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Friedrich Forst war in einem Stübchen eingeschlossen, das vier Schritt in der Länge und dritthalb in der Breite hatte, und dabei nur ein kleines, hochgelegenes Fenster besaß, vor welchem Eisenstäbe prangten. Ein Bette hatte dieses Zimmer nicht, nur eine Pritsche und weiter nichts, keinen Tisch, keinen Stuhl. Seine Nahrung bestand in Brot und Wasser, am vierten Tage gab es etwas warme Brühe. Das war das Gefangenenzimmer eines Soldaten. Die ganze preußische Armee hat es unter obwaltenden Umständen nicht besser. In diesen kleinen, dunkeln Zellen waren wilde, junge Herzen eingeschlossen, von denen einige so fest und bieder waren, daß sie später dem Vaterlande zur Ehre, ja zum Ruhme dienten; es waren nur die Versehen des raschen Blutes, die hierher geführt hatten, nicht [97] die schweren, dunkeln Verbrechen, die der arme gesunkene Mensch nie ganz abbüßt, und die er nur hinter der dichten Decke von Erde dem Auge der irdischen Gerechtigkeit entzieht, nicht diese – die Jugend kennt diese Verbrechen selten, und wo sie sie kennt und ausübt, war hier nicht der Ort, sie zu büßen. Aber dennoch! – arge Vögel waren hier eingesperrt, das war nicht zu leugnen; unverbesserliche Wildfänge, kleine brutale Raufbolde von der gewissen Sorte, die nie Vernunft annimmt, und nie sich mit den zahmen Gesetzen der Civilisation vertraut macht, die daher in ewiger Wanderschaft von einer Correctionsanstalt zur andern sind, und ihre heißblütige Jugend fast ganz hinter kalten, feuchten Mauern und hinter kleinen, vergitterten Fenstern verbringen. Von dieser Gattung waren sehr Viele hier, und es kamen immer noch mehr. Die große Stadt lieferte ihren Tribut.
Friedrich war der unschuldigste von allen, wenn man einen armen tauben Kanonier ausnimmt, der ein Kommando verabsäumt hatte, aus dem einfachen Grunde, weil er es nicht gehört hatte, was ihm aber die Vorgesetzten nicht glauben wollten.
Friedrich hatte während der kurzen Zeit, daß sie sich sahen, den armen blassen Jungen lieb gewonnen, [98] und that alles Erdenkliche, um diese Liebe kund zu geben. Der Pommer konnte keine traurigen Gesichter sehen, und hier waren deren so viele. Das machte ihm den Aufenthalt so qualvoll; sonst das Wasser und Brot, die harte Pritsche – über diese Dinge lachte er. »Ich will mal sehen,« rief er, »wer mich so hart betten kann, daß ich nicht schlafen könnte!«
Aber er schlief doch nicht; nicht der harten Pritsche wegen, sondern weil er sich vorgenommen hatte, über zwei Dinge anhaltend und gründlich nachzudenken, und zum Nachdenken die stillen Nachtstunden ganz besonders geeignet waren. Das erste dieser Dinge war – wie nun alles werden würde! Ob man den König wieder beleidigen und ärgern werde, und in dem Fall war er entschlossen energisch aufzutreten. Er, für seine Person ganz allein, wollte dem Dinge ein Ende machen. Daheim in seiner Vaterstadt und in der Gegend waren Viele, die gerade so dachten. Sollte das ihm und seinen Freunden nicht gelingen, so hatte er eine dunkle Vorstellung von einer heimlich geladenen Büchse, die er auf den Boden setzte und in die Richtung seiner eigenen Stirn brachte. Aber wie gesagt, dies war nur eine dunkle Vorstellung, denn gleich nebenbei [99] fiel ihm das Grab seiner Mutter ein, und wie der Vater und die drei andern Brüder mit ihm zusammen davor knieeten, an jenem Abende, wo er Abschied nahm, wo die ganze weite Fläche umher in dem rothen Lichte des Abends schwamm. Der zweite Gegenstand seines Nachdenkens war, wie Tony die ganze Sache mit der Gefangenschaft und dem Billettausch aufnehmen werde, und was er in diesem Augenblicke wohl darüber dächte, und ob er etwa morgen, wo die Arrestanten ihre Bekannten sahen, kommen werde, um ihm ein freundliches Wort zu sagen.
Die Vorstellung, daß er kommen werde, und daß er das freundliche Wort – ganz gleich welches, aussprechen werde, machte, daß Friedrich den Schlaf, der sich schon genaht hatte – wieder viele Meilen weit von sich wegscheuchte.
Er stand auf von der Pritsche und stellte sich dicht an die Wand, so daß er in der Nebenzelle gehört werden konnte, und pfiff rasch nach einander eine Menge Melodien, zum Theil heiterer, zum größern Theil schwermüthiger Natur.
Die Schritte in der Nebenzelle wurden immer weniger, je länger Friedrich pfiff, und je ausdrucksvoller er zu pfeifen sich mühte. Der Kamerad, der dort eingesperrt war, und der in seinem Verdruß [100] und Kummer fortwährend auf und nieder rannte, wurde durch Friedrichs Pfeifen offenbar gezähmt. Er nahm Trost an, und so wie Friedrich das merkte, konnte ihn nichts abhalten, die halben Nächte hindurch zu pfeifen. Besonders war eine gewisse Polka dem Kameraden sehr erwünscht, und die Schritte hörten gleich auf und es wurde ganz stille nebenbei, wenn die ersten Takte der Polka erklangen.
»Es ist lächerlich!« dachte Friedrich, »ich verstehe nichts von Musik, und doch gelingt es mir, dem armen Burschen dadurch Freude zu machen. Ich will ihn mir mal morgen ansehen, wie er aussieht.« Und er sah sich seinen Nachbar an, als dieser mit gekreuzten Armen im Hof herumschritt, und es freute ihn zu sehen, daß er lange nicht so finster und wild aussah, wie er sich ihn gedacht.
Aber die dunkeln, einsamen Nächte nahmen kein Ende.
Und die noch viel einsameren Tage! O, es ist etwas Entsetzliches für die Jugend, eingesperrt zu sein, und zu seinem Gefährten nichts anderes zu haben, als die Stille und das Dunkel. Es kommen die Gedanken und gehen, und sie kommen wieder und gehen, und dies ewige Gehen und Kommen peinigt den Boden des Gehirns, daß es das Hin- und Herwandeln, so leise es auch geschieht, zuletzt nicht [101] mehr ertragen will. Die Seele lauscht aus einen Ton von außen, auf ein bischen Farbe und Licht, das eine Neuigkeit sein mag in dem furchtbaren Einerlei dieser Stunden, von denen jede ganz gleich farblos und duftlos ist. Friedrich hielt seine Hand auf der nackten Brust, und wollte die Schläge seines Herzens zählen, aber dieses Klopfen langweilte ihn; er suchte nach seinem Puls, und konnte ihn nicht finden; die Beobachtungen, die er also an dem Blutlauf anstellen, und durch die er sich zugleich unterrichten und zerstreuen wollte, mißlangen gänzlich.
Er dachte nun wieder an den König – und dies war gerade einer der Gedanken, die das Gehirn nicht mehr dulden wollte, weil er wie ein zudringlicher, unverschämter Bettler immer wieder kam, und das Gehirn bereits alles, was es an vorräthigen Entschlüssen besaß, hingegeben hatte. Dasselbe war mit dem Gedanken an Tony eben so wenig etwas anzufangen im Stande.
Am längsten hielt noch der taube Kanonier und der nachbarliche Kamerad Stand.
Friedrich hatte zuletzt alle seine Polka's und Quadrillen angebracht, und wußte durchaus keine neuen. Die Tritte in der kleinen Nebenkammer wurden wieder sehr ungeduldig.
[102] Es kam eine unendlich lange Nacht, viel länger und um einen großen Theil dunkler als die vorhergehenden. Friedrich fühlte es ganz kalt zu seinem Herzen dringen; er lag ganz still auf seinen Brettern. Der Nachbar tobte nebenbei. Alle Mittel waren abgenutzt.
Die Nacht, als sie halb vorbei war, nahm einen neuen Anlauf, schöpfte neu Athem und fing ganz von vorn wieder an. Es war die widerspenstigste, unverschämteste Nacht, die man je gesehen. Sie wollte nicht weichen. Friedrich lag mit wachen, groß aufgerissenen Augen auf der Pritsche und sah in die Ecken hinein, wo die Kinder dieser eigensinnigen alten Nacht hockten und in ihren schwarzen schmutzigen Lumpen sich flüsternd aneinander drängten. So kam es wenigstens Friedrich vor; denn er hätte schwören mögen, daß in dem Winkel sich etwas bewegte. Aber er war so abgespannt, und sein Kopf, den er mit den beiden untergelegten Händen unterstützte, schmerzte ihn so sehr, daß er nicht daran dachte aufzustehen, um zu sehen was es sei. Dadurch wurden die nächtlichen Phantome so keck, daß sie aus ihrem Winkel herauskamen und sich dicht an die Pritsche stellten.
Friedrich sah jetzt weg und in eine andere Ecke. [103] Da stand der Besen des Wärters und sah ganz wie ein kleiner, furchtsamer Greis aus, der sich mit dünnem Rücken in den Winkel schmiegte.
Jetzt war es aber wieder still – so still, daß man das Abbröckeln am Gemauer hören konnte, und wie ein wenig Kalk niederrieselte. In dieser Stille erhob sich auf einmal ein Gesang, und der Gefangene vernahm die Worte:
Es ist das alte Preußenvolk nicht mehr!
Es zankt und hadert, ist in sich nicht eins –
Ein Theil zieht hierher – andrer dort hinaus. –
Des Vaters Freude freut den Sohn nicht mehr,
Des Vaters Stolz ist nicht mehr Sohnes Stolz,
Und Bruder gegen Bruder zieht zur Wehr.
O Preußenvolk, wenn nun der Feind sich naht,
So wirst du fallen wie des Schnitters Saat! –
Diese Worte wurden immer wiederholt und es war, als wenn die Nacht mit allen ihren tausend Ohren auf sie lauschte. Friedrich lauschte auch, und jedes Wort ging auf eine wunderbare Weise in seine Seele ein. Der unbekannte Sänger zog seine Klage zuletzt so schwer und leise hinaus, als lös'te er die Worte von einer lebensgefährlichen Wunde, die er nun verbluten lassen wollte, damit sie ihn tödte. Nie hatte die junge Seele des Soldaten ein solches tiefes menschliches Leid, in Töne gekleidet, [104] vernommen. Und der mitternächtliche Sänger ermüdete nicht, bis Friedrich das Lied auswendig wußte, und es ebenfalls hersagen konnte.
Es war eine schauerliche Nacht, und ein schauerliches Lied.
Und wenn Friedrich achtzig Jahre alt werden sollte, er könnte diese Nacht und dieses Lied nicht vergessen.
Das Licht des Morgens war jetzt doppelt Licht, weil es aus dem Boden dieser finstern, ewigen Nacht aufblühte, wie eine Lilie aus ganz schwarzem Erdreich.
Es war nicht möglich herauszubringen, wer der nächtliche Sänger war. Friedrich hätte willig sein Blut tropfenweise sich aus dem Herzen schöpfen lassen, wenn er ihn gesehen! Nie hatte ein menschliches Wesen noch so zu ihm gesprochen. Aber wie gesagt, er erforschte es nicht. Die Kammer zur Rechten sollte leer gewesen sein. Wer hatte aber dann darin gesungen? –
Des Vaters Freude freut den Sohn nicht mehr –
Des Vaters Stolz ist nicht mehr Sohnes Stolz! –
O Preußenvolk, wenn nun der Feind sich naht,
So wirst du fallen wie des Schnitters Saat! –
Und wieder hatte Friedrich die dunkle Vorstellung von der heimlich geladenen und nach der Stirn [105] gerichteten Büchse, die er mit der großen Zehe des rechten Fußes losdrückte.
Jetzt stieg es ihm wie Thränen in's Auge, und er warf sich auf die Pritsche und rief: »Ich hab' ja Dich noch, Tony, und wir haben uns ewige Freundschaft geschworen bei Friedericia, und ich habe Dich ja noch, mein Vater, und ich hab' mit Dir zusammen geknieet am Grabe der Mutter.«
Da kam das Lied aber wieder und mordete gleichsam den Frieden, indem es so eintönig und so still verzweifelnd rief:
O Preußenvolk, wenn nun der Feind sich naht,
So wirst du fallen wie des Schnitters Saat.