Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer
Friedrich Theodor Vischer

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Hier ist es, wo die Blätter des Tagebuchs auf eine lange Lücke schließen lassen. In diese Lücke tritt, was ich von Mac-Carmon in Wasen vernommen habe. Ich lasse ihn sprechen.

»Mein Schwiegersohn Erik lernte A. E. kennen auf einer Bärenjagd in den Jostedalsgebirgen und behandelte ihn als Arzt, da er verwundet wurde. Er schien auch in der Seele wund, – sie kamen sich im Austausch ziemlich nahe, doch nur aus hingeworfenen einzelnen Worten konnte Erik auf eine Verstörung schließen, deren bestimmtere Ursache ihm undeutlich blieb; einige abgebrochene Reden, die er in der Phantasie des Wundfiebers hervorstieß, legten aber den Schluß auf eine schwere Erfahrung mit einem Weib nahe.

»Erik kehrte nach Bergen zurück, wo er sich niedergelassen. Von A. E. wußte er nur, daß er sich Drontheim zugewendet. Ein paar Monate waren vergangen, da glaubt er nachts beim Schein einer Laterne A. E. zu erkennen, der in wildem Laufe keuchend an ihm vorüberstürzt. Er vernimmt ein heiseres Fluchen, von Husten und Niesen seltsam, fast komisch unterbrochen, und erinnert sich, daß A. E. öfters über Neigung zu katarrhalischen Affektionen geklagt hatte. Der kurze Lachreiz verging ihm, als er im Nachschauen etwas wie einen Dolch in der Hand des nächtlichen Springers funkeln sah. Er kann noch wahrnehmen, daß die dunkle Gestalt einem Hause zueilt, das vereinzelt an einem Kanale des Hafens steht; er sieht jemand aus dem Hause treten, A. E. den Begegnenden anhalten, er meint zu beobachten, wie er den blinkenden Stahl gegen ihn hebt, dann aber den Ruf zu vernehmen: ›Nein, nicht dir!‹ Verworrene Laute gedrängter Bewegungen lassen auf ein Ringen der beiden schließen, es folgt ein platschender Schall, wie wenn ein Körper ins Wasser fällt, Erik ist inzwischen näher gekommen, sieht einen Schwimmenden sich an die gegenüberliegende Kanaltreppe durcharbeiten, A. E. aber in dem Hause verschwinden. Es war ihm nicht unbekannt, daß hier eine durch Schönheit und Geist ausgezeichnete, aber von dunkeln Gerüchten umsponnene Dame wohnte; er bemerkt Licht in den Zimmern zu ebener Erde; nach wenigen Minuten hört er hinter den Fenstern einen Schrei, einen dumpfen Fall, kurz darauf stürmt A. E. aus der Haustüre und sinkt nah an der Schwelle zu Boden. Er beugt sich über ihn, befühlt ihn, kann kein Blut entdecken; ›nichts, nichts!‹ hört er ihn hauchen. Er läßt vorerst von ihm ab, denn ohne Verzug muß erkundet werden, was im Hause geschehen ist. Erik tritt rasch ein, sieht eine Tür offen, aus welcher Helle dringt, und im Zimmer eine weibliche Gestalt am Boden liegen; eine Dienerin ist um sie beschäftigt, Erik bemerkt einen Dolch am Boden und ruft: ›Hier ist ein Mord geschehen!‹ Bei diesem Laut erwacht die Hingestreckte und stöhnt: ›Kein Mord! kein Mord! Schweigen! Um Gottes willen, geheimhalten!‹ Die Dienerin stottert hervor, sie sei dem Hineinstürmenden nachgedrungen, habe noch gesehen, wie er unter wilden Ausrufungen, die sie nicht verstanden, der Herrin einen Dolch an den Kopf schleuderte, dann sei er fortgestürzt. Erik nahm den Dolch auf, es war kein Blut an der Klinge, aber mit Grausen warf er ihn weit von sich, als er näher hingesehen hatte. An der Stirn der Dame glaubte er eine kleine Ritzwunde zu bemerken. Er eilt nun, sich des Ohnmächtigen anzunehmen, bringt ihn durch Benetzen mit kaltem Wasser aus dem nahen Brunnen zu sich und schafft ihn halb führend, halb tragend, in seine nahe Wohnung, wo er, entkleidet, auf ein Bett gelegt, verworrene und doch nur zu verständliche Worte fiebernd herauszustoßen beginnt. ›Unter die Erde verschlüpft, Plato? – Man findet dich?‹ – Hier fing er an, mit den Händen Bewegungen zu machen, als hiebe und scharrte er mit einer Haue. – ›Haben wir dich? – Grinsest du? Höhnst mich? Ziehst du die halbverwesten Lippen in Fältchen zusammen und pfeifst mich aus? Her die Brust, woran sie gelegen! – So! So! – schon ziemlich weich! – Pfeifst wieder, loser Schalk? Auch aus der Brust?‹ Der Phantasierende rührte dabei die Arme, als stieße und wühlte er, und brach dann in ein entsetzliches Gelächter aus. Nun sah man seine Arme und Beine zucken, wie die eines Schlafenden, dem man anmerkt, daß er zu laufen träumt, auf einmal bäumte er sich auf seinem Lager, schien gewaltsam zu schütteln, dann wie mit einem heftigen Ruck etwas feindlich Umschlingendes hinwegznschnellen, und man hörte Worte: ›Da, kühl dich, Jesuit!‹ Es folgte eine Pause, dann keuchte er hervor: ›Erschrickst, Sappho? – Nur keine Angst – da hast deinen Plato!‹ Er hatte dabei den Arm wie zum Schleudern gehoben, ließ ihn schnell wieder fallen und sank nun mit schweißbedeckter Stirne matt in die Kissen zurück.

»Am frühen Morgen ließ Erik den Kranken wohlverwahrt in dessen eigne Wohnung schaffen, kehrte das Nötige zu seiner Pflege vor und eilte dann zuerst auf den Kirchhof. Hier fand er den Totengräber in starrem Staunen vor einem aufgewühlten Grab stehen, darin einen offenen, sichtbar zerschlagenen Sarg und im Sarg eine Leiche mit zerrissener, breitklaffender Brust. Er vermochte den Mann zu überzeugen, daß es ein gutes Werk sei, diese Tat eines Wahnsinnigen geheimzuhalten; er glaubte in dem einen Falle kein Unrecht zu tun, wenn er seine Gründe mit einer Summe Geldes unterstützte, die dem bedürftigen Mann eine Wohltat war und niemand ein Uebel brachte. Während der Beschenkte sich schnell an die Arbeit machte, das Grab wieder zu schließen, eilte Erik in das Haus, wo der grasse Auftritt vorgefallen war; er fand die Dame im Fieber, die leichte Stirnwunde erschien etwas entzündet, er riet ihr dringend, sogleich den eignen Arzt herbeizurufen und ihm das Vorgefallene nicht zu verhehlen, er versicherte sie, daß er selbst für Wahrung des Geheimnisses gesorgt habe und weiter sorgen werde; die Kranke suchte ihn festzuhalten, Geständnisse schienen auf ihren Lippen zu schweben, aber er konnte und durfte nicht verweilen. Erik hatte in diesen Tagen alles zu einer Uebersiedlung nach Christiania vorbereitet, wo durch Abgang eines gesuchten Arztes ihm eine ungleich bedeutendere Praxis in Aussicht stand. Es war keine Zeit zu versäumen, der Zweck forderte dringend seine baldige Abreise, es gab viel zu tun, Anordnungen schnell abzuändern, die vor kurzem noch unter andern Umständen getroffen waren. Erik hatte eben um diese Zeit seine Braut in Edinburg abholen wollen. Ich selbst mußte ihm unter diesen Umständen raten, davon abzustehen, ich beschloß, meine Tochter nach Christiania hinzubringen und die Hochzeit dort zu feiern. Und in diesem Momente war dem edlen jungen Manne die Pflege jenes Unseligen aufgebürdet! Er konnte, er wollte ihn nicht im Stich lassen, zu tief bewegte ihn dies dunkle Menschenschicksal. Auf der andern Seite war die Sachlage doch auch nicht ungünstig zu nennen, da ihr Drang zugleich das Mittel der Rettung aus drohenden Gefahren darbot. Zwar daß der unfreiwillig Gebadete ausschwatzen werde, war offenbar nicht zu befürchten, aber wer konnte bürgen, ob von andrer Seite das Geheimnis bewahrt bleibe? Ob dem Totengräber nicht ein unvorsichtiges Wort entfalle, ob sich die verstörte Dame nicht selbst, ob der Kranke sich nicht verrate, wer wissen, wie der andre Arzt, den Erik nicht kannte, im Gewissenskonflikt sich entscheiden werde? Aufwühlung eines Grabes, Vergehen an einem Leichnam, – die Behörden mußten tätig werden, ein allgemeines Aufsehen mußte entstehen, und die unheimlichen Folgen waren nicht zu überschauen. Besser konnte nicht vorgebeugt werden, als wenn man den Mann, auf den vor allem das allgemeine Aufsehen sich werfen mußte, den Täter, den Kranken hinweg, weit hinwegschaffte – aus den Augen, aus dem Sinn!

»Erik fand ihn, als er nach wenigen Stunden ihn besuchte, ruhiger, meist schlummernd, doch stark fiebernd, schwere Erkrankung des ganzen Nervensystems war sehr zu befürchten, trotzdem war es nicht allzu gewagt, ihn zu Schiffe fortzubringen, die Seeluft konnte sogar heilsam wirken; rasch wurden die Vorbereitungen getroffen, die Abreise bewerkstelligt, das Wetter war schön und versprach, es zu bleiben; wirklich begünstigte es die Dampfschiffahrt um die Südspitze der Halbinsel, und ohne störenden Zwischenfall wurde Christiania erreicht. Für Unterkunft und Pflege des Kranken konnte ausreichend gesorgt werden, in einem Nebenhaus der Wohnung, die Erik bezog, fand sich passender Raum, und ein verschwiegener Krankenwärter wurde bald ermittelt. Sehr glückliche Umstände! Denn jetzt brach das befürchtete Nervenfieber aus, furchtbar schüttelte es den Unglücklichen, und entsetzliche Phantasiebilder jagten sich in seiner Seele. Er glaubte, das falsche Weib als Drachen über Eisberge zu verfolgen, mit ihr vom Rjukanfoß durch Felsschluchten ins Innere der Erde hineingeschlagen zu werden, er verwechselte sich mit der mißhandelten Leiche und glaubte, Goldrun wühle mit dem Dolch in seiner Brust, dann träumte er wieder von der Sognebucht, vom Baldurshag, seine Ausrufungen ließen auf beseligende Bilder schließen, aber schnell vertauschte sich die Bucht mit dem Tindsee, er sang Verse von Olaf, den die Meernixe verführt, plötzlich sah er sich von einem Ungeheuer der Tiefe verfolgt, rettete sich auf ein Schiff, fuhr als Vikinger hinaus in die Welt, er ließ Schlachtrufe vernehmen, er glaubte, verwundet niederzustürzen, er röchelte wie ein Sterbender. Endlich traten die ersten Symptome der Genesung ein, Erik hatte von Anfang an vertraut, daß der gute Schatz männlicher Kraft in seiner Natur die starke Krankheit besiegen werde. Doch drückte ihn eine dunkle Sorge: er befürchtete Schlimmes von dem Moment, wo mit der völligen Helle des Bewußtseins die Erinnerung des wirklich Geschehenen sich einstellen müsse. Nur zu begründet war die Besorgnis; die schwachen Versuche, dem Fragenden die Wahrheit zu verhüllen, konnten nicht vorhalten, die tagende Besinnung fand den Weg zum Ausgangspunkte seines Leidens, die kaum erstarkenden Nerven hielten die Erschütterung des furchtbaren Lichtanbruchs nicht aus: der Rückfall war da. Eriks Kunst und Sorgfalt hat auch dies überwunden; doch nicht allein – ihm stand jetzt eine Gehilfin zur Seite. Es war seine junge Frau, es war meine Tochter Cordelia. Ich hatte mein liebes Kind dem Harrenden herübergebracht. Auf einen dunkeln Grund war nun freilich das junge Glück der Neuvermählten gesetzt. Aber nur um so reiner strahlte der Edelstein dieses braven Gemütes. Sie war eingeweiht, hatte geschaudert, begriffen, verziehen, denn das Element ihrer Seele war das Mitleid. Von den Tagen an, wo der Kranke wieder bei klarem Bewußtsein war, aber noch sehr matt niederlag, machte sie tägliche Besuche bei ihm im Nebenhaus. Es war zu erkennen, daß diese Besuche höchst wohltätig wirkten, und früher, als man gehofft, konnte er als genesen betrachtet werden.«

Mac-Carmon wußte mir von A. E. des weiteren nichts zu erzählen, was nicht auch aus dem folgenden Inhalt des Tagebuchs zu entnehmen ist, der den Leser in die Lage setzt, vom Innern aus zu sehen, was sich ferner begeben hat, die Dinge in der Beleuchtung zu erblicken, die von der Seele des Erlebenden ausgeht.

Es bleibt mir als Zwischenredner nur noch übrig, zu sagen, daß indessen der Winter weit vorgerückt, der Februar des Jahres 1848 über die Hälfte verflossen war, und daß ich von Mac-Carmon zum Schluß auch über das Ende der Urheberin so großer Leiden noch Kunde erhielt. Bei einer Begegnung mit dem Arzte in Bergen, der sie behandelte, erfuhr Erik, daß sie kurz nach jener Nacht an Blutvergiftung gestorben, daß es gelungen war, die wirkliche Natur dieser Todesursache sowie den ganzen Hergang geheimzuhalten, und daß sie neben dem Manne begraben lag, dem die Raserei einer empörten Seele die Grabesruhe gestört hatte. Und nun mag denn das Tagebuch wieder sprechen.

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