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20.
Erläuterungen.


Eine Woche bereits war die Kranke in dem Hause der beiden Schwestern; indessen war sie eigentlich nicht krank zu nennen, obgleich sie kein Bild der Gesundheit darstellte. Es war auffallend, wie eine anscheinend derbe Natur durch ein moralisches Leid geknickt worden, in dem Maaße, daß die ganze Organisation gelitten. Dieses arme Geschöpf, das Kind rechtlicher Eltern, die jedoch eine große Familie bei sehr kärglichem Einkommen zu ernähren hatten, war aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen, wie eine Menge ihrer Art fast noch täglich kommt, von einer mächtigen Hoffnung auf Gewinn und Genuß getrieben. Der Bruder befand sich schon dort auf einem der Arbeitsplätze in der Nähe der Stadt. Marie fand ein kärgliches Unterkommen als Magd, dann durch die Bemühungen einer ihrer [219] Landsmänninnen eine Anstellung als Nätherin in einer Handlung. Ein paar Jahre vergingen ruhig und glücklich. Der Ueberschuß von dem täglichen kleinen Gewinn wurde nach Hause zu den armen Eltern geschickt; ebenso machte es der Bruder, der unter seinen Genossen als ein fleißiger und ordnungsliebender Arbeiter bekannt war. Wie die Bewegungen des Frühlings des vorigen Jahres ausbrachen, äußerten sie auch bis in diese Regionen der städtischen Bevölkerung ihre Wirkung, ja, es läßt sich behaupten, daß sie nirgends entschieden zerstörender und auflösender auftraten. Die Corruption der Hauptstadt, diese entsittlichten Massen eines innerlich rohen, äußerlich geglätteten Pöbels, warfen sich auf die noch in Reinheit und Unschuld bestehende ländliche Bevölkerung. Das Werk der Zerstörung begann. Menschen, denen nichts mehr heilig war, gingen darauf aus, überall bei ihren Nebenmenschen, wo sie den Glauben an das Heilige fanden, ihn zu zerstören. Der Staat, der in einer Krisis der Umgestaltung begriffen war, hatte in dem Augenblick nicht Macht und Geistesgegenwart genug, das Treiben dieser Räuberbande inmitten der Civilisation im Keime zu ersticken. Die Eruption war fürchterlich. Mit einem Stoß waren zahllose destructive Elemente [220] freigegeben, und sie wütheten unter der Bevölkerung. Verderbliche Einflüsse von Außen halfen die Verwirrung vervollständigen. Das ächt deutsche Element der Treue und Redlichkeit, der Besonnenheit und des Maaßes, schien verschwunden. Besonders gewährte die Hauptstadt, von der wir oben sprachen, in den Sommermonaten des eben bezeichneten Jahres, dieses Bild in seiner grausenhaftesten Vollendung. Man hatte Mittel gefunden, die Arbeiter in den Kreis jener ewig wachen Straßenemeute zu ziehen, die man damals Politik nannte. Der gesunde Sinn dieser Männer war umnebelt worden, sie gesellten sich dem Auswurf der Bevölkerung zu, der sich eben, nach französischem Muster, für souverain erklärt hatte und die Stadt tyrannisirte. In jener Zeit sah man die empörendsten Ausschweifungen straflos begehen, und der Menschenfreund mußte weinen, wenn er die kräftigen, ursprünglich gut gearteten Naturen jener Arbeiter mit in diese empörenden Verirrungen hineingerissen sah. Sie kamen zu hellen Haufen in die Stadt, sie stellten sich auf, sie folgten dem Rufe ihrer Führer und schwuren mit zu einer Fahne, deren eigentliche Bedeutung sie nicht kannten. Jetzt ist durch das Sich-Ermannen der Regierung und durch die rastlos arbeitende Thätigkeit der wahren [221] Vaterlandsfreunde diese dem Staate so nützliche Bevölkerung dem Gemeinwesen erhalten worden. Zahllose schon verführte Opfer haben sich wieder der Ordnung und Gesittung angeschlossen, indem sie auf ihre schaamlosen und frechen Verführer schmähen. Allein noch lange nicht ist das feste und edle Vertrauen wieder hergestellt, noch lange nicht sind alle Verführte wieder umgekehrt; die Saat des Unheils wurde in zu großer Masse und von zu kecken Händen ausgestreut.

Wir haben diese Worte hier hingesetzt, weil wir es nöthig finden, daß der Leser immer wieder den Fuß auf den Boden dieser sogenannten Revolution setze, auf diesen Boden, der unter unseren Schritten wankt, der mit Blut und Unrath besudelt ist, und der immer neu den Abscheu in uns wach erhält, mit dem wir auf die Gebilde blicken, die unmittelbar diesem Boden entkeimt sind.

Der Bruder unseres jungen Mädchens gehörte mit zu den Verführten. Einer der Clubs, aus »fessellosen« jungen israelitischen Doctrinairs bestehend, hatte sich's zur Aufgabe gemacht, sich zu allen Stunden des Tages und der Nacht auf jene Arbeitsplätze zu begeben, wo bis jetzt der redliche, angestrengte Fleiß mit dem wenn auch geringen Erwerb zufrieden gewesen war. Hier wurden nun die [222] Sätze Fouriers und Pierre Leroux' gepredigt, confus und leichtfertig gepredigt, aber doch gepredigt; hier machten sich junge Taugenichtse und sinnlose Schwätzer zuerst an die Mission. Die besonnenen Revolutionaire folgten nach. Es bewegte sich fortwährend ein Zug nach den Arbeitsstätten. Die Arbeit ruhte; die Schenken füllten sich – anfangs der Leichtsinn, dann das Verbrechen – fingen an ihre Häupter zu erheben. Es floß Geld aus den verschiedensten Quellen, allein diese Quellen hatten dennoch einen Ursprung: die Aufgabe, die Massen zu demoralisiren auf jedem möglichen Wege.

Zugleich mit den Excessen und den brutalen Ausschweifungen, denen sich der Bruder hingab, traf der Fall der Schwester zusammen. Der Präsident hatte an Beidem schuld. Wenn er Abends zu dem Mädchen schlich, begegnete er öfters dem Bruder, der mit seiner trunkenen Rotte kam, um irgend ein Ministerhotel zu stürmen, oder sich in einen Kampf mit der wenig bewaffneten und schwachen Polizeimacht zu stürzen. Bezahlt wurden Beide. Aber die Schwester erlag ihrer Beschimpfung. Sie fühlte die Folgen des Fehltritts und wurde zugleich brutal zurückgestoßen von dem, der sich ihrer anzunehmen versprochen hatte. Die Eltern verstießen sie, der Bruder schmähte [223] auf sie, die Unglückliche verlor zugleich mit dem Frieden ihrer Seele die Ruhe ihrer Existenz. Jetzt – von dem Präsidenten hingeschickt – fand sich eines jener Ungeheuer bei ihr ein, das der verlassenen Ehre auch noch die letzte Stütze zu rauben kommt, um das Opfer dem Laster zu verkaufen. Aber da nahm der Bruder sich ihrer an; das Haus der Eltern mit seinem Segen und seinem Fluch war noch vor seinem Blicke nicht ganz hinweggescheucht, er kam zu der Verlassenen, und auf seinen Armen fast – ein ärmlicher Karren war das einzige Transportmittel, und hierauf konnte die Kranke nicht ausharren – trug er sie in die Hütte, an der ihm ein Antheil zukam. »Hier lieg und stirb!« rief er. »Und erst wenn Du todt bist, so komme ich Dich abzuholen. Laß mich nicht rufen – denn ich würde nicht kommen.«

Er hielt grausam sein Wort; er kam nicht, wenigstens zeigte er sich ihr nicht. In den Nachtstunden irrte er, wie wir gesehen haben, um die Hütte her, und warf einen verstohlenen Blick durch's verhängte Fenster. Sehen wollte er sie doch.

Der Präsident hatte erst dann wieder angefangen sich um die Unglückliche zu kümmern, da er [224] von ihr fürchten mußte, daß sie ihm in seinen Plänen kreuzte.

Wir werden so eben sehen, daß sie auch in dem jetzt erwählten Zufluchtsorte keine Ruhe fand. –


[225]


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