnis, und statt über die Alpen ging er in den Kampf für Schleswig-Holstein. Genug, es gelang ihm zwölf Jahre später, das ersehnte Land endlich zu sehen. Er kam sehr erfrischt und erheitert zurück, mit ganz besonderer Empfindung sprach er von den umbrischen Bergstädten, hielt aber ein paarmal auffallend schnell inne, als ihn die Schilderung der Madonnen der alten sienesischen Meister auf den dortigen Frauentypus zu sprechen brachte. Das neue größere Amt, das er um dieselbe Zeit angetreten, nahm nun seine ganze, stets willige Arbeitskraft in Anspruch. Lassen Sie mich für jetzt schweigen von den Dingen, die nachher kamen, von seinem Sturz, von der Stimmung, in welcher er die zweite Reise nach Italien unternahm, auf welcher er im Hinweg Sie kennenlernte. Nach seiner Rückkehr ging es im Anfang ordentlich, er lebte gesammelt in seinen Reiseerinnerungen, manchmal freilich befiel ihn eine plötzliche Unruhe, und es schoß der Gedanke in ihm auf, er wolle wieder fort, wieder nach Italien. Er schob es auf das nordische Wetter, mir wollte scheinen, es müsse noch etwas andres dahinter stecken. Es kostete mich Mühe, ihm den Einfall auszureden. Ab und zu taute er auf und sprach dann prächtig über einige Hauptstellen seiner Reise, über Land und Leute, über Formen und Farben der südlichen Natur, über Kunstwerke, die er sah, wie sie nicht jeder sieht, nämlich mit den eignen Augen. Dabei fehlte es nicht an komischen Beobachtungen und Erlebnissen, und so hat er mir denn auch den großen Opferakt, den er auf der Hinreise auf dem Gotthard mit Ihnen vollzogen, heiter und feierlich erzählt. Doch immer kehrten dunkle Stunden wieder; ich mußte denken, der verschlossene Mann verschweige mir irgendwelche neue trübe Erfahrungen.«

»Hat er Ihnen auch erzählt,« fragte ich, »was jenem Auftritte voranging?«

»Nichts,« war die Antwort. Sie fuhr fort: »Nun blieben auch neue Verkältungen nicht aus und warfen sich ihm wie immer auf die Schleimhäute, und da war er dann, wie Sie sich denken können, – schrecklich –«

Ich unterbrach sie mit der Frage, ob sie ihn auch schwer krank gesehen und wie er dann sich gehalten habe.

»O, wie ein Lamm,« war die Antwort; »kein Wort der Klage. Zweimal hab' ich's erlebt: einmal Gesichtsschmerz, glücklicherweise vorübergehend; man hörte kaum ein unterdrücktes Stöhnen; einmal eine Luftröhrenentzündung; dieses Mal sprach man ihm von möglichem Tode, und er nahm es ganz unbewegt auf. Nur zu beklagen war's, daß er fast alle Pflege abwies. Ein Kranker sei ein Lump, stieß er aus, der müsse bescheiden sein und sich hübsch verbergen. Uebrigens sagte er auch gern, wenn man seine Geduld rühmte: ›Das Moralische versteht sich immer von selbst.‹ Um jene Zeit nahmen auch seine sehr guten Augen etwas ab, er wurde fernsichtig, mußte zum Lesen eine Brille, zu augenblicklicher Aushilfe eine Lorgnette tragen. Nun kam das häufige Suchen, das ewige Putzen, wobei er jedesmal über die Heimtücke der Stangen wetterte, daß sie hindernd über die Gläser hereinfielen, und, was noch schlimmer war: die Schnur, woran er das Gläschen trug, tat ihm gar so viel Schabernack, fing sich an einem Westenknopf, schob sich in die Brusttasche mit ein, wenn er sein Notizbuch hineinstecken wollte, so daß es sich staute, und das immer am liebsten, wenn die Sache Eile hatte. Herr meines Lebens, ist er da wild geworden!«

»Kenne, kenne, weiß,« sagte ich etwas ungeduldig.

»Inzwischen war es in der Welt draußen ja zum Kriege zwischen Preußen und Oesterreich gekommen. Sie können sich denken, wie es einem alten Kämpfer für Schleswig-Holstein zumute war, als die Sache diesen Gang nahm, als nun die Preußen in Böhmen einrückten, als Schlag auf Schlag ihre blutigen Siege folgten. Man sah dem Mann einen schweren inneren Kampf an, er sprach wenig, ich hörte ihn droben häufig mit starken Schritten auf und ab gehen. Einmal sagte er: ›'s ist unrecht, aber es wäre schwerlich anders gegangen,‹ das andre Mal: ›es wäre schwerlich anders gegangen, aber es ist unrecht, es wird nachhaltig der öffentlichen Moral schaden.‹ Aus seiner Abendgesellschaft im Stern kam er meist aufgeregt, oft verstimmt nach Haufe. Wenn ich ihn zu beruhigen suchte und zur Langmut ermahnte, konnte er sagen: ›Es sind eben Parteisimpel, alle bis auf einen.‹ Er meinte einen jungen Mann, den Assessor. Schließlich schöpfte er doch immer wieder Hoffnung. Man konnte merken, daß ein Umschlag alter Ansichten in ihm vor sich ging. Einmal fuhr er bei Tische plötzlich auf, trat ans Fenster, als sähe er nach dem Wetter, und sagte dann mit einem Tone wie ein Schlafredner: ›Da ist Hoffnung, ja, ja, – der Spieler in Frankreich – der hilft uns noch – ein guter Krieg korrigiert den schlimmen und die Mainlinie.‹

»Die Jahre,« fuhr sie fort, »zogen sich so hin, er warf sich wieder recht auf seine Bücher. die Laune wurde erträglicher, und als ich einen jungen Kater von ungewöhnlichem Feuer eintat, war er dessen sehr zufrieden. Dort sitzt das Tier, aber es ist seit seinem Eintritt ins mannbare Alter sehr langweilig geworden, ganz rein materiell, der Selige hat einmal behauptet, er habe den Kerl überrascht, wie er aus seiner Bibliothek Büchners Schrift: ›Kraft und Stoff‹ hervorgezogen hatte und studierte. – Im vorigen Jahr kam wieder ein ganz böser.«

Frau Hedwig nahm mit Grund an, ich wisse hierzu das Hauptwort zu ergänzen. –

»Ich riet ihm, den Winter in Rom oder lieber in Palermo zuzubringen und vorher oder nachher Neapel zu besuchen, das er noch nie gesehen hatte. Schon öfters, ja schon in den vorderen Mannesjahren, war man für seine Brust besorgt gewesen; er muß doch eine sehr starke Natur gehabt haben, daß die Lunge den Folgen so vieler Verkältungen so lange zu widerstehen vermochte. Er ließ sich meinen Vorschlag gefallen, ja mehr als dies, mir schien aus einzelnen abgebrochenen Winken diesmal wie früher, nur noch merklicher, hervorzugehen, es treibe ihn neben dem besonderen Reiz, den das klassische Land auf eine so nordische Natur üben mußte, noch etwas Einzelnes, Geheimes. Freche Raubanfälle waren damals in Sizilien vorgekommen, das machte ihm keine Sorge, doch nahm er die Reise diesmal schwerer als sonst und war viel in Gedanken. Kurz vor Aufbruch fiel es ihm ein, er wolle das Tal ›noch einmal‹ sehen, wo er vier Jahre, vom vierzehnten bis zum achtzehnten, in einer Erziehungsanstalt zugebracht hat. Er hatte immer gern von jener Zeit gesprochen, von den alten Klosterräumen, worin die Schule sich befand, von der Schönheit des Tales, von den alten Kameraden. Still und sichtbar weich gestimmt kam er zurück und trat bald darauf die Reise an. Er schien sich nach den wenigen Lebenszeichen, die mir aus der Entfernung zukamen, in Neapel, dann in Palermo ganz munter zu befinden. Ueber Pompeji schrieb er einen ausnahmsweise langen, gar schönen Brief; durch den tiefen Ernst seiner Schilderung und Betrachtungen schien mir etwas wie eine Todesahnung hindurchzuklingen, am Schluß aber sprang er auf seine Weise in Scherz um, indem er berichtete, er beschäftige sich jetzt profund mit der Frage, ob die Griechen und Römer auch Hühneraugen gehabt haben; er habe die Figuren der Verschütteten, die man durch Gipseinguß in den Lavamantel gewonnen, mikroskopisch genau darauf angesehen, aber leider sei die Epidermis zu sehr zerstört. Von Palermo sollte im Frühling eine Rundreise durch die Insel angetreten werden, aber auf einmal kam ein Brief aus Rom, dann lange keiner mehr, ich dachte, er sitze nun im römischen Gebirge, als endlich, um die Zeit des Kriegsausbruchs, ein paar hingeworfene Zeilen aus Assisi anlangten, die mir seine plötzliche Rückreise anzeigten. Ein paar Wochen darauf war er da, eigentümlich verändert. Es war etwas Geklärtes in seinen Zügen, die Stirne erschien glätter, der Blick freier und heller, die Mundwinkel neigten nicht mehr zu dem bitteren Zug nach unten. Er erklärte, er wolle in den Krieg. Ich erschrak, wiewohl ich es voraussehen konnte; es wäre ein Wunder gewesen, wenn der Freiwillige von 1848 sich nicht in ihm geregt hätte. Nach seinem Kraftmaß reichte auch die Rüstigkeit noch aus, aber mit so unseliger Haut, zu schweren Verkältungen so entsetzlich geneigt, wie wäre es möglich gewesen, die Strapazen, namentlich die Beiwachen, auszuhalten! Mit so schwarzen Farben als denkbar malte ich ihm das vor und stellte ihm das Gespenst eines Nervenfiebers in Aussicht. ›Nervenfieber oder Schuß,‹ rief er, ›gleichviel, doch anständig gestorben!‹ Er wollte ein freiwilliges Jägerkorps, ein berittenes, errichten, gewann Freunde zu Niedersetzung eines Komitees, man wandte sich an das Kriegsministerium, er schaffte sich ein neues Reitpferd an und nahm bei einem Rittmeister Lektionen in der Offizierschule. Da kam mir ein Unfall zu Hilfe: er stürzte auf einem Ritt und verrenkte den Fuß. Er pflegte auf ebenem, sicherem Boden äußerst vorsichtig, ja ängstlich, dagegen auf schlimmen, gefährlichen Wegen ganz tollkühn zu reiten; so sprengte er eines Tags über einen holprigen, steinigen Abhang, und zwar ohne Anstoß, aber auf der bequemen Landstraße angekommen, machte er durch unnötiges Zockeln sein Pferd unruhig, es scheute an einem Papierblatt auf dem Wege, stieg, kroupierte, fiel mit ihm, und er konnte noch von Glück sagen, daß er mit verletzten Fußsehnen davonkam. So erfuhr man es von einem Augenzeugen, er selbst wetterte auf die bösen Geister, die ihm solches angetan, während er doch so vorsichtig sei. Sie können sich denken, wie schlecht er die Geduldprobe des langen Stillhaltens, Schonens, nachdauernden Hinkens in so drangvoller Zeit bestanden hat. Inzwischen wurde das kriegerische Vorhaben ohnedies vereitelt, da die Regierung, nachdem sie sich zuerst geneigt erwiesen, am Ende doch abschlägig beschied. So war es denn kein Wunder, wenn die klare und freie Stimmung, die A. E. von der Reise mitgebracht hatte, nicht vorhielt. Aber es war da noch etwas andres, als Mißlaune; wäre es diese allein gewesen, sie hätte den Siegesbotschaften, wie sie sich auf dem Fuße folgten, doch nicht zu widerstehen vermocht. Sie entzückten ihn auch, aber dahinter stieg ein dunkler Geist in ihm auf, den ich anfangs nicht enträtseln konnte, der erst nach und nach durch bestimmtere Aeußerungen mir verständlich wurde. ›Ich bin der Eulenspiegel,‹ sagte er einmal, ›der heult, wann's lustig bergab geht.‹ Als der Tag von Sedan kam, rief er, sichtbar den Jubel der Seele unterdrückend: ›Ach Gott, ach Gott! so viel Glück ertragen die Deutschen nicht!‹ Schließlich folgte das klare Wort: ›Wir werden unser Ziel erreichen, aber von so viel ungewohntem Gelingen auch einen schlimmen Butzen davontragen; wenn der Tempel aufgebaut ist, gebt acht, wie sich die Fälscher, Krämer, Wechsler, Wucherer breit darin einnisten werden!‹ Am Abend jedoch ließ er frei und hell den Freudensturm des Herzens hervorschießen und gab seinen Hunden einen Festschmaus. So trieb es ihn um. Wo er Schlechtes sah – und es gibt dessen genug in unsrer Stadt, mein Herr, gar viele wollen schneller reich werden, als es mit Ehre und Gewissen vereinbar ist, und die Mehrheit ist gar genußsüchtig, Verbrechen, Raub, Totschlag, Brandstiftung häufen sich – da wurde er noch grimmiger als sonst, beklagte aufs neue, was verschmerzt schien, den Verlust seines Amts, seiner Amtsgewalt –«

Wie sehr es mich drängte, über diesen schweren Schlag, den sie mir schon angedeutet hatte, Näheres zu erfahren, wollte ich doch mit Fragen jetzt nicht in die Erzählung eingreifen; ich sah der Frau an, daß sie sich dem Schlusse näherte, ihr Atem wurde kürzer –

»Um die Zeit mußte wieder ein Katarrh kommen, und als er sich erträglich abwickelte, stellten sich bereits Anzeichen eines neuen ein. In diesem Zustand geht er eines Tags aus – zum letztenmal: man brachte ihn mir ohnmächtig mit einer tiefen Wunde in der Hüfte.«

Sie verfiel in Schluchzen und sammelte sich mühsam, den Bericht zu vollenden. »Er begegnete auf der Landstraße einem Fuhrmann, der mit grausamen Hieben ein überladenes Pferd mißhandelte. Es war ein Mensch, den er einst als Vogt wegen derselben Roheit scharf bestraft hatte. Zuerst ermahnt er ihn ruhig, bekommt darauf eine rohe Antwort und der Barbar haut nur noch wilder auf das Tier los. Einhart entreißt ihm die Geißel, sie raufen, der Fuhrmann vermag ihn nicht zu bewältigen, zieht sein Messer und versetzt dem Pferd mehrere Stiche; jetzt haut A. E. mit der entrissenen Peitsche auf den Wüterich ein, dieser springt wie ein Tiger gegen ihn und das Messer fährt ihm in die Hüfte.

»Leute, die des Weges kamen, fanden den Fuhrmann zu Boden gerissen und hier festgebannt vom drohenden Rachen des Hatzrüden, daneben den Verwundeten; ein Wagen wurde rasch herbeigeschafft, die Kunde verbreitete sich pfeilschnell, als man ihn durch die Straßen führte; ein Freund, der Assessor, kam herbeigeeilt und brachte unsern Arzt schon mit, den er unterwegs aufgeboten hatte. Wir trugen den Ohnmächtigen aufs Bett, ich und der Assessor, nachdem mit seiner Hilfe ein Verband angelegt war, verließen das Zimmer, um durch keinen Laut den Schlummer zu stören, in welchen nach schmerzhaftem Zucken die Ohnmacht übergegangen war. Der Arzt hat mir nachher so erzählt: nach einiger Zeit schlug der Kranke die Augen auf, schien mit Verwundern sich in dieser Lage und den Arzt neben sich zu sehen, besann sich eine Weile und nickte dann wie einer, dem Entschwundenes zum Bewußtsein kommt. Er fühlte an seine Hüfte, nickte noch einmal, nahm dann nach einer neuen Pause die Hand des Arztes und sagte: ›Doktor, eine Gewissensfrage: Ist anzunehmen, daß ich noch einen kriege?‹ Der Doktor war in kurzem Kampfe mit sich, erwiderte dann ruhig den festen, wartenden Blick des Kranken und sagte: ›Kaum.‹ – ›Ich danke,‹ versetzte dieser und zog die Glocke.

»Wir waren indessen schweigend, in tödlicher Spannung im Nebenzimmer gestanden, traten jetzt leise hinein, A. E. sah uns der Reihe nach freundlich an und sagte dann mit schwacher Stimme, aber in ganz warmhellem Tone: ›Freut euch mit mir, ich kriege keinen mehr, ich weiß es vom Doktor da! Ich darf anständig sterben. Es ist doch so auf eine Art, wie wenn ich im Kriege gefallen wäre.‹ Der Arzt widersprach nicht. Der Kranke fiel wieder in Schlummer. ›Warum sollte ich es ihm verschweigen?‹ flüsterte nun jener uns zu, ›er ist ein Mann; wir müssen uns gefaßt halten, er ist unrettbar, jede weitere Behandlung seiner Wunde würde nur die Qual vermehren; er wird den Tag nicht überleben.‹ Wieder erwacht, gab A. E. ein Zeichen, daß er ein Wort mit mir allein sprechen wolle. ›Frau Base,‹ sagte er, als die andern das Zimmer verlassen hatten, ›in Platos Phädon hat mir immer etwas so gut gefallen: wie Sokrates den Tod herankommen fühlt, sagt er den Freunden, sie sollen dem Asklepios einen Hahn opfern; das möchte ich wohl auch tun.‹ Ich übernahm den Auftrag, er sank mit geschlossenen Augen ins Kissen zurück, schlug sie aber nach einigen Minuten wieder auf und sagte: ›Wissen Sie was? wir lassen es, mein' ich, lieber bleiben, es wäre doch nur eine Nachahmung, und dann, warum soll der Gockel, der zum Opfer ausersehen würde, nicht noch eine Weile fröhlich und stolz scharren und krähen und sein Hühnervolk beherrschen?‹ Die Augen fielen ihm wieder zu, er entschlummerte, schien zu träumen, seine Lippen zuckten, er sprach: ›Tief da unten wirbelt die Reuß! Wie tobt sie! Hinab? Nein!‹ – Er wachte wieder auf und fragte: ›Wo ist er?‹ – ›Wer?‹ – ›Der Reisekamerad!‹ – Er nannte Ihren Namen, kam klar wieder zu sich und nun hat er mir den herzlichen Gruß an Sie und den Auftrag gegeben, den ich Ihnen mitteile, wenn ich Ihnen seinen Nachlaß zeige.

»Die Männer traten wieder ein. Er wurde schwächer und schwächer, die Zwischenräume tiefen, matten Schlummers länger. Gegen Abend aber richtete er sich mit unerwarteter Kraft im Bett auf und sprach mit fester Stimme: ›Ich hab's erleben dürfen, daß meine Nation zu Ehren gelangt, und ich will mit Manneskraft die Angst abschütteln, daß der traurige Ansatz sittlicher Fäulnis in ihr fortfresse; ein Volk, dem zu Ehren der Weltgeist den Tag von Sedan eingeleitet hat, kann nicht so bald verlottern! – Ach, daß ich nicht mittun konnte, – bringt Wein!‹ Ich sah den Arzt an, er nickte; es wurde Rheinwein gebracht, jedem ein Glas gefüllt, er hob das seine, stieß an und trank es kräftig aus. Dann fiel er in solche Ermattung, daß wir den letzten Augenblick gekommen glaubten; er begann aber noch einmal zu phantasieren, er schien sich träumend in der Schlacht zu befinden und in heißer Bedrängnis Befehle zu geben, die Stimme war aber zu schwach zum Ruftone, man vernahm nur gepreßte Laute; die Worte: Signal – Front – Feuer – Bajonett – Klumpen bilden! – sind mir, wie fremd auch einem weiblichen Ohr, im Gedächtnis geblieben, – die Lippen bewegten sich lautlos noch kurze Zeit, das Haupt sank zurück, doch nach einer Viertelstunde etwa erwachte er noch einmal, da unversehens der kleine Hund, der Schnauz, winselnd auf sein Bett sprang, während Tyras daneben saß und kein Auge von seinem Herrn verwandte. Er reichte mir matt die Rechte und sprach: ›Ich danke Ihnen für alle Treue; droben im Schreibtisch, mittleres Fach, liegt mein letzter Wille.‹ Mit der Linken streichelte er dann zuerst den kleinen, dann den großen Hund, zu dem er noch kaum hörbar murmelte: ›Armes, treues Tier, hast mir nicht mehr helfen können.‹ Nach einer Pause stammelte er noch wenige Worte; ich meinte zu verstehen: ›Kommst du, Erik, führst – an der Hand? Sie nickt –‹ Mitten in diesen gebrochenen Lauten verschied er. Der zweite Name, den er genannt, war mir unverständlich geblieben, er klang nicht deutsch.«

Wir schwiegen lange. Ich drängte alle weiteren Fragen über Persönlichkeit und Leben des Verstorbenen zurück; es war mir nicht danach zumute, jetzt weiter zu reden; ich brach auf. Eine Einladung zu Tische lehnte ich dankbar ab, bat dagegen am Abend eintreten zu dürfen, begab mich in meinen Gasthof und ging nach Fassung ringend in meinem Zimmer auf und nieder. Peinlich genug war es mir, in dieser Stimmung an der Wirtstafel sitzen zu sollen, dennoch mochte ich nicht allein auf meinem Zimmer essen, es schien mir noch unheimlicher. Einige Stammgäste und wenige Fremde saßen am Tische. Unter jenen war ein junger Mann, dessen Gesicht mir wohlgefiel, ich meinte einen Ausdruck von Vernünftigkeit in seinen Zügen zu sehen; er trug eine Brille, die ihm doch keinerlei Anschein von Wohlweisheit gab, und fixierte mich ein paarmal flüchtig, ohne den geringsten Anflug lästiger Neugierde. Ich brach vor Beendigung der Tafel auf, er folgte mir und sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich als Unbekannter mich Ihnen selbst vorstelle, Assessor N. Ich habe vom Wirt erfahren, daß Sie gekommen sind, nach unserm Verstorbenen zu fragen; ich schließe, Sie seien der Herr, den er auf seiner zweiten italienischen Reise kennen gelernt hat; er hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind wohl begierig, Näheres von ihm zu erfahren. Nicht eben viel, doch einiges kann ich Ihnen mitteilen.« Das war denn der junge Mann, den Frau Hedwig erwähnt hatte; ich nahm dankbar sein Anerbieten an und er schlug mir auf die spätere Nachmittagszeit einen gemeinschaftlichen Gang vor. Bis dahin streifte ich zuerst planlos durch einige Straßen der Stadt, immer begleitet von dem Gedanken: diese Häuser, diese Wege sind das Bild gewesen, das täglich in sein Auge fiel; daran verspürte ich, wie teuer mir der Tote geworden war. Tief in Betrachtung versunken wartete ich dann zu Hause, bis ich abgeholt wurde. Der Assessor schlug mir einen Gang um die Stadt und dann zu Einharts Grabe vor; wir brachen auf, und sobald wir uns außerhalb der belebteren Straßen befanden, bat ich den jungen Mann, mir zu erzählen. So erfuhr ich denn die früheren Lebensumstände.

»Ich war Referendär unter ihm,« begann er, »als er noch wohlbestellter Vogt war – – Sie wissen, der alte Titel für unsre Oberamtleute oder Bezirkspolizeidirektoren? – Er war rasch in das hiesige Amt, einen bedeutenden Wirkungskreis, vorgerückt; man hatte ihm verdenken wollen, daß er auf einer Urlaubsreise im Jahr 1848 sich von Norwegen nach Schleswig-Holstein aufmachte und mitkämpfte; er war damals Beamter in einem kleinen Landkreis, im Jahr nach seiner Rückkehr aber gelang es ihm, eine große Gaunerbande durch die Umsicht und die Straffheit seiner Fahndungen zu bewältigen. An einem Kampfe mit den zwei überlegenen Führern nahm er persönlich Teil und riß den einen, der seine Pistole auf ihn abgefeuert, zu Boden. Bald darauf wurde er auf den größern Posten hierher versetzt. Ein Jahr vor seiner Entlassung trat ich als junger Anfänger bei ihm ein. Haarscharf streng war der Mann in der Ordnung des Dienstes, ein Minos und Rhadamant gegen rohe oder frivole Willkürexzesse, gegen alles, was nach Zuchtlosigkeit aussah, insbesondere richtete sich sein Eifer auch gegen die Tierquälerei, einen Zug von Roheit, der in unserm Volke leider sehr stark ist und in dem er ein Hauptsymptom wachsender Verwilderung sah; seine Polizeimannschaft war streng angewiesen, diese Form der Barbarei scharf zu überwachen. Dabei ganz unpedantisch, nachsichtig, soweit irgend das Amt es erlaubte, gegen Ausschreitungen harmloser Art, hilfreich, höchst tätig in Pflege von Wohltätigkeitsanstalten, in Verbesserung der Gefängnisse, in Austreibung von Mitteln zur sittlichen Rettung Bestrafter, und äußerst mild in der Form, wo nicht Kampf gegen Trotz und schlechten Willen geboten war, dann aber, wenn dies eintrat, voll imponierender Straffheit und wohlbeherrschten, befehlenden Zornes. Der Mann war nun aber doch wenig beliebt bei der Regierung. Man kannte seine Mücken, die ich Ihnen nicht zu nennen brauche; man war zur Nachsicht geneigt, obwohl es dabei nicht ohne Ausschreitungen ablief, die am allerwenigsten bei einem Polizeibeamten vorkommen sollten. Da muß ich Ihnen doch einen einzelnen Fall erzählen. Die ›Exekutionen‹, die er an ›strafwürdigen Objekten‹ vorzunehmen liebte, sind Ihnen vielleicht bekannt.«

»Ja, ziemlich,« sagte ich kleinlaut.

»Sie galten gewöhnlich nur leblosen Gegenständen. Einmal aber hatte ihn ein Hund durch wiederholten Ungehorsam erzürnt. Er war sonst nur zu gut gegen Tiere, aber wo es Disziplin galt, verstand er auch da keinen Spaß und konnte sehr hart sein. In seinem Grimm packt er den Hund und schleudert ihn aus dem Fenster. Der Unstern will es, daß das Tier einem Menschen an den Kopf fliegt und ihn zu Boden wirft. Der Mensch war zufällig ein Ministerialrat und Abteilungschef im Ministerium des Innern. Mit großer Mühe wurde der schlimme Fall abgeglichen; der Herr hatte eigentlich auf Realinjurie klagen wollen wegen Werfung eines Hundes an den Kopf‹. Man sah durch die Finger, weil der Täter im übrigen ein so verdienter Beamter war. Auch bei einigen starken Verstößen in seinen Amtsrechnungen kam er mit leichter Rüge davon. Uebler vermerkte man allerdings, daß er zu Hause Philosophie-, Literatur- und Kunststudien trieb, man roch hinter denselben politische Ketzerei. Und hier lag nun ein bedenklicher Punkt; er war politisch eben gar nicht so ganz korrekt. Er war von der Freiheitsbewegung der Jahre von 1848 nicht berauscht worden, aber zu sehr ein Mann des Rechtes, um die Stumpfheit, Roheit und Heuchelei, die nach ihrem Niedergang ans Ruder kam, nicht von Herzen zu verabscheuen und offen zu verdammen. Sie kennen die Jahre der schnöden Reaktion, Sie wissen, wie Schleswig-Holstein preisgegeben wurde, Sie werden sich vorstellen, wie das dem Kämpfer von Bau in die Seele schnitt; nun kam die Wiederaufrichtung des Bundestags, kamen die Reden vom christlichen Staat, die Bündnisse zwischen der Gewalt und ihrer vermeintlichen Stütze, der Hierarchie, die Konkordate, kam die Begrüßung Napoleons III. als Retter der Gesellschaft. Ich verfolge nicht die weiteren Ereignisse in der politischen Welt bis in den Anfang der sechziger Jahre, denn es war eine Frage der inneren Gesetzgebung, welche zu dieser Zeit die Katastrophe im Schicksal Einharts herbeiführte. Es begab sich das Wunder, daß ein Beamter, und gar ein durch seine Strenge bekannter Polizeibeamter, vom hiesigen Wahlkreis in die Kammer gewählt wurde. Es war dies sonderbarerweise ebensosehr das Werk von Umtrieben der Regierung als von Agitationen der patriotisch Gesinnten in der liberalen Partei; jene, obwohl ihm sonst doch eben nicht hold, begünstigte in ihm den Mann der strengen Ordnung, diese den Mann des Rechts und noch mehr des deutschen Einheitsstrebens. Die Dinge in Schleswig-Holstein waren soeben wieder in Fluß gekommen, und man wußte, daß Einhart zu sagen pflegte, die deutsche Kaiserkrone liege dort im Küstensand begraben, müsse dort herausgehauen werden. Einhart nahm die ungesuchte Wahl an und führte seinen Sturz herbei. Sie erinnern sich, daß damals viel von Wiedereinführung der Prügelstrafe die Rede war. Er stellte einen Antrag, der sich in den Vordersätzen nachdrücklich dagegen aussprach, weiterhin aber eine Ausnahme postulierte, und zwar gegen die Mißhandlung von Tieren. In der Kammerrede, worin er den Antrag begründete, – Sie müßten sie gehört haben wie ich! – es war ein Feuerstrom und doch alles wohlbedacht! so mag Demosthenes auf der Rednerbühne gesprüht und sonnenhell gestrahlt haben – im ersten Teil dieser Rede nahm er den Ruf der reaktionären Kreise nach Wiedereinführung der entehrenden Strafe zum Ausgangspunkt, ein vernichtendes Bild jener kurzsichtigen Leidenschaft zu entwerfen, welche damals die Regungen alles berechtigten Dranges der Nation nach einem würdigen politischen Dasein zerstampfte, welche sich nicht begnügte, die Propheten maßloser, zentrifugaler Freiheit mit später Strenge zu verfolgen, sondern auch schnöde Rache gegen alle sann, die den Gedanken der nationalen Einigung mit der Energie und Vernunft des Mannes zu verwirklichen gestrebt hatten. Aetzende Ironie wechselte mit Donnerschlägen des reinsten sittlichen Zornes. Wie arme Sünder saßen die Herren herum, die damals jene Phrase vom christlichen Staat im Munde führten, gerade diese und ihre nackte Heuchelei zerrieb er zu Staub im Mörser seiner Dialektik und seines echten Pathos. Jetzt ging er zum Bilde der Schmach über, welche die Politik der ›Feuerlöschanstalt‹ angesichts der Völker Europas über Deutschland gebracht, welche es dahin getrieben, daß ein Zwerg wie Dänemark uns verhöhnen dürfe. ›Schmach,‹ rief er, ›den Seelen, die nichts von der Ehre einer Nation wissen! – Ihr lächelt und steckt die Köpfe zusammen? Ich weiß, was ihr flüstert, ihr meint, ich habe vergessen, wer es zuerst war, der die schöne Bewegung für Freiheit und Einheit der Nation entstellt und verderbt hat, aber mit nichten ist das Unrecht derer, die dies verschuldet, euer Recht!‹ – Jetzt wurde die Front verändert, die Hiebe fielen gegen die Blindheit und Wildheit, in welcher die Demokratie durch Unmaß, rohes Treiben, Putsch und Barrikaden und Mord verwüstet hatte, was so groß, so rein im Werden war. Bis dahin war alles ein Guß aus glühendem, echtem Redemetall. Nun aber, als diese Kraftfülle entladen war und als der Redner auf sein Thema, die Prügelstrafe zurückkam, geriet er bald auf eine schiefe Fläche. Was er gegen Wiedereinführung der rohen, menschenentehrenden Strafart überhaupt vorbrachte, war nur vernunftgemäß und gut, wenn auch mitunter barock. So sagte er, indem er sie mit der Todesstrafe verglich, für die er sich erklärte, unter anderm, der unschuldig Hingerichtete habe doch nicht mehr nötig, sich aus Verzweiflung über das ungerecht Erduldete umzubringen, aber der unschuldig Geprügelte müsse ja dies noch auf sich nehmen. Dann aber, da es an die Ausnahme ging, kam mehr und mehr unausgeschiedener Stoff aus den Eigenheiten des Redners zum Vorschein. Den Satz, daß frühe Tierquäler oft zu Mördern und in politischen Stürmen zu Blutmenschen werden, stellte er nicht nur als einen allgemeinen, unbedingten hin, sondern stürmte los, als wäre er auch umzudrehen, so daß folgte, jeder Verbrecher müsse notwendig zuerst ein Tierquäler gewesen sein. Die Zuhörer wurden unruhig, fingen an zu murren, und als er nun gar verlangte, Tierpeiniger sollen auf öffentlichem Platz ausgepeitscht werden, wuchs der Tumult zu einem Gewitter, wie es unsre Kammer nie erlebt hat; rechts die Männer des Rückschritts, links die Fortschrittsleute, sie übertobten sich um die Wette, die einen gegen jene, die andern gegen diese Hälfte der Rede. Einige Augenblicke war es prächtig, zu hören, wie der Redner mit seinem mächtigen Organ diesen furchtbaren Lärm noch überdonnerte; plötzlich aber schlug ihm die Stimme über, lächerlich hohe Fisteltöne ließen sich vernehmen, Gelächter mischte sich jetzt in das Geschrei der empörten Gegner, und wütend stürzte Einhart von der Rednerbühne.« –

»Das kenne ich von unsrer Reise her, kann mir's sehr gut vorstellen. Und?«

»Die Folgen des unglücklichen Vorgangs ließen nicht lange auf sich warten. Sein Minister berief ihn, ließ ihn heftig an, worauf Einhart sagte: ›Exzellenz leiden wohl an Katarrh? Kondoliere.‹ Abends am selben Tage kam ihm ein schriftlicher Verweis zu, so gesalzen, daß er umgehend sein Entlassungsgesuch eingab. Daheim wollte das Volk sein Haus stürmen, man warf die Fenster ein, und der Frau Hedwig, die krank zu Bette lag, flog ein schwerer Stein hart am Kopfe vorbei. Schnell benachrichtigt, eilte er von der Residenz nach Hause; am folgenden Abend erneuerte sich der Sturm, seine Mannschaft war zu schwach, ihn zurückzuschlagen, und als wieder Steine in die Fenster flogen, feuerte er sein Gewehr in den Haufen ab und tötete einen der Schreier. Es war ein Glück, daß gleichzeitig die Entlassung da war, da sie auf diese Handlung unerbeten hätte folgen müssen. Er kam vors Schwurgericht, es sprach ihn frei, die Notwehr konnte nachgewiesen werden und der Getötete war ein Elender aus der Hefe des Volkes.«

»Wie trug er sein Schicksal?«

»Still und fest, doch hat er's nie ganz verwunden.«

»Ich begreife doch immer noch nicht, kann mir eine Persönlichkeit, die doch so vorwiegend Innenleben war, als Polizeimann nicht denken. Wie reime ich den verbohrten Phantasiekampf gegen den kleinen Zufall mit dem Willensschritt einer tätigen Natur?«

»Je nun, in wie manchem stecken zwei Naturen! Uebrigens ist doch ein Zusammenhang. Er war eine befehlende Kraft und eine dichterisch denkende; den befehlenden Mann empörte der Widerstand der unbotmäßigen toten Dinge, denen der dichterisch vorstellende einen Willen lieh, und den harmoniesuchenden Denker das Chaos der Durchkreuzungen. Wissen Sie, was eines seiner ersten Worte war, als er amtlos in der Welt stand? ›Auch gut,‹ sagte er zu Frau Hedwig, ›jetzt les' ich in meinen Büchern, schreibe etliches nieder, prügle ab und zu einen argen Tierquäler und exekutioniere einiges allzu rebellische Objekt.‹« –

Wir waren an den Kirchhof gekommen und gingen an der Werkstätte eines Grabmalkünstlers vorbei. »Gerade recht,« sagte der Assessor, »treten wir einen Augenblick ein.« Er zeigte mir in der Ecke des Hofes eine Marmorplatte: »Da, sehen Sie die Inschrift an!«

Sie lautete:

»Hier ruht

nach

. . . jährigem redlichem Kampfe

gegen das                          

Albert Einhart, weiland Vogt, fernerhin nur Mensch,

geboren den 1. Juli 1815, gestorben den . . .«

Ich ahnte dunkel, was die Lücke bedeuten mochte, aber wie hätte ich die Lösung wirklich finden können? Der Assessor kam zu Hilfe. »Diesen Grabstein,« sagte er, »hat sich A. E. schon bald nach seiner Entlassung bestellt, damit er einst sein Grab schmücke. Es sollte heißen: ›Hier ruht nach (so und so viel) -jährigem redlichem Kampfe gegen das verfluchte Objekt u. s. w.‹ Aber der Tetem erfuhr es und erklärte, dieser Stein dürfe nie gesetzt werden; o, es gab schreckliche Händel!«

In mir tauchte es auf wie ein alter Traum. Die Axenstraße, dann der Gotthardpaß standen vor mir, ich sah die Felsengesichter wieder, hörte sie höhnen: »Tetem«, ich sah mich mit meiner Reisetasche wieder laufen, hörte sie mit dem absurden Laute: »Tetem, Tetem« an meine Hüfte schlagen –

»Wie? Was? Tetem? Was ist das? Wer ist das?«

»Verzeihen Sie, mein Herr, Sie sprechen die zwei E unrichtig aus; es heißt –«

»Aber so sagen Sie mir doch –«

»Die E sind eigentlich so zu sprechen wie in Flexionssilben, mit dem Nebenlaut eines dumpfen, halb nasalen A.«

»Nun ja, meinetwegen, – also?«

»Der Tetem ist unser zweiter Stadtgeistlicher, ein hochbeliebter Kanzelredner. Er heißt eigentlich Zunger. Er ist freisinniger Theolog. A. E. kannte ihn gut, er unterhielt sich gern mit ihm, denn er ist ein humanistisch wohlgebildeter Mann. Allein das Verhältnis wechselte zwischen Anziehung und Abstoßung. A. E. hatte dieser Schattierung im geistlichen Stande gegenüber statt eines Standpunktes zwei, die sich schwer vereinigen ließen und, wie es in solchen Fällen geht, wechselsweise die Oberhand bekamen. Mit seiner schwertscharfen Logik erkannte er leicht die Inkonsequenz, bis zu gewissen Grenzmarken der modernen Wissenschaft ihr Recht einzuräumen, an diesen Stellen aber ihr Halt zu gebieten oder mit schönen Redensarten sich und andern Einklang zwischen ihr und dem Dogma vorzutäuschen; ›überdies,‹ so pflegte er zu sagen, ›sind sie eben doch Heuchler auf alle Fälle, denn auch die Glaubensstücke, die sie offen für unhaltbar erklären, müssen sie in Gottesdienst und Seelsorge trotzdem jederzeit im Munde führen; was hilft da die Hintertüre des symbolischen Sinnes? Unwahr ist und bleibt unwahr.‹ Dazu kam, daß Zunger immerhin auch ein Geschmäckchen von Wohlweisheit hat. Er ermahnt gern, gibt gern erzieherische Winke; man bekommt zu fühlen, daß er der Menschennatur im Grunde nicht viel Gutes zutraut. Allein A. E. war doch auch wieder viel zu billig und gerecht, um nicht einzusehen, wie man durch Lebensbedingungen in solch ein Fahrwasser hineingeraten kann, zu klar, um nicht einzusehen, daß die Welt ohne Halbheiten nicht durchkommt und daß sich das Volk in den Händen dieser Halbdurchsichtigen unzweifelhaft besser befindet als unter den Fingern und Fäusten der Schwarzen. Ich erinnere mich, wie er einmal sagte: ›Ach, geht mir mit diesen geweihten Besserungstechnikern!‹ Aber er nahm das Wort schnell zurück: es müsse eben doch einen Stand geben, so berichtigte er sich, welcher der Wechselerziehung der Leute ein wenig nachhelfe, eine Art Sittengoumer. Sie kennen das Wort? Ich habe es von ihm.«

»Jawohl, ich auch.«

»Nun,« fuhr er fort, »so vertrug man sich denn zwar nicht ohne Ebbe und Flut, doch ganz leidlich. Ebbe pflegte namentlich einzutreten, wenn ein gewisser süßer Zug in dem würdigen Manne hervortrat. Zunger ist musikalisch und singt gern Choräle zur Hausorgel. Er gibt ab und zu Gesellschaften und schenkt es den Gästen nicht, beim Tee ein Zwischenspiel musikalischer Erbauung sich gefallen zu lassen. A. E. war einmal eingeladen und hatte dies mitzugenießen. Zunger liebt ganz besonders das Lied: ›Wie groß ist des Allmächt'gen Güte.‹ A. E. konnte es nicht leiden, nicht aufstehen. Dieser Kinderbrei, pflegte er zu sagen, reize zu entbrannter Opposition, bei so zuckerigem Lobpreis müsse es jedem, der kein Dummkopf sei, gerade recht einfallen, daß in der Natur ebensoviel, wenn nicht mehr teuflische Grausamkeit als Güte herrsche; gebe es darüber einen Trost, so sei der mit kräftigen Gedanken mannhaft zu erringen, zu erkämpfen, zu ertrotzen, denn er ruhe auf einem: trotzdem; solchen Trost sauge man nicht aus dem Kinderschnuller. Nun, erinnern Sie sich der Melodie; bitte, vergegenwärtigen Sie sich, wie sie klingt bei den Worten: ›Der mit verhärtetem Gemüte‹. Zwei ausdrucksvolle Noten fallen gerade auf die bedeutungslosen Biegungssilben des Worts: ›verhärtetem‹, und eben diese zwei Noten sang Zunger so gefühlsinnig, so höchst seelenvoll, daß allerdings ein gründlich komischer Widerspruch zwischen Sinnwert und Tonwert entstand; er schwelgte förmlich in diesem gefühlten ›Tetem‹. A. E. war zum Lachkrampf disponiert. Er versteckte sich, da er dies Uebel anpochen fühlte, unter den Zuhörern, aber es schüttelte ihn so, daß es nicht zu verbergen war, und ihm blieb nichts als ausbrechen, entwischen, abstürzen. Von da an führte bei ihm Zunger den Namen ›Tetem‹, Frau Hedwig eignete sich die Nomenklatur auch an, weiterhin ich und mehrere. Tetem nun erfuhr um dieselbe Zeit von der verrückten Grabschrift und erklärte, wie gesagt, er werde nie dulden, daß ein Stein mit solcher Inschrift auf dem Kirchhof stehe; man muß ja wohl auch zugeben. daß er es wirklich nicht konnte, nicht durfte. A. E. aber war darin unbillig, ja unvernünftig, hat ihm von da an gezürnt, daß er ihm sein ›schönes‹ Epitaphium unterdrücke, dies Zeugnis edler und gerechter Selbstachtung, das er sich nach seinem Tode vor der Welt auszustellen gedenke. Vom Tetem muß ich rühmen, daß er ihm sein Zürnen nicht nachgetragen, daß er ihm eine nach Möglichkeit dogmenfreie, nach Kräften verständnisvolle, ja schöne Grabrede gehalten hat.«

Wir waren auf den Kirchhof eingetreten. Wie ernst-andächtig hatte ich mir diesen Moment vorausgedacht! Wie anders sollte es kommen! Ich mußte mir immer den frommen Sänger mit seiner gefühlvollen Partizip-Deklinationsendung und dahinter den lachkrämpfigen A. E. vorstellen, mit aller innern Anstrengung konnte ich das alberne Bild nicht loswerden, vergeblich sagte ich mir, wie schmachvoll es wäre, wenn ich lachend an den Totenhügel träte; das wäre ja, so ermahnte ich mich, nicht ein entlastendes, rührungsvolles Lachen wie jenes, das mich am Vormittag mit der guten Frau Hedwig in einer Stimmung vereinigte, sondern häßlich, mit bösem Gewissen behaftet, armensündermäßig, wüst, schnöd, ja bübisch; gerade die grausame Anspannung des Willens gegen eine solche erniedrigende Naturgewalt wirkte mit dem Reize des Verbotenen nur doppelt stark auf das blinde Zwerchfell, damit steckte ich meinen Begleiter an, und so schritten zwei ernste Männer mit krampfverzogenen Gesichtern, momentane Ausbrüche des verhaltenen Kitterns erbärmlich verbeißend, an eine Stätte, die sie mit dem reinen Gefühl der tiefstgesammelten Trauer zu betreten gewillt waren. Ach, was ist der Mensch! Zwei Hunde mußten uns zu uns bringen. Einharts Lieblingstiere lagen auf dem Grabe, sie wedelten und wimmerten, als sie uns sahen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Mit einem Schlage war durch diesen Anblick die Stimmung gereinigt, und schnell wich die profane Träne des Lachens dem heiligen Tau, der vom kristallenen Nachthimmel frommen Gedenkens fällt, Gedenkens an gute Menschen, an Menschenlos und an das, was ewig ist.

Als wir hinweggingen, lockte ich den Hunden und sie folgten mir. »Sie sind der erste, dem das gelingt,« sagte mein Begleiter; »die Tiere schlichen dem Leichenzuge nach, sie ließen sich nicht abtreiben, seither machen sie von Zeit zu Zeit den Gang und gehorchen keinem Befehl, die Stelle zu verlassen, bis sie Nacht und Hunger nach Hause treiben.«

Der Assessor lud mich beim Abschied ein, mich am Abend des folgenden Tags im Herrenstübchen des Gasthofs zum »Stern« einzufinden, wo ich eine Gesellschaft treffen werde, in welcher A. E. an zwei Abenden wöchentlich einige Zerstreuung zu suchen gepflegt habe. Gern sagte ich zu und begab mich zu Frau Hedwig.


 << zurück weiter >>