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Gesondert vom übrigen teile ich ferner die unvollendete Skizze eines Singspiels mit, die mir beim Blättern in die Hände fiel. Die Ueberschrift bezeichnet dies Produkt als Singtragödie.
Akt I
Szene 1. Schreibzimmer
Personen:
Ein Härchen. |
Das Härchen, mikroskopisch klein, in einem Tintenfaß befindlich, trägt im dünnsten Sopran eine Arie vor, Text gerichtet an die danebenliegende Schreibfeder, welche den ausgedrückten bösen Absichten Entgegenkommendes in einer Antistrophe spitz vorträgt, hierauf entsprechendes Duett.
Demnächst Rezitativ, Baßstimme, ausgehend von einem Buch auf dem Bücherbrett über dem Schreibtisch. Kichernde Antwort von Geistern in der Tinte. Duett von Tinte und Buch vereinigt sich mit Härchen und Feder zu einem gefühlten Quartett.
Szene 2.
Personen:
Hilario, schöner Jüngling. |
Man hört Schritte, genannte Geister verstummen. Hilario tritt ein. Monolog. Hilario liebt aufs äußerste eine Jungfrau Adelaide. Ist schüchterner Komplexion, hat noch kein Wort gewagt, beschließt zu schreiben. Tunkt ein.
Härchen und Feder vereinigen sich innig, Hilario wird nach mehreren Versuchen, mit dem verfluchten Pinsel zu schreiben, sehr wild, schreibt Grobheiten statt Zärtlichkeiten.
Neue Feder. Fängt von vorn an. Es geht spießend vorwärts. Beschließt Zitat aus Petrarka. Will den Band herabnehmen, er fällt aufs Tintenfaß, das ganze Schreiben wird schwarz übergossen. Hilario beschließt in Verzweiflung, es doch mit dem lebendigen Worte zu versuchen. Er hofft, der Geliebten im Park zu begegnen, will wagen, sie anzureden.
Hinter ihm her höllischer Lachchor genannter Personen der ersten Szene.
Szene 3. Park
Personen:
Eine Pfütze. |
Arie mit einem gewissen klebrigen Etwas in der Tonfärbung vorgetragen von der Pfütze, entsprechend von Instrumenten begleitet.
Ein weißlicher Punkt schwebt herbei; derselbe erweist sich, näher sichtbar, als Hühnerauge (äußerst giftiger Blick und Gesamtausdruck). Arie: hornig harter, friktiv brennender Ton. Text offenbart teuflische Absichten. Verschwörungsduett zwischen beiden.
Akt II
Szene 1
Personen:
Die vorhergehenden. |
Hilario tritt auf, heiter gespannt, das Hühnerauge schwebt, einen feurigen Faden durch die Luft ziehend, nach ihm hin, verschwindet in seinem Lackstiefel. Er winselt, hinkt, fällt in die Pfütze, wird sehr dreckig. In diesem Augenblick erscheint Adelaide. Lacht sehr, verhöhnt ihn bitterlich. Beide ab. Triumphchor genannter Objekte, vermehrt durch Vögel, welche von Bäumen zugeschaut.
Dies wird genügen, ein Bild von A. E.s Komposition zu geben; ich darf die Geduld des Lesers nicht durch weiteren Auszug ermüden. Es genügt, noch zu erwähnen, daß die Skizze andeutet, Hilario wisse, durch einen Kampf mit einer Reihe ähnlicher Hindernisse vordringend, endlich doch Adelaidens Liebe zu erringen, eine selige Stunde werde ihm in Aussicht gestellt; dann folgt noch eine um weniges ausgeführtere Szene:
Szene X Apotheke
Personen:
Ein Kolben mit Mandelmilchsirup. |
Arie obgedachten Kolbens: weichlich zäher, doch ungleich tückischer Ton, entsprechender Text. Junge Katze erscheint; kindlich heiterer Gesang. Duett. Sehr eilig eintretend Hilario. Aus dem Nebenzimmer kommt der Apotheker. Hilario bittet sehr dringend um einige Tropfen Laudanum, der Apotheker verlangt ärztlichen Vorweis, und allzu gewissenhaft (– noch junger Gehilfe –), da Hilario solchen nicht besitzt, verweigert er die Bitte. Hilario: »dann Mandelmilch, schnell!« – Apotheker: »dies gern!« holt den Kolben, stolpert über die junge Katze, der Kolben liegt zerschellt am Boden, Hilario rasend ab. Furienhafter, grellgellender Verhöhnungschor der Scherben und der Katze. Trio mit der Jammerstimme des Apothekers.
Hier brach das Fragment mit einem wilden Fahrstriche der Feder ab, die dann wie toll in kratzigen, borstigen Linien auf dem Papier umhergewütet haben, hierauf etliche Male senkrecht aufgestaucht worden sein mußte; dies bewiesen starke, von Spritzaureolen umgebene Tintenkleckse.
Das pathologisch schnelle Abbrechen war mir nicht gerade komisch, es gab an andres, wenn auch noch so Verschiedenes, zu denken.
Bei weiterem Durchstöbern stieß ich auf eine Schicht gedruckter Blätter, auf deren Rand ich Anmerkungen mit roter Tinte bemerkte. Das Gedruckte konnte nicht von A. E. verfaßt sein, es war der Anfang eines Romans, dessen Stil und Inhalt weiblichen Ursprung erkennen ließ, das Titelblatt fehlte. Auf einem Beiblatt stand von seiner Hand geschrieben: »Das ist keine Kunst, ideal tun, wenn man alles ungenau nimmt. Wart, Blaustrumpf, wart, Gans, ich will dir's einmal zeigen! Meinst du, die Dinge der Welt laufen nur so glattweg in geölter Kurbel?«
Ich stelle einige Sätze heraus mit den Anmerkungen, um einen Begriff von diesen Korrekturen zu geben:
»Es war ein lachender Morgen Ende Augusts. Wir standen reisefertig. Der gute, liebe Onkel! Es war ihm schwer geworden in seinen Jahren, aber er hatte sich entschlossen; mein Sehnen sollte erfüllt werden, er führte mich nach Paris. Die Koffer waren gepackt –
Die Droschke war bestellt –
Endlich steigen wir in den Wagen –
Wir sitzen, das Dampfroß schnaubt, die Räder beginnen zu rollen –
Noch ein Gruß an die liebe Schwester Ida, ein Schwenken meines Tuchs –
Der Kondukteur coupiert; o, er erschien mir wie ein Götterbote, der meine Seele nach Elysium einlade –
Mir gegenüber – o schöner Anfang! ein junger Mann – in Zivil – hat aber etwas edel Kriegerisches, selbstbewußte Haltung, Blick lebhaft, dabei etwas männlich Herrschendes und doch zugleich so Feines – wohl Gardeoffizier?
Balsamische Morgenluft weht herein.
Städte und Dörfer im Sonnenglanz fliegen vorüber, die Schwalben schwirren, die Natur taucht, badet, schwimmt beseligt in sich selbst. Ja, die Natur hat Seele, sie ist doch immer seelisch besagend. Die Natur ist Geistflüsterung, der Mensch Geistsprechung, sie ist Geistduftung, der Mensch Geistblitzung. – Dies ist ein Gedanke! Ich zeichne mir ihn in mein Poesiealbum. – Und nun, du Natur der Natur, goldiger Süden, dufte mir labend entgegen!
Wehe! kann wolkenlos kein Himmel bleiben? Das lachende Antlitz der Natur trübt sich, ein Strichregen beginnt zu fallen, sie sinkt sich selbst als weinendes Kind in die Arme. Aber warum so heftig, deine Tränen netzen mich zu stark! – ›Ja, bitte, edler junger Mann, schließen Sie das Fenster –‹
Genug und wohl schon allzuviel, der Spaß wäre geradezu langweilig zu nennen, wenn der wunderliche Korrektor nicht auf eine Steigerung losarbeitete. Eine solche lag denn auch im Entwurfe bereit und daneben das Material, woraus er das Hauptmotiv hierzu entlehnte, nämlich einige Blätter aus der Schrift des bekannten Odpropheten von Reichenbach: »Der sensitive Mensch«, auf denen sich das Odleuchten der bei Schnupfen und Katarrh affizierten Körperteile beschrieben findet. Eine große »amplificatio« sollte nun losgehen. Man ist in einen langen Tunnel eingefahren. Die Lampe, angezündet, geht durch irgend einen Zufall wieder aus. Der gute Onkel hat die Reise im Zustand besagter Affektion angetreten. Jetzt, im Dunkel, bemerkt man zuerst, daß beim Husten ganze Lichtgarben, Odlicht der entzündeten Schleimhäute der Mundhöhle, stoßweise seinem Munde entfahren – (diese und alle folgenden Erscheinungen wörtlich nach Reichenbach). Bereits hat auch seine Nase zu leuchten begonnen; sie erscheint in dieser Lichtemanation drei- bis viermal vergrößert, armlang, fußdick, stets intensiver wird das Odglühen, Tausende von roten und gelben Odfünkchen entsprühen dieser furchtbaren Leuchte, dann scheint es wieder, als hänge ein großer Lichtklumpen wie eine baumelnde Laterne von ihr herunter. Aber mehr noch, Entsetzlicheres gelangt zur Wahrnehmung der Insassen des Wagens: durch die Bekleidung hindurch erscheint auf der linken Brust ein handgroßer leuchtender Fleck, – das Herz –, dann etwas tiefer, unter den Rippen, ein schräger Lappen bläulichen Lichts – die Leber des unseligen Greises. Die Augenzeugen wollen zuerst ihren Sinnen nicht trauen; ehe sie Zeit haben, die Häufung dieser wunderbaren Phänomene zu beobachten, hat sich noch andres ereignet. Der Onkel und dann der junge Mann hatten sich in die Scherben der zerbrochenen Scheibe gesetzt; sie schreien erbärmlich auf. Inzwischen sind die genannten Odstrahlungen auf solche Höhe gestiegen, daß der Ruf: Feuer! Feuerjo! mit dem Wehrufe der Verwundeten zusammentrifft. Der Kondukteur erscheint eilig im Wagen (man hat sich die langen Waggons der Schweiz und Amerikas vorzustellen), stürzt alsbald wieder fort und läßt wegen Feuergefahr den Zug stoppen, bringt den Zugführer herein, dieser erkennt in dem jungen Mann einen reisenden Künstler im Fach der natürlichen Magie, der kürzlich in der Hauptstadt aufgetreten ist, fährt ihn an mit Scheltworten über schlechte Charlatankünste; die sämtlichen Passagiere verharren in der Vorstellung, es brenne, der Onkel – ein Greis von chemisch-physikalischer Selbstkenntnis –, ruft dazwischen häufig und vergeblich: »Es ist ja nichts, es ist ja nur Od-positiv!« Die Nichte liegt in Ohnmacht, jetzt ertönt der Schreckensschrei, es komme ein Gegenzug herangebraust –
Bis hierher war dieser schreckliche Hergang skizziert, und hier fand ich das Manuskript abgebrochen. Der Urheber mußte fühlen, daß er seinen ursprünglichen Vorsatz ganz aus dem Auge verloren hatte; das war ja nicht mehr Korrektur einer fremden Arbeit, des Damenromans, sondern eigne, freie Idealdichtung (in seiner Sprache zu reden). In diese falsche Wendung war er begreiflicherweise hineingeraten, weil ihm die unterbrechenden Schulmeisterrotstriche denn doch entleidet waren und weil er denn doch fühlen mußte, daß jede seiner Zwischenbemerkungen die folgende und so den ganzen Roman aufhob. Nun hatte er es aber doch auch nicht darauf angelegt, selbst zu dichten, also ging das eine nicht und das andre nicht, also: Punktum, Ende!
Haben diese grillenhaften Phantasien, wie sie bis in die Schnurre, die Kinderei ausschweifen, den hartgeprüften Leser verdrossen, geärgert, fast um die Geduld gebracht, so söhnt er sich doch vielleicht mit dem schiefgewickelten Manne wieder aus, wenn er nun im Tagebuche die Goldfäden findet, die sich durch das bunte Garn dieser Wicklung reich und stark hindurchziehen. Das feinste dieses Goldes ist Denken, philosophisches Denken, »des Menschen allerhöchste Kraft«. Ob man darum den Mann einen Philosophen nennen darf, das freilich ist eine Frage; ich enthalte mich, das Wort darüber zu nehmen, das Tagebuch mag selbst antworten. Vielleicht ist ein Teil des inneren Unglücks in diesem Leben auf dieser Stelle zu suchen; der Leser wird Andeutungen finden, die dahin zeigen; vielleicht trug es zu seiner Verstörung bei, daß die Mischung der Kräfte in ihm zu bunt war, um der edelsten ein gerades und ausgewachsenes Gebilde zu erlauben. Und doch war sie stark genug, ihrer Gegenfüßlerin, der Phantasie, des Raumes so viel wegzunehmen, daß ihr dieselbe Hemmung widerfuhr. Freilich ist es mit diesem bunten Teil des Einschlags an sich schon eben auch seltsamlich bestellt; der Weber neigt zu sehr zum Zickzack, als daß man ein harmonisches Geflecht von ihm erwarten könnte, und wir dürfen es ihm wohl immerhin gutschreiben, daß er es dieser Neigung wenigstens abgerungen hat, die Pfahldorfgeschichte fertigzubringen, die doch in einem gewissen Sinn ein Ganzes genannt werden kann. Diese ist aber auch das einzige Durchgeführte; da und dort finden sich Fäden für andre Kompositionen, sie brechen jedoch ab, sind fallen gelassen, und so kann man schließen, daß auch nach dieser Seite ein Gefühl des Unglücks über eine unterbundene Ader in ihm umwühlte; denn er wollte tätig sein, wollte leisten, wollte der Welt etwas sein. Was ich Zickzack nenne, dazu gehört auch eine über das Maß gehende Liebe zum Elemente der närrischen Vorstellung. Oft mußte ich schon beim ersten Durchlesen an Lichtenberg denken. Obwohl ich einige der stärksten Proben dieses Zuges vorausgenommen habe, möge sich der Leser doch erinnern, daß ich ihm nicht die Aussicht eröffnen konnte, es werde ihm nach überstandener Geduldprobe im folgenden nur Vernünftiges geboten werden; auch des Tollen im ebengenannten Sinne wird ihm noch manches aufstoßen. Es wäre in der Tat ein verkehrtes Tun, wenn ich eine völlige Ausscheidung vornehmen wollte, so verkehrt, wie wenn ich frei über die Reihenfolge der Blätter disponierend versuchen würde, in das Durcheinander eines Tagebuchs, geführt unter den Impulsen des Augenblicks von einer tief, heftig und widerspruchsvoll bewegten Natur, eine logische Ordnung zu bringen.
Noch finden sich andre Fäden, die der wilden Farbenmischung einen sehr ernsten Untergrund geben, schwarz wie die Nacht, wohl auch blutrot. Ich fand zwischen den Blättern ein schwarz eingesiegeltes Paket. Ich scheute mich, es in jenen Tagen zu öffnen, die ich in der Heimat des Verstorbenen zubrachte. Ich ahnte Erschütterndes und wollte es für jetzt ruhen lassen mit dem Toten, der es überwunden hatte; ich wollte dem Ganzen eines abgeschlossenen Lebens in still wehmütiger Betrachtung nachschauen, kein Teil dieses Ganzen sollte mir in dieser Stimmung reinen Schmerzes zur erschreckenden Gegenwart werden. Wie sehr fühlte ich, daß ich recht getan, als ich nachher zu Hause die Siegel öffnete! Das Rätsel, das jene zwei Frauenbilder uns vorgelegt, es löste sich, wiewohl nicht zu völliger Helle. Ein zuckendes Schlaglicht fiel auf ein schweres, ja furchtbares und nach Ueberwindung des Schwersten immer noch tragisches Stück Menschenleben. Einen Beitrag zu weiterer Lösung brachte mir später ein Zufall, von dem ich berichten werde. An der Stelle, wo im Tagebuch eine große Lücke aufstößt, werde ich als Herausgeber das Wort ergreifen und einfügen, was ich durch diesen Zufall erkundet habe. Alles Dunkel wird freilich auch durch diese Nachhilfe nicht gehoben. Uebrigens war A. E. in dem Versiegeln von Stücken, denen er besonders intime Erlebnisse anvertraut hatte, nicht konsequent. Im offenen Teil der Manuskripte finden sich der Stellen nicht wenige, die sich auf den gewitterdunkeln Inhalt jener Blätter beziehen, auf den schrecklicheren ihrer Lücke raten lassen, und man sieht in einen Zusammenhang, der sich weiterhin durch das Ganze dieses schwergeprüften Lebens als nächtliche Stimmung ausbreitet. Ein Leser, den auch der Gedankenernst des Verstorbenen noch nicht mit seinen Launen, seinem barocken Humor versöhnt haben sollte, wird, so darf ich wohl voraussetzen, wenigstens durch Teilnahme an den Stürmen, die durch dieses Leben gefahren sind, zu größerer Nachsicht bewegt werden, um so mehr, da doch in der Schlußstimmung, so viel möglich, die harten Mißklänge sich lösen.
Bedauerlich ist, daß man nichts von der Jugendgeschichte des Verfassers erfährt; das Tagebuch beginnt nicht früher, als mit dem Antritt seines ersten Amtes. Man möchte so gern Aufschluß darüber erhalten, aus welchem Boden ein Baum mit so krausgebogenen Aesten entsprungen, unter welchen Einflüssen er so knorrig und krumm und doch auch so tüchtig gewachsen ist. Mir ziemt jedoch nicht, den Gedanken, die sich der Leser hierüber bilden mag, mit Schlüssen und Vermutungen aus meiner Werkstatt vorzugreifen.
Sehr vieles habe ich gestrichen, die Blätter könnten mit weit mehr Recht ein Tagebuch genannt werden, wenn ich allen Stoff aufgenommen hätte, was doch gewiß nicht zweckmäßig gewesen wäre. Ein Teil desselben besteht aus einer Masse ganz trockener Notizen. Es sind in den Abschnitten, welche der Zeit der Amtstätigkeit angehören, meist Vormerkungen für die Tagesaufgaben, man sieht in ein sehr pünktliches, gewissenhaftes Arbeiten hinein. Außerdem findet sich überall eine Menge äußerst kleinlichen Zeuges; A. E. zeichnet sich auf, wo man diese und jene Bagatelle am besten kauft, zum Beispiel Hemdknöpfe von richtigem Profil; für die Reisen besonders ist in dieser Richtung umständlich vorgesorgt; sehr wichtig wird überall die Frage nach guten Gasthöfen behandelt, und es läßt sich erkennen, daß A. E. ein bitterer Feind der Häuser war, die auf vornehmen, modernen Fuß eingerichtet sind; eifrig meidet er, was Hotel heißt, und weilt dagegen gern, wo es noch in gutem patriarchalisch-gemütlichen Stile zugeht. Gerät er in ein Gasthaus der ersteren Klasse, so kann man die Zwischenbemerkung finden: »Einen naseweisen Kellner geschüttelt«, oder: »Die Bougies auf die Straße geschmissen«, oder: »Händel wegen der Zeche«, während in einem albergo, das er als alt gediegen belobt, Trinkgelder von auffallend splendider Höhe notiert sind. Für die Städte sind überdies als Frucht eines sichtbar eifrigen Nachfragens häufig die Geschäfte bemerkt, wo man den und jenen Artikel des Reisebedürfnisses gut einkauft, namentlich findet sich die Fußbekleidung ernstlich bedacht. In Venedig heißt es einmal: »Wieder eine Stunde bei meinem wackeren calzolajo gesessen; guter Alter, enge Werkstätte malerisch; intelligenter Kopf, begreift den Fuß.« Zwischen solchen Notizen liest man einmal: »Da bittet mich eine deutsche Dame in Mailand, sie mit belehrenden Winken für ihre weitere Reise auszurüsten. Bereitwillig nenne ich ihr gute Gasthöfe, gebe ihr den wertvollen Rat, nie anders als mit genügend ausgetretenem Schuhwerk zu reisen und so weiter, sie sieht mich verblüfft und verstimmt an und gesteht dann ihre Enttäuschung. Dumme Menschen! Jetzt meinen die, ich werde mit ästhetischen Phrasen – ›Italiens ewig blauer Himmel – entzückendes Panorama – Perle der Plastik – göttliches Gemälde‹ – und derlei loslegen – Donnerwetter! Wer kann Schönes sehen, Schönes fühlen, wenn ihn ein Hühnerauge brennt! Wer widrig wohnt, hat für nichts Stimmung, wer nicht gern zu Haus ist, den freut auch draußen nichts. Das Höhere versteht sich ja immer von selbst! Für die Basis, die Vorbedingung, muß gesorgt werden.« Solcher Zwischenbemerkungen, weil sie doch charakteristisch erscheinen, hätte ich vielleicht mehr aufnehmen sollen, aber da sie meist mit so viel trockenem Inhalt verzahnt sind, war es zu schwierig, sie anzuschneiden. – Zwischen diesen Dingen liegt in dichten Garben die Ernte wichtigerer Vorstudien gehäuft: Auszüge aus Reisebüchern, Geschichtswerken, namentlich aber aus kunsthistorischer Literatur. Man sieht mit Vergnügen: der seltsame Mensch war soweit ganz vernünftig, daß er gut einsah, man könne nie zu wohl vorbereitet auf Reisen gehen. In der Tat hängt ja von dieser Stoffsammlung, die dem Naturmenschen als etwas Totes erscheint, nichts Geringeres ab als die Belebung der Stätten, die der Reisende besucht.
Ehe ich an die Veröffentlichung ging, habe ich mich nach . . . begeben und das Ganze des Tagebuchs Frau Hedwig vorgelegt. Man kann sich denken, wie die Mitteilung der besonders inhaltschweren Abschnitte sie bewegte. Einverstanden war sie mit mir, daß ich mich nicht scheuen dürfe, auch diese Teile der Oeffentlichkeit zu übergeben. Sie sind zum Verständnis des Ganzen der Persönlichkeit nicht zu entbehren, und übrigens hat ja der Tod »eine reinigende Kraft«. Auch das Wildeste, ja das Grasse erscheint abgekühlt, erscheint wie unter einem dämpfenden Flor, wenn das Leben abgeschlossen, wenn es ein Vergangenes geworden ist.
Nur weniges bleibt mir noch zu erzählen, ehe ich das Wort an die sprechenden Blätter abtrete.
Mein ganzer zweiter Tag jenes ersten Besuches in . . . war einer vorläufigen Durchsicht des offenen Teiles derselben gewidmet; abends holte mich der Assessor ab, um mich unsrer Verabredung gemäß in die Gasthofgesellschaft zu bringen, in welcher der Verstorbene ein paarmal jede Woche seine Abenderholung zu suchen pflegte.
»Spielen Sie Billard?« fragte mich ganz außer Zusammenhang mein Begleiter, als wir uns mit einiger Schwierigkeit aus der stark belebten Hauptstraße vorwärtsbewegten.
»Warum? Wird denn heut abend dort –«
»Nein, nein, nur um zu wissen, ob Sie das Spiel kennen.«
»Wohl, ich habe früher nicht ungern gespielt.«
»Nun, dann wissen Sie, was man Dessin nennt, mit oder ohne Dessin spielen, – verzeihen Sie mein rasches Fragen, – ich wollte eigentlich vom Seligen reden –«
»Sollte der ein leidenschaftlicher Billardspieler –?«
»Durchaus nicht, konnte es wenigstens in Konversationszimmern nicht ausstehen –›verklappert uns das Wort im Munde – macht den Gelben des besten Gedankens ins Eckloch‹ konnte er sagen; – ich bedurfte nur des Wortes Dessin.«
»Wir können es mit Vordenken übersetzen.«
»Recht, also Vordenken. Sehen Sie, ging man mit dem Seligen durch diese Straße, da hatte man seine liebe Not. Er war so furchtbar heftig gegen unbequemes Indenweglaufen, er ging auch sehr schnell –«
»Jawohl, und straff geradlinig, immer die kürzeste Linie beschreibend, es schien mir, er könne gar nicht schlendern, ich bemerkte, daß er, wo irgend möglich, bei Biegungen des Weges die Sehne des Bogens ging –«
»Freilich! Freilich! Und im Menschengedränge, da war es ja nicht möglich, so direkt und rasch nach dem Ziel zu eilen. – Nun brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen, daß er das sehr wohl begriff, so unvernünftig, so sinnlos ungeduldig war er ja nicht. Er nahm das Gedränge ganz in Rechnung, faßte mit seinen scharfen Sinnen das Raumbild mit den darin sich bewegenden Menschen blitzschnell auf und zog sich im Geist augenblicklich eine Linie, auf welcher er durch die gegebenen Lücken wie ein Pfeil hindurchschießen wolle. Bei dieser Linearberechnung vergaß er nur, daß der Zufall noch schneller ist als unsre Strategie, und in solche Engpässe im Nu neue Wanderer hineinzuschieben pflegt. Wenn nun das geschah, so wurde er – nicht sogleich, aber bei lästiger Wiederholung – geradezu wütend; er erklärte die Eindringlinge für Menschen, die sich von den Teufeln aufstiften lassen. Wir gingen einmal just in dieser Gegend hinter drei Menschen her, welche die Breite der Fußbank einnahmen und uns zu langsam sich vorwärtsbewegten. An ihnen vorüberzukommen, will A. E. einmal, zweimal den Moment benutzen, wo sich ein Zwischenraum zwischen oder neben den dreien ergab, jedesmal wird uns der freie Raum verrannt, und als das zum drittenmal kam, verlor er die Fassung so sehr, daß er dem harmlosen, unbekannten Täter im Anstreifen zurief: ›Welcher Teufel führt Sie in meine Thermopylen?‹ Der Herr schoß mit einem unwilligen Grunzen weiter, kehrte dann rasch um, holte A. E. ein, hielt ihn an einem Rockknopf und sagte: ›Wohin, Herr Leonidas? nach Fernau?‹ (unsre Irrenanstalt). – ›Nein, o Xerxes, nur zum Hades!‹ antwortet A. E. sehr ruhig und ernst. Im Weitergehen sagte er mir, es habe ihm allen Zorn niedergeschlagen, daß der Herr etwas griechische Geschichte wisse. – Es war kurz vor seinem Tode.«
»Hübsch, daß Sie mir das erzählen,« sagte ich, »ein Bild des Lebens –«
»Nicht wahr? Dies Durchkreuztwerden im Gehen –
›Wenn aller Wesen unharmonische Menge |
Und sein straffes Zielen im Gang ein rechtes Bild jener Menschen, die von einem besonders feinen und scharfen Gefühl des Zweckmäßigen heimgesucht sind –«
»Ja, zu vordenkende Naturen, die stets übler durchkommen als die glücklich Blinden, welche einfach zutappen, – Naturen, denen das Leben so schwer wird, weil sie das Zweckwidrige zehnmal wunder reibt als den gröberen Nerv.«
»Prometheus, nicht vom Geier, sondern von Spatzen zerhackt –«
Wir waren im Abendzirkel angekommen. Außer ein paar Herren, deren Namen und Stand ich vergessen, fand ich den Diakonus Zunger (Tetem), den Oberförster, zwei Aerzte, einen pensionierten Kameralverwalter. Ich wurde natürlich als ein Freund des Verstorbenen vorgestellt. »Eben recht,« sagte der Oberförster, »wir sind gerade einmal wieder am Thema.«
Der eine der Aeskulape – mit Namen Schraz – der Assessor sagte mir nachher, A. E. habe ihn früher zum Arzte gehabt, dann »wegen sehr dummer Art von Verständigkeit« aufgegeben – dieser Doktor Schraz hatte behauptet, das verstorbene Mitglied sei ein Gesprächtyrann gewesen, habe nur sich wollen reden hören. Der Oberförster hatte ihm halb und halb beigestimmt.
»Das erlaube ich mir zu bekämpfen,« sagte Zunger, »und es ist – verzeihen Sie, meine Herren – ungerecht von Ihnen, so zu urteilen. Der Herr Vogt wurde mindestens ebenso ärgerlich, wenn man andre, als wenn man ihn unterbrach. Erinnern Sie, Herr Oberförster, sich nicht mehr, wie er damals fortlief, weil man Ihnen öfters in die Rede fiel?«
»Ja, ja, damals,« sagte der andre Arzt, »wie Sie die Geschichte von Ihrer isabellfarbigen Diana erzählten mit der Wurst und –«
»Und wahr ist's erst noch,« rief jetzt der Nimrod, der plötzlich das eigentliche Thema vergaß; er ließ sich gern anreizen, noch einmal zu erzählen, und nach einer begeisterten Charakterschilderung seiner Hündin, die »mindestens so gescheit sei wie ein Mensch«, erfuhren wir denn, daß der Jägersmann dieses edle Tier einmal ertappte, wie es so ganz unter seine Würde herabsank, daß es in der Küche eine Bratwurst stahl. »Und dann?« riefen die Zuhörer. »Und wahr ist's und bleibt wahr,« beteuerte er, seinen langen, blonden Schnurrbart streichend, »ich nehme Gift darauf, die Diana, wie sie mich sieht, läßt die Wurst fallen und wird feuerrot im ganzen Gesicht –«
Ich lachte herzlich mit dem Chore, ein errötendes Tier war auch mir neu, weit neuer als die Behauptung dieses Münchhausen, seine Diana könne veritabel lachen.
Man kam auf A. E. zurück, seine Tierliebe, man erfreute sich der Eigenschaft, nur Doktor Schraz fand sie »etwas kindlich«. Dann brachte ihn die Hundsgeschichte auf das Anekdotenwesen, und dies gab dem wenig Wohlwollenden Anlaß, den Toten zu beschuldigen, daß er doch ein gar zu starker Anekdotenerzähler, ein Meidinger II. gewesen sei.
Jetzt fiel lebhaft der Assessor ein: »Haben Sie nie bemerkt, meine Herren, daß er in dieser Richtung immer nur dann loslegte, wenn sich Sondergespräche am Tisch auftaten? wenn dann auch das zu laute Sprechen anfing? Die Leute zu einem Gespräch zusammenbringen mit jedem Mittel – helfe, was helfen mag! – war das keine gesellige Tugend? Ist unsre Unterhaltung nicht harmonischer geflossen, solange er uns so zusammenhielt?«
»Doch jedenfalls über die Maßen nervös hat er's getrieben,« meinte der Oberförster; »das führt denn doch weit, wenn man gar keine Teilgespräche an einem Tisch dulden will, es hat doch so mancher mit dem und jenem etwas Besonderes zu reden.«
»Nervös,« sagte der andre Arzt (er hieß Volkart); »nun, wenn man will. Oft nennt man normale Nerven kranke, denn die der Mehrheit sind stumpf und so erscheint ihr das Richtige als pathologische Ausnahme. Bemerken Sie, wenn abends in einer Familie die Lampe aufgestellt wird: die Kinder halten sich die Augen zu, die Flamme blendet sie. Das ist aber gesunder Sehnerv, und abgestumpft ist der von uns Alten, der keine Blendung empfindet. Grellem Lichte kommt aber doch gewiß ein Gewirre von Gesprächen gleich.«
»Es war eben doch überhaupt eine besondere Art von Gehirn,« bemerkte jetzt der Geistliche; »wir dürfen fast sagen: eine Annäherung an Wahnsinn –«
»Nun, nun,« versetzte Doktor Volkart; »ja und nein, nein und ja, jedenfalls nimmermehr bis zu der Linie, wo es Gegenstand für Psychiatrie wird, – wer ergründet Gehirnleben!«
Jetzt fuhr Doktor Schraz auf: »Ich wiederhole, was ich oft gesagt: kein Narr war er, sondern – erlauben Sie mir das Wort männlich zu bilden: ein Kokett, denn Coquard sagt nicht ganz dasselbe. Gespiegelt hat er sich in seiner Seltsamkeit und gespielt mit uns und allen.«
Das Wort entzündete Aufruhr, es entstand ein Durcheinander von lebhaften Reden und heftigen Gegenreden; der Widerspruch war fast allgemein, ich bemerkte, wie der Assessor lächelnd dem Tumulte zusah, und meinte auf seinem Gesichte zu lesen, was ich ungefähr auch dachte: daß nämlich der Doktor ein mikroskopisch kleines Körnchen Wahrheit, das dem Inkulpaten nicht im mindesten zur Unehre gereichte, zum groben Klumpen aufgeschwellt hatte. –
Dem Geistlichen gelang es, den wirren Streit zu beschwichtigen. Mit gehaltener Würde sprach er, nachdem die Ruhe hergestellt war: »Einen Vorwurf freilich können wir dem guten Manne nicht ersparen: all diese Ungeduld beruhte schließlich doch einfach auf Unglauben an die Vorsehung, an einen persönlichen Gott.«
»Im Krieg schießt man mit Fleiß auf die Leute,« sagte jetzt ruhig der Assessor.
»Wie? Was? Wie?«
»Ich meine es nur formal logisch,« versetzte mild der junge Mann. »Wenn jemand aus allerlei Gründen, zum Beispiel wegen der großen und allgemeinen Grausamkeit in der Natur, namentlich aber aus sehr scharfer Erkenntnis der unendlichen Durchkreuzungen in der Welt dahin gelangt, daß er dem einen, das allem zugrunde liegt, die Persönlichkeit absprechen zu müssen glaubt, so kann man doch nicht sagen, das komme eben daher, daß er sie ihm abspreche.«
»Und an eine sittliche Weltordnung hat er doch geglaubt,« fiel Doktor Volkart so rasch ein, als befürchtete er von den sprechbereiten Lippen des Kanzelredners einen längeren Vortrag.
»Ohne Gründer und Hüter!« rief der eifrige Mann.
»Ohne einen, aber mit vielen, sehr vielen!« erwiderte für den Arzt der Assessor.
»Ja, das ist auch wahr, beim Moralischen war er streng fest, sagte ja auch so oft: das Moralische versteht sich immer von selbst,« so unterstützte nun der ehrsame Oberförster.
Das Gespräch verstrickte sich wieder zu einem Wirrwarr, worin es stets aufs neue sich um den Punkt der einen Frage drehte, ob die Grillen des Verewigten nicht viel weiter gegangen seien, als zulässig, als mit Vernunft, Würde und Normalstand der Menschennatur vereinbar sei. Die ganze Zeit über hatte der pensionierte Kameralverwalter, der unten am Tisch saß, beharrlich geschwiegen. Ich hatte mir ihn öfters betrachtet. Er gehörte zu jenen bequemlichen alten Herren, die einen ganzen Abend stockstill in einer Gesellschaft sitzen; die einzige dramatische Belebung, wodurch sie etwas Wechsel in die absolute Gleichheit dieses Daseins bringen, besteht darin, daß sie von Zeit zu Zeit bedächtig die Zigarre aus dem Mund nehmen, die Meerschaumspitze betrachten, wie weit sie braun geraucht sei, und sie ebenso bedächtig, ja feierlich wieder in den Mund stecken. So hielt es auch dieser stumme Herr, mit der einzigen Zutat, daß er bisweilen die Hand langsam über seinen Kahlkopf gleiten ließ, wie um zu prüfen, ob die sorgsam von hinten herübergekämmten grauen Härchen noch ordentlich liegen. Der Assessor hatte mir, bemerkend, daß mein Blick öfters mit Behagen auf dem behaglichen Schweiger verweilte, einmal zugeflüstert: »Ueber diesen hat der Selige einst zu mir gesagt: ›der ist so trocken, ich muß in die Hand spucken, wenn ich nur an ihn denke; der Mensch feiert ja ordentliche Bacchanalien, Orgien der langen Weile‹; dennoch hat er ihn gern gehabt.« Nun, dieser Herr begann jetzt unter allgemeinem Erstaunen über das Wunder, daß man ihn zu mehr als ein paar Worten ausholen hörte: »Ich bitte, meine Herren, da hab' ich heut in dem guten alten Buch Simplizissimus von Grimmelshausen[Am Anfang des 17. Kapitels im dritten Buche.] etwas gelesen, das hab' ich mir wörtlich gemerkt, mir scheint, es passe hierher: ›Ich glaube, es sei kein Mensch in der Welt, der nicht seinen Sparren habe, denn wir sind ja alle einerlei Geschöpfe, und ich kann bei meinen Birn' wohl merken, wann andre zeitig sind.‹«
Die Herren wurden nachdenklich und still. Mir schien das Zitat nicht übel, nur zu wenig. Ich gestehe, daß es mich anwandelte, die Gesellschaft mit der Paradoxie zu erschrecken, der Selige habe mit seinen angeblichen Grillen überhaupt recht gehabt. Ich tat es nicht, ich dachte: für den Hausbrauch ist das Wort des behäbigen Herrn gerade ausreichend, und was den Gescheiteren, den Assessor, betrifft, der wird sein Teil schon von selbst hinzudenken. Das Gespräch verlief und warf sich dann auf andre Gegenstände.
Das sind die Brocken aus jener Abendunterhaltung, die ich mir vor Bettgehen aufzeichnete und die ich dem Leser nicht vorenthalten zu dürfen glaubte. Ich nahm des andern Tages mit dem Vorsatz, von Zeit zu Zeit wiederzukommen, gerührten Abschied von Frau Hedwig und vom Assessor und reiste mit meinem Papierpack nach Hause.
Es ist noch zu erzählen, daß ich vor ein paar Jahren im Herbst die Gotthardstraße und den Schauplatz unsrer Großtat wieder besucht habe. Den Wirt in Göschenen fand ich nicht wieder, von den schönen Bellinzonesen sah ich nichts mehr, der Granitblock gegenüber dem Wirtshause war verschwunden, die ganze Ortschaft schien italienisch geworden, denn sie wimmelte von welschen Arbeitern am Bau der furchtbaren Höhle, die Menschenhand durch die Eingeweide der Granitwelt bohrt: bleiche, traurige Gestalten, die man mit ihrer Hängelampe zu dem dumpfen, stickluftschwangeren Schlunde schleichen sieht, als ginge es ins Grab. Als ich vom Marsche bis Andermatt wieder zurückkam und das Dorf rasch durchschritt, kam mir jemand nachgelaufen und sprach mich an. Es war eine wohlgetane Frau von vorgeschrittenen Jahren in sauberer, ländlicher Kleidung; »ach,« rief sie, »verzeihen Sie doch, schon heut vormittag meinte ich Sie zu erkennen, sind Sie denn nicht der Herr, der Anno Fünfundsechzig dazumal mit dem andern Herrn –?« Ich ersparte ihr gern die Mühe, einen Satz zu vollenden, der die nicht leichte Aufgabe hatte, rücksichtsvoll zu bezeichnen, was Tolles damals geschehen war, und bejahte um so eher, da ich gleichzeitig die Frau zu erkennen meinte, die damals mit dem Kind auf dem Arm so still vorwurfsvoll unserm Beginnen zusah. »Burgi! Burgi!« rief sie zurück, »komm doch, komm!« Ein blühendes Mädchen kam nachgelaufen. »Sieh, das ist der Herr, der kann uns erzählen von unserm Wohltäter, der ist mit ihm dagewesen.« Ich küßte das Mädchen auf seine erdbeerfrischen, roten Backen. »Damals war es ein mageres, bleiches Kind,« sagte sie, »und ich ein dürres, hungerbleiches Weib; wissen Sie denn auch? Ein Kapital, von dem wir einen Acker und zwei Kühe kaufen konnten; mit Sparen und Hausen haben wir's dann zu einer kleinen Wirtschaft gebracht, wir geben jetzt Arbeitern Kantine, aber keine schlechte, über die unsrige hat's nicht den Krawall gegeben, und das Kapital, aus Deutschland ist's gekommen von dem guten, lieben Herrn, ach, nun kann ich ihn noch grüßen, ihm tausend, abertausendmal danken, sagen Sie ihm: vergelt's Gott sein ganzes Leben lang und noch im Himmel droben!« Ich schwieg vorerst von dem, was seither geschehen, ging mit der Frau in ihr Haus, fand in der reinlichen kleinen Wirtsstube ihren Mann, der mir herzlich die Hand drückte und ein Glas feurigen Veltliner vorsetzte. Ich begann zu erzählen und suchte den einfachen Menschen einen ungefähren Begriff von dem Manne zu geben, den die Frau so närrisch gesehen und der dann ihr Retter geworden. Nun hielt ich nicht mehr zurück mit dem traurigen Ende. In der Ecke saß ein italienischer Arbeiter in verschossener Sammetjacke, er bat mich, da er die Tränen der tiefbewegten, dankbaren Menschen sah, ihm zu ergänzen, was er nicht verstanden hatte. »Ah, che bravo!« sagte er dann und bewegte die braune Hand nach den dunkeln Augen. –
Ich nahm herzlichen Abschied von den guten Leuten und machte mich auf den Weg, um in Wasen zu übernachten. Unweit des Dorfes fuhr ein Wagen an mir vorüber, in welchem ich den würdigen alten Herrn und die zwei Knaben zu erkennen glaubte, die ich einst in Bürglen an der Tafel getroffen hatte. Es war an einer Steigung, der Wagen fuhr langsam. Ich bemerkte, wie die Knaben, nachdem sie aufmerksam nach mir hergesehen, dem Alten etwas zuflüsterten. Er ließ halten und fragte mich höflich, ob er nicht im Spätsommer 1865 das Vergnügen gehabt, mich in Bürglen an der Tafel zu treffen; er sagte, er erinnere sich zwar nicht, daß ich damals an der Unterhaltung teilgenommen hätte, wohl aber, daß ich Herrn Einhart halb fremd, halb wie ein Bekannter gegrüßt. Er bot mir an, einzusteigen, ich schlug höflich ab; er mochte mir aber anmerken, daß ich zwischen Unlust, zu fahren, und Drang, ihn zu sprechen, im Kampfe stand, und fuhr fort: »Wir füttern in Wasen die Pferde, werden eine starke Stunde verweilen; könnten wir uns dort sprechen?« Ich bejahte gern. Wasen war bald erreicht. Herr Mac-Carmon, so hatte er sich mir vorgestellt, kam mir entgegen; schnell war unser Gespräch im Fluß, und schmerzvoll teilte er mir mit, er sei auf dem Rückwege nach Schottland von Italien, er habe sich schwer vom Grabe seiner Tochter getrennt, der ihr Mann, ein schwedischer Arzt, sieben Jahre im Tode vorangegangen sei. »Sie ruht neben ihrer Mutter,« sagte er mit brechender Stimme, »die auch jung gestorben ist auf einer Reise, die ich mit ihr nach Perugia, ihrer Vaterstadt, machte. Beide konnten das Klima Schottlands nicht ertragen, und meiner Tochter hat wohl das norwegische den Todesstoß gegeben. Zweimal habe ich Cordelia zu ihrer Erholung nach Italien gebracht; wir verweilten den Winter, nachdem wir Sie in Bürglen getroffen, in den umbrischen Städten, wir begaben uns vor wenigen Jahren wieder dahin, als ihre Kräfte sich immer schwächer erwiesen, unsre Nebel, unsre Winde zu ertragen. Sie war nicht mehr zu retten, sie starb in Assisi und ruht in Perugia.«
Ich drückte ihm schmerzergriffen, schweigend die Hand. »Sprechen wir von Einhart,« fuhr er nach einer Pause fort; »Sie kannten ihn doch wohl näher?« Ich erzählte in kurzen Zügen von der sonderbaren Einleitung unsrer Bekanntschaft, der augenblicklichen Verstimmung, die uns dann trennte und beim Mittagstisch in Bürglen auseinander hielt, ich erwähnte, wie unser Verkehr durch neues abenteuerliches Zusammentreffen rasch wieder in Fluß gekommen, faßte alles Weitere im Abriß zusammen und berichtete vom blutigen Ende, das der Unglückliche gefunden. Mac-Carmon sah tief erschüttert eine Weile vor sich nieder und sagte dann: »Das also war die Ahnung Cordeliens? – Sie hat ihn kurz vor ihrem eignen Ende gesehen, nachdem auf unsrer früheren Reise eine Spur von ihm in Assisi aufgetaucht, aber schnell wieder verschwunden war.« Ich sagte, daß ich dies aus dem Tagebuch entnommen habe. »Und auch die Ahnung?« fragte der Schotte. Auf meine Erwiderung, daß nur ein paar Worte in diesen Blättern auf einen solchen innern Vorgang dunkel hinweisen, erzählte er mir, als Cordelia in Assisi der Auflösung nahe im Haus ihrer Tante darniederlag, sei ganz unvermutet von A. E. ein Brief eingetroffen mit der Frage, ob sein Besuch nicht unwillkommen wäre. Am Abend vorher sei die Nachricht von der Kriegserklärung zwischen Frankreich und Deutschland nach Assisi gelangt, und in der Nacht habe Cordelia geträumt, sie sehe den alten Freund verblutend neben einem Pferde liegen. »Ohne daß wir,« fuhr er fort, »eben geneigt wären, an mystische Fernsicht der menschlichen Seele zu glauben, wollte uns unter dem Eindruck der aufschreckenden Kriegskunde dieses Traumbild doch wie ein prophetisches erscheinen, und die schwere Stimmung, in die es uns versetzte, hat dann diesem Wiedersehen eine gar dunkle Farbe gegeben, die ich doch keine trostlose nennen kann, denn – o, Sie hätten diesen Abschied zwischen beiden mit ansehen müssen! – Das war –« – »Die wenigen Worte der hinterlassenen Blätter lassen mich erraten, was das für eine Stunde war,« ergänzte ich die stockende Rede. Ich meldete ihm jetzt vom Testamente, von der Vollmacht, die es in meine Hand gelegt, teilte ihm mit, daß ich eben im Begriff stehe, das Interessanteste aus dem Tagebuch zu veröffentlichen, und ließ nicht unerwähnt, daß ich hier auf Lücken und Andeutungen rätselhafter Art, auf schweres Dunkel zwischen jähen, kurzen Lichtern gestoßen sei. »Einige Aufhellung kann ich Ihnen geben, wenn auch keine volle,« sagte der tiefbewegte Mann, »Sie werden dann auch erst ganz verstehen, warum mir die Worte nicht gehorchen wollen, ein Bild von jener Scheidestunde zu geben; wer vermochte es mit trockenem Auge zu sehen, wie er ihre blasse Hand drückte und mit Tränen bedeckte, mit welchem Blick seine Augen zu ihr aufschauten! – Sie sollen, so viel ich zu berichten weiß, erfahren, was in Norwegen geschehen ist, lassen Sie uns hinaus ins Freie gehen.«
Ich nahm die nötigste Erfrischung und trat dann einen Gang in die nächsten Feldwege mit ihm an, der uns nahe an der tosenden Reuß hinführte; ihr dumpfes Donnern in tiefgefressener Felsschlucht war die rechte Begleitung zu dem, was der Mann mir zu sagen hatte.
In einer Bewegung, die der Leser im Verfolg begreifen wird, nahm ich Abschied von Vater und Enkeln, die in der Nacht noch Flüelen erreichen wollten. Die Knaben waren schlank emporgewachsen, seit ich sie das erstemal gesehen hatte, der eine schon zum Jüngling entwickelt. Sie hatten beide die dunkeln, großen, von langen Wimpern beschatteten Augen der Mutter und blickten mich an wie einen Vertrauten ihres Kummers, ich umarmte die Frühverwaisten und küßte sie auf die reinen Stirnen.
Mit fliegendem Stifte und, ich gestehe es, mit zitternder Hand zeichnete ich mir in der Herberge auf, was ich vernommen, und beschloß, nicht, wie ich gewollt, in Wasen zu übernachten. Ich hätte nicht schlafen können, ich zog einen nächtlichen Marsch bis Amsteg vor, um durch Ermüdung Ruhe zu finden. Es war ein dunkler Gang, dunkel von innen wie von außen.
Freier und heller wurde es in mir, als am andern Vormittag der Vierwaldstättersee im Gürtel seiner stolzen Ufer groß, weit, den blauen Himmel spiegelnd vor meinen Augen sich auftat. Das sonnige Bild schien mir zu sagen, daß im unendlichen All doch jeder Mißlaut sich lösen muß, und ich durfte es mir bestätigen, indem ich bedachte, daß auch der umgetriebene Sohn der Erde, mit dem ich einst dort drüben auf der Axenstraße gewandelt, doch freien Geistes über den Rissen und Klüften in seiner Seele schwebte und daß ihm gegönnt war, mit einer letzten reinen Rührung im Gemüte sein Einzelleben dem Weltall zurückzugeben.
Das Dampfboot war stark besetzt, ich zog die Stille und Einsamkeit eines Marsches auf der Axenstraße bis Brunnen vor und wanderte so meines Weges, in Erinnerung versunken. Ein Bote begegnete mir, ein Esel zog seinen kleinen Wagen. Ich erkannte den Mann jener Szene wieder, die vor Jahren hier vorgefallen; er war etwas gealtert, sah aber ganz behäbig aus. Ich sprach ihn an, wurde von ihm ebenfalls erkannt, und nun erzählte er, der sonderbare und doch gute Herr sei im Frühling 1866 erschienen, um nachzusehen, ob er Wort gehalten; er habe ihm seinen Esel gezeigt, dann seien sie zusammen nach der Ortschaft N. gegangen, einen »Kollegen« zu besuchen, der von ihm bewogen worden, ebenfalls seinen Zughund mit dem leistungsfähigen grauen Huftier zu vertauschen, dann habe der Herr sie beide ins Gasthaus mitgenommen, bewirtet und ihn reicher beschenkt, als er versprochen hatte.