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Die Oberin des Krankenhauses Bethanien war wieder in die angenehme Phantasie versetzt, wo sie sich einbildete, eine fromme, junge Fürstin aus dem Mittelalter zu sein. Diesmal war es heller Sonnenschein im Empfangsaale, und die farbigen Glasscheiben mit den knieenden Rittern zu den Füßen von Madonnen ließen ihre purpurnen und violetten Blumen auf dem Boden spielen. Dabei durchzog ein feines und kostbares Räucherwerk den Saal, das etwas von dem Kirchenweihduft an sich hatte und sich in denselben kleinen blauen Wölkchen in einer gewissen Höhe sammelte. Es konnte nichts Prächtigeres und Schöneres geben, als diesen herrlichen Saal in seiner fürstlichen Stille und Abgeschiedenheit. Die Stühle an den Wänden mit ihren hohen Lehnen und kleinen braunen geschnitzten Kronen sahen so aus, [190] als hätten eben die Kurfürsten des heiligen römischen Reichs sich von ihnen erhoben, und als wüßten die Stühle es, und sähen unbeschreiblich stolz auf einen kleinen modernen Polsterstuhl herab, der, Gott weiß wie, in diesen Saal gekommen war, wo er mit seinem kleinen verschämten, blau atlassenen Polster und seinen kleinen gelben Schnüren und Troddeln in der Ofenecke stand und gerne hinaus gewesen wäre.
Es war die Besuchstunde der Oberin, und sie erwartete eine der Prinzessinnen, und in deren Gefolge noch andere vornehme Damen. Die Säle und Treppen waren auf das sauberste gereinigt, die Maschinen, wie gut gezähmte wilde Thiere, jeden Augenblick bereit ihre Künste zu zeigen, der Waschkessel hatte wie ein gieriger alter Herr, der zu große Bissen verschluckt, den Mund voll unreiner Wäsche, die er bereit war, sogleich auf ein gegebenes Zeichen niederzuschlucken, um sie völlig rein wieder von sich zu geben. Einige Kranke, die leichte, interessante Zustände hatten, und die von ihrem Leiden angenehm und unterhaltend zu sprechen wußten, waren auf einen etwaigen Besuch vorbereitet, und lagen oder saßen in äußerst saubern Negligé's, die wie eben gefallener Schnee glänzten, auf ihren Betten und blätterten im Gesangbuch. Der junge Hausarzt hatte eine feine [191] und geschmackvolle Toilette gemacht, und ging in einem der besuchtesten Corridore auf und ab, mit einem Zettelchen in der Hand und einem Silberstift, ganz in der Stellung, als wollte er eben ein Recept notiren oder eine tiefsinnige Diagnose sich aufzeichnen. Allein das Zettelchen blieb leer und der Silberstift rührte sich nicht. In der Loge der Pförtnerin befand sich eine Putzmacherin aus der Stadt, und half eben ein neues Häubchen aufstecken, und dabei entspann sich ein unaufhaltsames Geplauder, und ein schäumender Bach von Neuigkeiten einer ganzen Woche ergoß sich auf das trockene Feld der Neugierde der Pförtnerin, die jetzt alle bangen und fürchterlichen Träume der Nacht vergessen hatte. Es war ihr dabei sehr lieb, daß Nro. 9. den Dienst hatte, sehr beschäftigt war und daher nichts von den Neuigkeiten erfuhr. Die Pförtnerin, obgleich sie sie ihre beste Freundin nannte, gönnte doch Nro. 9. nicht das kleinste Gute. Frau Belzig wußte dies und sagte öfters, daß sie keine Wittwe kenne, die ein so hartes und liebloses Herz habe als ihre Freundin Plümecke, und daß keine Schicksalsprüfung bei ihr habe anschlagen können, und daß sie nur durch fortgesetzte Gespenster zu kuriren sei.
Während der ganze weitläufige Krankenpallast so festlich eingerichtet war und jeden Augenblick die [192] fürstlichen Equipagen vorfahren konnten, fing es plötzlich an in Nummero Neun zu rumoren. Ein dunkles Gewirre von Stimmen, ein Pfeifen und Zetern, dazwischen ein gellendes Lachen. Es war gerade die Stube, wo Frau Belzig bei einem erst kürzlich überbrachten Kranken sich befand. Zu jeder andern Zeit wäre dieser Lärm überhört worden, oder er hätte wenigstens nicht diese Aufmerksamkeit erregt. Die Thüren von drei Diaconissinnen-Zimmern öffneten sich und es kamen geputzte Köpfe zum Vorschein, die da fragten was es gäbe. Der junge Hülfsarzt, immer noch über sein Recept grübelnd, steckte das Blättchen und den Silberstift ein, um vorsichtig auf dem Teppich der großen Treppe einige Schritte vorwärts zu thun und dem Geschrei zu lauschen, das eine Etage tiefer zu ihm heraufklang. Er schickte die Schwester Apothekerin, um zu sehen, was es da gäbe, allein diese Dame, die zwei Kampherstöpselchen in den Ohren hatte und eine Gichtkette um den Hals, fand es unter ihrer Würde, dem Befehle eines so jungen Mannes, wie der Unterarzt war, Folge zu leisten. Sie zog sich daher hinter die Glasscheiben der Thüre zum Allerheiligsten der Apotheke zurück und wartete hier die Dinge ab, die da kommen sollten. Endlich erschien, gestützt auf eine Diaconissin und gefolgt von [193] zwei andern, die Oberin auf dem Treppenabsatz mit den Bronceeinfassungen, und fragte, was es gäbe. Diesen Moment hatte Nro. 9. abgewartet; sie stürzte aus der Hölle ihres Berufsortes hervor und schrie: »Ach – Herr Jes! Herr Jes! Allergnädigste Oberin. Da haben Sie mir einen complet wüsten Menschen übergeben. Es ist ein Apotheker, und zwar ein schon bereits vor einem Jahre übergeschnappter. Jetzt wüthet er und will mich umbringen, weil er behauptet, daß ich ihm eine Glasbüchse, die er mitgebracht, geöffnet habe. Es ist wahr, es war einiger Staub und etwas Unrath darin, und ich hab's hinausgeworfen und das Glas gereinigt.«
Aus der offen gelassenen Thür trat nun in einen gelben Schlafrock gehüllt, mit einer spitzigen Mütze auf dem Kopfe, der unglückliche Irre, und rief mit einer hohlen Stimme: »Fluch diesem Hause. Was ungerathene Söhne begonnen haben, ist vollendet worden durch den Unverstand dieses Weibes. Die Hölle ist los und wir sind jetzt nicht mehr zu retten! Auch die letzten eingekerkerten Teufel sind nun freigekommen! Aber rechnet es mir nicht an. Wenn der teuflische Apotheker gesiegt hat – ich bin nicht Schuld. Ich habe Tag und Nacht die Büchse gehütet und hätte sie auch sicher bewahrt, wenn [194] dieses Weib nicht wäre. Fluch über Euch! Fluch über uns Alle!«
Ein allgemeiner Ruf des Unwillens tönte aus den geöffneten Thüren. Auf den Befehl des Arztes waren die Hausdiener erschienen, handfeste derbe Gestalten, zu derlei Dienstleistungen ersehen, sie mußten den Wahnsinnigen bändigen. Nro. 9. schwur einen heiligen Eid, daß sie nicht mehr in die Krankenstube zurückkehren wolle. Nachdem der Tumult gestillt war, kehrte die Oberin in den Empfangsaal zurück.
Das Haus beruhigte sich nach und nach wieder.
Der junge Arzt begann wieder seinen tiefsinnigen Gang im Corridor. Die interessanten Kranken blätterten wieder in ihren Andachtsbüchern, die Schwester Apothekerin hatte wieder ihren Platz zwischen dem Salmiak und dem Alaun, und in nächster Nachbarschaft mit dem Rhabarber eingenommen.
Die erste Diaconissin, die eine unbezwingliche Animosität gegen die Charité hatte, und die zweite, die auf gespanntem Fuße mit dem Magdalenenstifte lebte, suchten beide der Oberin einzureden, daß der unangenehme und uninteressante Kranke, der eben die Störung veranlaßt, durch geheime Cabalen jener zwei gewissenlosen und indiscreten Anstalten hierher gelangt sei.
[195] Die Unterredungen über diesen besondern Fall wurden unterbrochen durch das Erscheinen einer Dame im Schleier, die an der Thüre stehen blieb und der Oberin einen Wink gab.
»Verlassen Sie mich jetzt, meine Damen,« sagte die Oberin mit einer graziösen Handbewegung. »Ich glaube, daß da Jemand kommt, der mich allein sprechen will.«
Die beiden Diaconissinnen entfernten sich, eben so respectvoll wie hoffärtig grüßend. Die Dame mit dem Schleier kam, sobald sie die Oberin allein sah, rasch auf sie zu und ergriff ihre Hand.
»Ach – meine theure Gräfin – sind Sie es! Sehr willkommen!«
»Meine Theure,« entgegnete die Gräfin auf Französisch und ohne den Schleier zu lüften, »man soll nicht erfahren, daß ich hier gewesen bin. Ich habe meine Gründe.«
»Die ich achte,« sagte die Oberin.
Beide Damen setzten sich auf ein Sopha.
Nachdem sich die Gräfin sorgfältig umgesehen hatte und bemerkte, daß Niemand lausche, fragte sie: »Wie ist's mit dem armen unglücklichen Geschöpfe geblieben, das ich vor einiger Zeit hierher führte?«
[196] Die Oberin sann einen Augenblick nach. »Ein armes, unglückliches Geschöpf? – Es werden so viele der Art hierher geführt.«
»Aber, meine Beste, Sie wissen doch. Der Umstand mit – Die Person, die sich in gewissen Verhältnissen befand – Erinnern Sie sich, wir kamen am späten Abend mit der Hebamme hierher.«
»So – so!« erwiederte die Oberin in einem langsamen und mißgestimmten Tone; »derlei Besuche sind mir und meinem Hause nicht gerade die willkommensten. Ich meine damit, Geschöpfe dieser Art, die sich vergangen haben. Offen will ich bekennen, daß sie nicht recht hierher gehören. Allein ich thue gern, was Sie wünschen, meine theure Freundin, und Sie schienen zu wünschen, daß man die Kranke gerade hier aufnähme.«
»Allerdings wünschte ich das. In der Bestürzung und der Verwirrung, in der ich mich damals durch eine gewisse Entdeckung befand, wußte ich keinen andern Weg als hierher.«
»Es hätte indessen noch andere Wege gegeben,« bemerkte die Oberin, und sah mit einem starren und nichtssagenden Blicke vor sich hin.
»Entschuldigen Sie, meine Theure.«
[197] »O, ich habe kein Wort gesprochen, liebste Gräfin. Kein Wort. Meine Stellung ist so eigenthümlicher Art. Ich selbst bin so tief niedergedrückt und leidend. Die Schlechtigkeit der jetzigen Welt, das Rohe und Gemeine der Verhältnisse im Allgemeinen drückt meine Seele nieder; und ich darf annehmen, daß jede edle Seele mehr oder minder niedergedrückt wird. Es ist dies eine Thatsache. Wir leiden alle; und vornehmlich die feiner organisirten Wesen. Als ich diese Stelle annahm, glaubte ich nicht, daß sie mich mit so niedrigen Elementen in Verbindung bringen würde. Mein Gott, man hilft gern, allein die Menschheit will sich nicht helfen lassen. Undank, schwarzer Undank ist unser Lohn. Doch das nebenbei. Vor allen Dingen sind mir diese Geschöpfe zuwider, von denen eines durch Ihre gütigen Hände mir überantwortet ist. Es ist ja so leicht, der Verführung zu widerstehen. Die heutigen Männer sind so wenig liebenswürdig; ich begreife nicht, wie nicht auch ein niedrig organisirtes Wesen dieser eitlen, blasirten und erbärmlichen Männerwelt widerstehen mag. Und dennoch! immer dieselben Opfer des Leichtsinns, der Frivolität. Das erscheint mir unerklärlich. Oder es muß ein Motiv dabei vorwalten, das ich verachte im Grunde meiner Seele, nämlich [198] Geldgier. Da ist freilich nicht zu helfen, und mein Haus ist viel zu gut, um solchen verpesteten Geschöpfen zur Freistatt zu dienen.«
»Sie sind im Irrthum, Theuerste,« sagte die Gräfin; »das arme Wesen, das ich Ihnen gebracht, gehört nicht in diese Classe; und wenn es auch dahin gehörte – wollen wir milde sein.« –
»Nein, nein, nein! Nicht milde. Wir könnten eben so gefehlt haben, allein wir haben es nicht. Es muß Gerechtigkeit in der Welt sein. Vergehen sich diese Geschöpft, so sollen sie auch dafür leiden.«
»Nun, lassen wir das!« sagte die Gräfin beschwichtigend. »Ueber ein allgemeines Thema verhandelnd, kann man uneins sein, während man bei dem besondern, gerade vorliegenden Fall sich leicht verständigt. Ich komme hierher, um Sie zu fragen, wer sich jener Armen angenommen hat, und von wem sie von hier weggeführt worden?«
Die Oberin sann eine Weile nach, und sagte dann zögernd: »Es verließen an jenem Tage, wenn mich mein Gedächtniß nicht trügt, drei Genesene mein Haus« –
»Es war nicht am Tage, es war in der Nacht, wo man Jene entführt hat« –
»Entführt? Unmöglich! Man entführt mir nichts. [199] Es ist in aller Form geschehen, daß sie das Haus verlassen. Und jetzt besinne ich mich. Allerdings, es war in der Nacht. Ich will Ihnen darüber genauere Auskunft geben lassen.«
Sie setzte die Klingel in Bewegung und die dienstthuende Diaconissin erschien. »Diese Dame möchte Ihnen gern einige Fragen vorlegen; kommen Sie, setzen Sie sich zu uns.«
Dieses »zu uns« bedeutete in einiger Entfernung von der Oberin, die in einsamer Größe auf ihrem Thronsessel sitzen blieb, indeß jene Beiden Fragen und Antworten austauschten.
»Von der jungen Person selbst,« berichtete die Diaconissin, »haben wir gar nichts erfahren. Es schien ihr auf's Strengste Stillschweigen anbefohlen zu sein, und sie war so schüchtern, daß jedes harte Wort sie erschreckte.«
»Ein hartes Wort,« berichtigte die Oberin, »ist hier auch wohl hoffentlich nie ausgesprochen worden, in meinem Hause nicht.«
»Allerdings nicht,« sagte die Dame in freundlicher Gefügigkeit, »ich wollte auch eigentlich nicht hartes, sondern lautes Wort sagen. Wir haben sie auch nicht belästigt, besonders da ihre schwere Zeit rasch heranrückte, und wir für ihr Leben bange sein [200] mußten. Sie bestand aber, was Gott über sie verfügte, recht wacker, und als sie eben anfing wieder in die Genesung zu kommen, und wir vielleicht etwas hätten erfahren können, wurde sie uns entzogen. Wir haben also durch sie nichts erfahren, aber durch Jemand andern.«
Die Gräfin belebte sich neu. »Durch wen?« fragte sie lebhaft.
»Durch den Bruder der Armen, der hierher kam, um sich in seiner rohen Weise, die Sie ja kennen, Gräfin, denn er hat in jener Nacht, wo Sie uns die Kranke brachten, fast das ganze Haus in Aufruhr gebracht, nach der Schwester zu erkundigen, und der darüber zankte, daß er sie nicht todt fand. Durch diesen Menschen erfuhren wir – ich will sagen, erfuhr ich – den Namen und den Stand des Verführers.«
Die Gräfin und die Oberin blickten zugleich auf die Sprechende hin.
»Allein werde ich den Namen auch sagen dürfen?« fragte die ältliche Frau zögernd.
»Warum nicht?« entgegnete die Oberin in einem kalten und gleichgültigen Tone. »Weshalb nicht?« setzte die Gräfin hinzu, indem sie mit Mühe das Zittern ihrer Stimme bewältigte.
[201] »Nun, Sellnhorst.«
Die Gräfin mußte alle Kräfte aufbieten, um – den beiden Zuhörerinnen nicht auffällig, die wenigen Worte auszusprechen, die sich ihr jetzt auf die Lippen drängten. Endlich sagte sie, indem sie an den Franzen ihres Sonnenschirms spielte: »Es giebt zwei dieses Namens, der Vater und der Sohn.«
»Welcher ist Präsident?« – nahm die Diaconissin das Wort.
Die Gräfin erhob sich und fragte, bleich wie der Tod, aber mit blitzenden Augen: » Der?«
»Um Gotteswillen!« rief die Oberin – »was haben wir da angerichtet! Was fällt mir ein! Sellnhorst! der Präsident Sellnhorst! Meine theuerste Gräfin, Sie sind ja die Braut dieses Mannes! Ach – ach! welche Unbesonnenheit! die Leute so schwatzen zu lassen! Gehen Sie, gehen Sie! Sie haben etwas Schönes angerichtet. Wollen Sie gleich gehen!«
»Ich bin dazu aufgefordert worden,« entschuldigte sich die Diaconissin, indem sie sich entfernte. Die Oberin umarmte die Gräfin, und beide schöne, schlankgewachsene hohe Gestalten standen während einer stummen Pause in eine Gruppe vereinigt.
»Sie sehen, wie die Männer sind, und wie man [202] sich hüten muß sich mit ihnen einzulassen,« flüsterte die Dame im Hermelinmantel. »Und so sind sie Alle –Alle!«
»Nicht Alle!« entgegnete Constance mit stockender Stimme und ihr Haupt an die Schulter der Teilnehmenden gelehnt. » Der, von dem ich's geglaubt, ist nicht so. Gerade der nicht.«
»Aber gerade der, meine Liebe! Ich verstehe Sie nicht. Gerade der ist ja so. Haben Sie es nicht gehört?«
»Ich habe Alles gehört, und gehe getröstet, beseligt – von dannen.«
Die Oberin sah sie starr an.
Die Gräfin erschrak über den Sinn, der in den Worten lag, und schnell sich verbessernd, setzte sie hinzu: »Nun ja, getröstet; weil es ja doch immer Trost gewährt, endlich einmal die Wahrheit zu wissen.«
Die Oberin kam von ihrem Erstaunen zurück. »Wenn Sie es so meinen,« sagte sie, »so haben Sie ganz meine Ansicht. Man muß wissen, wie schlecht die Welt, wie unverbesserlich böse die Menschen sind, um zu dem Trost zu gelangen, daß man von beiden gar nichts erwartet. Bei allem dem gestatten Sie mir eine Frage: Da Sie das arme Geschöpf [203] kannten und sich seiner annahmen, so mußten Sie doch wissen, mit wem Sie es zu thun hatten?«
»Ich wußte dies nur oberflächlich,« entgegnete die Gefragte. »Ein gewisses ängstliches Gefühl, das unterdessen unendlich gewachsen und heute auf eine nicht mehr zu ertragende Höhe gestiegen ist, hielt mich ab, nähere Nachforschungen anzustellen. Die Verführte wandte sich brieflich an mich, ohne mir ihren Verführer zu nennen. Ich habe sie auch nicht nach ihm gefragt. Auch den rohen, frechen Menschen, den Bruder, den ich nur einmal und flüchtig sah – auch den mochte ich natürlich nicht fragen. Ich legte mir als Pflicht auf, zu helfen, ohne zu wissen und zu fragen, wem ich half. Aber mein Herz litt bei dieser Unbestimmtheit. Den Namen hatte ich endlich – mehr zufällig als ihn absichtlich erforschend – erfahren; aber diesen Namen führten zwei Männer, die ich beide kannte. Jetzt wurde das Gefühl, das ich eben bezeichnet habe, immer quälender. Ich wollte Gewißheit. Die hülfreiche Frau, mit der vereint ich in jener Nacht die Kranke hierher gebracht, ist in Ausübung ihres Berufs auf mehre Wochen verreiset; hier die Kranke selbst ist von unbekannter Hand mir entführt worden – der junge Mann, den ich aussandte, mir um [204] jeden Preis Nachricht zu bringen, blieb aus, und so – da sich unterdeß die Erfüllung meines Geschicks rasch dem Ziele zudrängte – war ich in die finsterste Nacht des Zweifels und des Kummers gestürzt. Zuletzt blieb mir nichts anderes übrig, als zu Ihnen meine Zuflucht zu nehmen.«
»Ach!« rief die Oberin, und führte ihr Tuch an die Augen – »bei mir mußten Sie die ganze Fülle und den Umfang ihres Unglücks erfahren! Bei mir! Das ist ein hartes Geschick für mich.«
»Ich werde Ihnen ewig dankbar sein, meine Theure!« sagte die Gräfin, wieder zur Verwunderung der Oberin in die frühere zweifelhafte und räthselhafte Wortstellung fallend. »Ich bin durch Sie zu meinem Glücke, zu meinem Frieden geführt worden.«
Sie entfernte sich und die Oberin blieb zurück, auf eine Weile darüber nachdenkend, welch ein Glück und welch eine Freude darin liegen könne, seinen künftigen Mann untreu, und auf schlimmen Pfaden wandelnd, ertappt zu haben.