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17.
Die nächtliche Wacht.


Die Schützen hatten die Wache vor einem der Thore bezogen. Friedrich Forst hatte den Wachtposten im Gewehr, und es waren ihm gerade die Stunden zugetheilt, die Niemand gern übernahm, die Stunden von eins bis drei Uhr am frühen Morgen. Aber Friedrich gerade hatte diese Stunden gern; die tiefe Ruhe, die alsdann über der volkreichen Stadt herrschte, die völlig ausgestorbenen Straßen und Plätze machten auf sein Gemüth, das sich willig dergleichen Eindrücken hingab, einen eigenthümlichen, nicht unangenehmen Eindruck. Wenn auch seine große Gewissenhaftigkeit im Dienst es ihm nicht untersagt hätte, auf seine Büchse gestützt und an die Wand des Wachthäuschens gelehnt zu schlummern, wie es die Andern oft thaten in diesen Nachtstunden, wo Niemand sie beobachtete, wo der Offizier, der die Runde ging, [183] sich selten sehen ließ, und viel lieber bei einem Kameraden in irgend einer Wache die Zeit verplauderte, als sie auf den unheimlich leeren Straßen hinzubringen; er hätte es doch nicht gethan, denn er liebte es zu wachen. Es fiel ihm dann immer die Zeit ein, wo er am Krankenbette seines Vaters hatte wachen müssen, und wie ihm schon damals kein Gedanke an Schlummer eingekommen war, Alles aus Ehrgeiz, um zu zeigen, daß wenn es sein müsse, er die Natur bezwingen könne.

Diesmal war der Wachtposten, wie bemerkt, vor einem Thore – also viel freier und besser gelegen, als in den Straßen der Stadt. Man übersah die breite Vorstadtstraße, die sich in lauter Gärten endigte; in der Nähe war ein Kirchhof, dessen unbelaubte Bäume ihre Aeste über das Gitter der Mauer niederhängen ließen.

Als Friedrich seine Büchse über die Schulter genommen und nun seinen einsamen Gang begann, die wenigen Schritte auf und ab, und der Blick immer auf die selben Gegenstände gerichtet, verfiel er bald in das träumerische Sinnen, das zu diesem Orte und dieser Stunde paßte. Es rührte sich kein lebendes Wesen in der Nähe, dabei ging der Mond auf, und sah mit einem blassen Antlitz auf diese noch [184] nackte, von dem Winterfrost eben erst entkleidete Erde. Friedrich ließ seinen Blick die Straße hinaufgleiten – es wankte und wich nichts, keine Linie verschob sich, kein Punkt trennte sich von dem Dunkel – alles blieb in fester Ordnung, und die spitzen Schatten einzelner Giebel hielten sich so straff und stramm über den Weg gespannt, als wenn sie Niemand hinüberlassen wollten. Die Häuser in der Nähe hatten ihre Laden geschlossen und sahen aus, als wenn sie ein Jahrhundert lang nicht wieder zum Leben erwachen wollten. Eines dieser Häuser war eine kleine Schenke, und das Schild mit seinen gemalten Biergläsern und riesengroßen Semmeln und Butterschnitten drehte sich gespenstisch im Mondscheine, als prunkte es und lockte mit noch ganz anderen geheimnißvollen Schätzen, die es am hellen lichten Tage nicht zu zeigen wagte. Die geknickten Sträucher und die ausgetretene Schwelle am Eingang des Häuschens zeigten, wie viele Füße fröhlicher Gäste hier aus- und eingegangen.

Friedrich wandte sich langsam um und besah sich mit dem selben träumerischen Blick die andere Seite der Straße. Hier war der Kirchhof. Der Mond beschäftigte sich, die Gitterstäbe zu zählen und schrieb, wie ein fleißiger, aufmerksamer Schulknabe, ihre [185] Zahl ganz genau auf den Weg. Da fehlte auch kein einziger Stab, ja sogar der letzte Stab, der wegen der Einfassung des Thores nur halb auf die Welt gekommen war und von aller Welt übersehen wurde, auch dieser fehlte nicht. Aber nur höchst unvollkommen war es dem Monde gelungen, die kleine eiserne Rose wiederzugeben, die ganz oben auf dem Knauf des Gitterthors prangte, und dort, der Himmel weiß, was für ein Emblem mit ihren vier großen verrosteten Blättern und ihrer einen Knospe, die von den vorüberziehenden Vögeln verunreinigt und von dem Regen dann immer sehr unvollständig und übereilt gereinigt wurde, vorstellte. Diese Rose sah auf dem Schatten nicht mehr wie eine Rose aus.

Friedrich hatte die Gitterstäbe gezählt, es waren ihrer gerade achtzehn, und der eine kleine unvollkommene Stab war der neunzehnte. Gerade so alt war er – achtzehn Jahr und ein halbes, und der eine unvollendete Stab, sollte er vielleicht bedeuten, daß er sein neunzehntes Jahr nicht beendigen werde?

Wer kann es sagen, wie ihm der Gedanke kam, aber er kam ihm.

Er dachte an Tony Wickye.

[186] Und dann dachte er an seinen Vater und an die einfenstrige, kleine Stube, wo in dem Schrank in der Ecke die alten Büchsen aus dem Schwedenkriege stehen – eine darunter noch von einem Füselier aus des großen Kurfürsten Zeit – und wie er in dieser Stube von seinem Alten Abschied genommen, und der Alte das Haupt des Sohnes mit beiden Händen umschlossen und fest – recht fest – an die Brust gedrückt hatte, und wie Friedrich, als er sein Haupt zurückgezogen, nun wußte, wie das Herz in der Brust des Vaters schlage; was eine wundersame und gar nicht zu beschreibende Empfindung in ihm wach gerufen. Er hatte dabei sich heilig gelobt, diesem Herzen nie Kummer zu machen.

Und wieder zählte er die Stäbe an der Mauer. Ja, ja, es waren und blieben achtzehn und ein halber.

Ein großes, schönes, langes Leben lag vor ihm! Recht viele freudige Tage, recht viele ruhige und schöne Nächte – und Ehre und Glück; denn er wollte ein braver Junge sein Lebelang sein, und wenn er Sorgen und Leid zu tragen bekäme, so wollte er sie willig tragen. Es sollte ihn gar nicht kümmern; er wollte den Kopf schon immer oben behalten.

[187] Und wie er so weit mit seinen Gedanken gekommen, so pfiff er ein fröhliches Lied, das selbe, das er damals dem armen unglücklichen Stubennachbar vorgepfiffen.

Und jetzt – o wie wunderbar! Als sollte alles so kommen wie damals, und als sollte eine geheimnißvolle Stimme recht vernehmlich an sein Herz sprechen und alle und jede Freude daraus verdrängen, so hub es denn an, und es wickelte sich aus der Stille und Nacht derselbe unheimliche Gesang hervor, und es tönten die Worte:

Es ist das alte Preußenvolk nicht mehr!
Es zankt und hadert, ist in sich nicht eins –
Ein Theil zieht hierher – andrer dort hinaus! –
Des Vaters Freude freut den Sohn nicht mehr,
Des Vaters Stolz ist nicht mehr Sohnes Stolz,
Und Bruder gegen Bruder zieht zur Wehr.
O Preußenvolk, wenn nun der Feind sich naht,
So wirst du fallen, wie des Schnitters Saat!

Der Sänger wußte wieder nach seiner alten, schon gewohnten Manier das Ende so langsam und mit einer so tief heimlich klagenden und drohenden Stimme zu singen, daß Friedrich plötzlich ganz wild und heftig die Thränen aus den Augen stürzten.

[188] »Es ist nicht wahr!« sagte er zu sich selbst. »Es ist eine große Lüge!«

Er ging rasch an das Gitter hinan und schaute durch nach dem Kirchhof, denn es kam ihm vor, als käme der Gesang von dort. Allein er konnte nichts erspähen. Die Gräber blinkten mit ihren Kreuzen und Schilden im Mondenscheine, und es rührte sich kein Stäubchen in der Luft und auf der Erde.

Friedrich warf seine Büchse über die Schulter, und zum ersten Male gefielen ihm diese Nachtstunden nicht. »Wenn ich den Todtenvogel nur einmal fest bekäme!« murmelte er vor sich hin. »Er sollte mir sein Lied büßen!«


[189]


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