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13.
Das Köpenicker Feld.


Friedrich,« sagte Tony zu seinem Freunde, »die Gräfin Waldensee läßt Dich einladen –«

»Ach – wahrhaftig! Nein, ich danke in der That! Wahrlich – ich danke. Soll ich wieder das Kind hüten und dem alten Herrn die Cravatte fester schnüren? Sieh, liebster Tony, ich bin, weiß Gott, aller Welt gern gefällig, aber dieses wirst Du nicht verlangen – gewiß, wenn Du irgend gerecht bist, kannst Du's nicht verlangen.«

Tony beschwichtigte den Kameraden, indem er alles erklärte und die Gräfin entschuldigte und sagte, daß der Lieutenant Confusion gemacht habe, allein der Pommer war nicht zu bewegen, an dem Mittagessen Theil zu nehmen. »Ich gehöre nicht dahin,« sagte er; »Du bist der Neuschateller, der vornehme Schweizer, Du hast Manieren wie ein Prinz, obgleich Du [158] nur ein Uhrmacher bist; allein ich bin meines Vaters Sohn, und in unserm Hause geht man nicht bei Gräfinnen unter den Linden zu Mittag speisen. So etwas fällt gar nicht vor, und mein Alter würde schöne große Augen machen, wenn er's erführe. Junge, was hast Du da zu suchen? würde er sagen. Iß Dein Commisbrot und damit Basta. Aber Du bist der Neuschateller.«

»Ich bin um kein Haar besser als Du. Und Du würdest Mir einen Gefallen thun.«

Das Herz des Pommern wurde weich. Seine treuen braunen Augen richteten sich mit einem eigentümlichen Ausdruck demüthiger Bitte auf den Freund. »Neuschateller,« sagte er, »bitte mich um etwas anderes! Sei so gefällig und sage mir, daß ich nochmals zehn Tage für Dich im Loche sitzen soll, ich gehe mit Freuden hin, aber erlaß mir das Mittagessen! Tony, erlaß mir das. Ich will lieber auf einem Seile tanzen, als mit Vornehmen zu Mittag speisen. Sieh, so eine reelle Abneigung hab ich dagegen. Du kannst sagen, daß ich der Gräfin unendlich verbunden bin, und wenn sie einmal einen guten Doppellauf oder eine simple Büchse, die aber ihre vorschriftsmäßige Zahl von Schritten trägt, nöthig hat, so soll sie nur zu mir oder zu meinem Vater schicken. Du [159] kannst ihr auch die Karte meines Alten mitbringen. Der ganz neue Gewehrladen in Königsberg.«

»Ich glaube nicht, Friedrich, daß die Gräfin jemals eine Büchse nöthig haben wird, und deshalb wird sie auch nicht wissen, was sie mit der Karte Deines Alten anfangen soll. Deine Entschuldigung will ich aber ausrichten.« –

Und Tony ging allein zum Mittagessen.

 Wir wollen dem Leser unterdessen berichten, wer der Mann war, der die Wöchnerin aus dem Hause, wohin die Gräfin sie gebracht, entfernte. Wir müssen die arme Gräfin über dieses ihr noch ungelös'te Räthsel nachsinnen lassen, und sie dachte in der That sehr lange und sehr schmerzlich darüber nach. Wir können schon errathen, daß es der Präsident war. Er war es wirklich.

Wieder war eine so finstere Nacht, daß die Schatten zu greifen waren, wieder stürmte und regnete es vom Himmel nieder, wieder blies es und tobte es über die Haide hin, und wieder kam der nächtliche Wind von der Gegend des Friedrichshains her. Eine einsame Droschke irrte in der Einöde des Köpenicker Feldes umher und hatte Richtung und Weg verloren. Der Kutscher hielt öfters, sah sich fluchend um und wurde eben so fluchend von den beiden Herren [160] in der Droschke zum Weiterfahren genöthigt. Es war schon spät, und die Bewohner dieser einzeln verstreuten Häuser, die sich in dieser Einöde nothdürftig zu einer Straße zusammengefunden hatten, schliefen bereits. Am Ende dieser ungewissen und zweifelhaften Gasse, von der Niemand mit Gewißheit sagen konnte, ob sie in das offene Feld auslief, wozu sie große Neigung zu haben schien, oder eine städtische Häusersitte annehmend, in eine andere Straße ausmündete, stand ein einsamer Pfahl, auf dessen Spitze eine unglückliche Laterne eben ihre letzten Anstrengungen machte, um mit dem unerbittlichen Sturmwind um ihre Existenz zu kämpfen. In der Nähe dieses Leuchtthurms angelangt, hielt die Droschke nochmals. Man vernahm ein lautes Sprechen und Rufen. Die beiden Herren stiegen aus dem Wagen, um Erkundigungen einzuziehen. Es war aber Niemand zu sehen, dem die rufende Stimme angehörte. In diesem Augenblicke flog ein blasser Schein der Laterne vorüber, eine menschliche Gestalt, und zwar ein Mann in einem kleinen flatternden, hellfarbigen Mantel. Aber kaum erblickt, war er auch wieder in der Finsterniß untergetaucht. Aber er kam wieder und schien bald engere, bald weitere Kreise wie eine riesenhafte Motte um das Licht der Laterne zu ziehen. Und immer [161] wieder hörte man ihn sprechen und rufen, und die Stimme klang, wenn der Windstoß sie nicht gerade verschluckte, wie hülferufend und klagend. Endlich sank dies gehetzte Wesen am Laternenpfahl nieder und umschloß diesen mit beiden Armen.

Der Präsident und ein Arzt, denn diese waren die beiden nächtlichen Irrfahrer, gesellten sich zu dem Manne und suchten ihm Rede abzugewinnen. Dies hielt schwer. Der scheue Blick, das Lachen und dann das irre Murmeln und das furchtsame Umsichblicken ließen erwarten, daß man von einem Trunkenen oder Geisteskranken nicht die gewünschte Auskunft werde erhalten können.

»Wer sind Sie, Freund, und wie kommen Sie hierher?« fragte der Präsident.

»Ich bitte Sie,« entgegnete der Fremde, »mich in ihren Wagen zu nehmen; ich kann auf diese Weise meinem Verfolger entgehen.«

»Wer verfolgt Sie?«

Der Arme richtete sich etwas in die Höhe und zeigte in die Gegend eines weißlich schimmernden Häuschens: »Sehen Sie! Dort! Er guckte eben hinter der Mauer hervor. Ich laufe in dieser schlimmen Nacht schon mehre Stunden hier auf dem Felde herum, und immer ist er mir hinterdrein.«

[162] »Wer ist's?«

»Ja, wenn ich das sagen dürfte!« rief der Mann und schauerte zusammen. »Sein Name verbrennt die Zunge, seine Berührung macht das Gebein verdorren, sein Athem weht alle Kraft hinweg. Und ich bin ihm verfallen! Ich!« –

»Was will er von Ihnen?«

»Dies!«

Und der Verfolgte zeigte auf eine mäßig hohe Glasbüchse, wie sie in den Apotheken zu finden sind; er hielt sie sorgsam unter dem Mäntelchen versteckt.

»Was haben Sie darin?« fragte der Präsident weiter.

»Was ich darin habe?« rief Jener und zitterte wie ein Strohhalm im Sturme. »Das ist's ja eben! Das Unglück der Welt hab' ich darin. Etwas davon ist heraus, aber noch nicht Alles! Das meiste ist noch darin. Aber viel – viel Unglück ist heraus und überfluthete unsere Stadt. Viele tausend, tausend kleine, behende, schwarze Gestalten, die in jeder Sekunde wuchsen und endlich Menschen wurden wie wir, von denen Niemand wußte, wo sie hergekommen. Ich wußte es. Aus der Büchse meines teuflischen Collegen, des höllischen Apothekers, waren sie hervorgekommen. Und ich, der ungetreue, schlechte [163] Sohn, der den Vater in die Grube gebracht, ich war dazu auserlesen, die Büchse in Verwahrung zu nehmen. O die Missethat der Väter wird an den Söhnen bestraft! Unsere Söhne werden uns richten und über uns den Stab brechen.«

Der Präsident fühlte ein Zucken durch sein ganzes Wesen, als er diese Worte so plötzlich, so seltsam, so unerwartet vernahm. »Das ist Unsinn,« rief er, »Ihr seid irre an Geist, Ihr müßt in das Krankenhaus dort gebracht werden.«

»Ja, bringen Sie mich dahin!« bat flüsternd der Arme, indem er auf den Knieen zu dem, der ihn zu retten versprach, hinrutschte. »Ich werde dann zu Menschen kommen, und mein Verfolger wird weichen.«

Der Präsident sah seinen Begleiter fragend an: »Ich will es verantworten,« entgegnete dieser. »Dem Armen muß geholfen werden. Er könnte in diesem Zustande, in dem er sich befindet, hier in der kalten, stürmischen Nacht sein Ende finden.«

Herr Eschenpauer, denn der Leser wird bereits errathen haben, daß er es war, fand einen Platz in der Droschke. Zum Glück fanden sich ein paar Leute mit Handwerksgeräth, die des Weges kamen, und mit ihrer Hülfe wurde endlich der rechte Weg, der zum Ziele führte, eingeschlagen.

  [164] In ihrer Pförtnerinloge saß Frau Plümecke, das Haupt auf die Hand gestützt, und lauschte wieder dem Liede des Sturmwindes. Es waren die alten, bekannten, unheimlichen Stimmen, die wieder um die Giebelspitzen des Krankenhauses sich umtrieben und die Phantasie der Wittwe in eine fieberhafte Thätigkeit versetzten. Man hatte heute zwei Todte hinausgetragen, und einer dieser Todten hatte in seinen letzten Lebensaugenblicken das Versprechen gegeben, wieder zu kommen und wo möglich noch einige todte Kameraden mitbringen zu wollen, und zwar aus keiner andern Ursache, als um einen versilberten alten Messinglöffel zu fordern, der angeblicher Weise in dem Hause verloren worden. Das ganze abergläubische Personal der Krankenstuben war durch diese unverschämte Drohung in Entsetzen und Angst versetzt worden, und heute war die erste Nacht, die der Todte außerhalb der Mauern des Hauses, das ihn so lange gastlich gepflegt hatte, zubrachte. Welch eine fürchterliche Stelle, Portier zu sein, wenn solche Gäste sich angemeldet haben! Frau Plümecke verwünschte ihr Geschick. Das Krankenhaus und alles, was darin war, und weit mehr noch das, was hinaus gebracht war, verursachte ihr Ekel und Verdruß. Sie hätte unter so bewandten Umständen den [165] niedrigsten und demüthigendsten Dienst in der Stadt angenommen.

Allein es war nicht zu ändern.

Es brauste und sauste in der Luft. Frau Plümecke getraute sich nicht an das Fenster zu gehen, das in dieser Nacht ganz besonders groß und dunkel ihr erschien. Wozu so große, schöne Fenster, wenn man doch nichts zu sehen hat, höchstens ein ödes, leeres Feld.

Ob der Todte wohl die Klingel ziehen werde? Es war ganz wohl denkbar, daß er dies nicht thun werde, sondern, wie die übrigen Gespenster, durch's Schlüsselloch schlüpfen werde, um dann auf einmal da zu sein in seiner ganzen ekelhaften Schönheit, in seinen vergelbten Grabtüchern, in seinem alten durchlöcherten seidenen Schnupftuch um das Haupt gebunden, unter dem die Augen hervorsahen, deren Lider er nicht recht öffnen konnte, wie Leute, die eben aus dem Bette kommen und den Schlaf noch nicht recht überwinden können. Und wenn er nun vollends den Mund öffnen würde mit den großen, langen, gelben Zähnen, um nach dem versilberten Löffel zu fragen, und wenn dann alle, die mit ihm gekommen, ebenfalls die längst geschlossenen Lippen öffneten, und alle zusammen in einem schauerlichen Tone nach dem Löffel [166] fragten – ah, was wollte dann die arme Pförtnerin sagen? Sie mußte nothwendig umkommen und gleich todt sich hinstürzen vor Schrecken.

Horch – da zog es an der Klingel! – –

Die Pförtnerin war mehr todt als lebendig. Um aller Schätze in der Welt willen hätte sie jetzt nicht auf den Tritt treten mögen, der die Thür öffnete. Sie rannte hinaus – und im Vorsaal klingelte es wieder, und ganz deutlich und laut.

Da öffnete sich aber die Thüre Nro. 9., und ein Licht, und dann eine Hand, die es trug, und endlich der Körper, dem die Hand gehörte, kam zum Vorschein. Und das runde Gesicht von Nro. 9. selbst, und zwar in der Nachthaube, guckte über das Treppengeländer.

»Um Gotteswillen, Belzig! kommen Sie herunter. Ich sterbe vor Angst. Es hat geklingelt. Ich mache nicht auf, partout nicht! Der Piefke steht davor.« –

»Ach Gott, liebste Plümecke! Haben Sie wieder solche Gedanken von den armen unschuldigen Würmern in der Luft, die an den goldenen Knöpfen saugen, Sie wissen, daß mein verwittwetes Herz das nicht hören kann.«

»Ach, nicht doch – Belzig! Ich rede eben von Piefke und von dem Löffel, den er zu suchen kommt.«

[167] Jetzt klingelte es so heftig, und es rief draußen mit so vernehmlichen Stimmen, daß die Pförtnerin in ihre Loge flog und verzweifelnd den Tritt bearbeitete. Die Männer kamen jetzt herein, und der Arzt verlangte nach dem Oberarzt der Anstalt.

Die beiden Frauen machten tiefe und demüthige Verbeugungen. »Ach, sind Sie es, Herr Doctor,« hub die Pförtnerin an. »Entschuldigen Sie gütigst, ich war in Nacht und Einsamkeit etwas eingeduselt.« Die Drei verfügten sich in das Zimmer des Arztes, der selbst nicht zu Hause war, dessen Famulus und zugleich Diener die Bestellungen entgegennahm. Eschenpauer erhielt ein Zimmer und wurde halb ohnmächtig von den Anstrengungen der Nacht in's Bette gebracht. Die Wöchnerin, die, obgleich noch schwach, doch schon als hergestellt betrachtet werden konnte, erhielt nach den vorhergegangenen üblichen An- und Abmeldungen bei der Oberin die Erlaubniß, das Haus zu verlassen.

Die Klingeln waren wieder stark in Bewegung.

Der Präsident hatte seinen Namen nicht genannt. Er war auch von Niemand erkannt worden; der Arzt hatte für alle Fälle vorher gesorgt. Die Droschke mit der Genesenen und den beiden Herren entfernte sich wieder in Dunkel und Nacht, wie sie gekommen war.

[168] Die andern Kranken erfuhren nicht, ob eine Genesene oder eine Leiche das Haus verlasse. Sie vermutheten aber das Letztere, und die, die selbst an ihr Aufkommen verzweifelten, hörten in den Tönen des Sturmwindes die Stimme des unerbittlichen Feindes alles Lebenden, der auch ihnen rief und sie aufforderte, sich an den langen, blassen Zug zu schließen, der aus den Thoren volkreicher Städte klanglos und leise hervordrang und sich in die weit hingedehnten Todtenfelder verlor, wo jeder Schatten in die ihm bestimmte Grube versank.

Es war eine Nacht, wo wiederum der arme Staub, der sich zu einem so eiteln und vergänglichen Bilde zusammengefügt hatte, von dem lebendigen Gedanken seines Ursprungs durchschüttert wurde, und in den Schooß der Erde, aus der er genommen, sich hineingedrängt fühlte. –

Und doch gab es Herzen, denen die freudlose Ruhe der Todten erwünscht erschien, wenn sie an das stete und qualvolle Herumtreiben in der Irre der Lebendigen dachten. Es gab Augen, die da wünschten sich ewig zu schließen, wenn sie an andere kalte, grausame und feindliche Augen dachten, die ewig, mit tückischer Schärfe auf sie gespannt ruhten, und nicht ablassen, und sich nicht wegwenden, und sich nicht schließen [169] wollten! Endlich gab es Hände, die sich unablässig falteten zum ängstlichen, krampfhaften Gebet, und keine Ruhe, keinen Frieden erringen konnten, und die willig mit jenen Händen hätten tauschen mögen, die im stillen Sarge in Staub zerfielen. –

Aber über Alle hin tönt die Stimme, der die Entscheidung gegeben ist, und die nie voreilig ruft und nie widerruft.


[170]


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