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Wenige Wochen war Georg in Paris, als er einen Brief von Doktor Gervais erhielt, der ihn von der Krankheit Madeleines in Kenntnis setzte. Er mußte sich entschließen, nach Celle zurückzukehren, und erbat sich die Erlaubnis dazu von der Herzogin, indem er einige Geschäfte vorschützte, die ihn zu dieser Reise nötigten. Charlotte gab ihre Einwilligung ungern; sie mochte nicht ihren Jugendfreund vermissen, dem sie allerlei Erfreuliches in kürzester Zeit zu melden hoffen konnte. Denn ihr Gesuch an den Kaiser war abgegangen, sie fand einen vertrauten Freund und Diener ihres verstorbenen Mannes daselbst in hohen Würden stehend, und dieser einflußreiche Mann hatte ihr zugesagt, daß man die rechtmäßige Geburt des Grafen anerkennen und ihm demnach eine Stelle unter den kaiserlichen Gesandtschaften einräumen werde, wie sie ihm zukomme.
Georg eilte unterdessen auf den Flügeln der Liebe nach dem Wohnort seiner geliebten Madeleine.
Sie empfing ihn anscheinend in Besserung, der Vater jedoch vertraute ihm, daß seine Tochter an einem Übel litt, das er für unheilbar hielt, an einer Art Schwindsucht, welche die Eigentümlichkeit habe, ihre Opfer unerbittlich, oft sehr rasch, hinwegzuraffen. Der Schmerz Georgs war unermeßlich, nur der feste Glaube, der Vater könne und müsse sich in der Beurteilung der Krankheit seines Kindes irren, hielt ihn aufrecht. Von Beatens Zustand waren ebenfalls keine erfreulichen Nachrichten eingelaufen. Gervais hatte das erkrankte Mädchen in ein Irrenhaus in Grenoble abgegeben, und von dort meldete man ihm, daß die Heilung nur langsam vor sich ginge. So stand der arme Mann zwischen zwei sterbenden Kindern! Konnte Beate geheilt werden, Madeleine blieb dennoch hoffnungslos auf dem Siechbette.
Keinen Tag, ja fast keine Stunde verließ Georg die Kranke, die sich rasch von dem scheinbaren Wohlsein, das ihr die Erscheinung des Geliebten gebracht, wieder zu einem Rückfall in die Krankheit neigte. Nichts konnte rührender sein, als die Arme leiden zu sehen. Je mehr ihre Kräfte schwanden, desto inniger und stärker fühlte ihre Seele, die mit aller ihrer Kraft an dem Gegenstande ihrer Neigung hing. Sie tat nichts, als hier ihren Vater, dort den Geliebten zu trösten, und beide bedurften so sehr des Trostes, daß sie kaum ihren herznagenden Kummer einer vor dem andern verbergen konnten. Auch Artur und Susanne, die schon das Band zusammenhielt, das sie sich gewählt, kamen, um an dem Schmerze der Ihrigen teilzunehmen.
Eines Tages, als Georg allein am Bett der Sterbenden saß, kam das Gespräch zwischen beiden auf die beabsichtigte Heirat, und Georg fragte Madeleine, ob es zu ihrer Beruhigung beitragen würde, wenn die Ehe jetzt geknüpft werde, oder ob sie ihre völlige Genesung abwarten wolle.
»Mein teurer Georg,« rief sie, »wozu diese Umstände! Vor Gott bin ich deine Frau; ob ich es vor der Welt auch bin, was liegt mir daran! Wenn über mein Leben entschieden ist und ich von dannen muß, alsdann würde eine solche Trauung nichts als ein unangenehmer Hemmschuh für dein künftiges Glück sein, abgesehen davon, daß es gänzlich gegen den Willen meines Vaters wäre.«
Georg erwiderte, daß dieser Grund für ihn keiner sei, und daß er sich über alle Hindernisse hinwegsetzen wolle.
»So warte,« rief sie. »In wenigen Wochen, vielleicht bereits in wenigen Tagen wird sich mein Schicksal entschieden haben; alsdann handle, wie es dir deine Rechtlichkeit und dein ehrenhafter Sinn eingeben.«
Madeleine genas nicht wieder. Mit dem beginnenden Frühling starb sie. Georg ging auf mehrere Wochen in die Einsamkeit des nahen Gebirges, wo er sich, gänzlich entfernt von allen Menschen, in die Stille eingrub und seinen Betrachtungen nachhing. Der arme Vater siedelte nun für immer nach Hannover über, wohin sein Amt als Hausarzt der Kurfürstin ihn beschied.
Georg wollte die Gegend nicht verlassen, ehe er Nachricht über das Ende seines Freundes erhalten. Vorsichtig, ohne sich jemand zu erkennen zu geben, denn jedes solches Erkennengeben hätte ihn nur aufgehalten und von seinem Zwecke abgeführt, näherte er sich dem Schlosse und kehrte unten bei einem Manne ein, den sein Dienst an den Teil des Gebäudes fesselte, der der letzte Schauplatz der Begebenheiten gewesen. Er war Heizer, ein einfacher Bauer, dem sich Georg ohne Gefahr entdecken konnte. Christian selbst sagte ihm nichts, vielleicht wußte er auch nichts Genaues, aber Elsbeth, seine kranke Schwester, die bei ihm wohnte, winkte Georg, eben als er sich wieder entfernen wollte, vorsichtig zu sich herein. Ohne daß der Bruder es bemerkte, machte die Stumme ein Zeichen, durch das sie andeutete, daß sie über den fraglichen Gegenstand etwas wisse. Georg wartete daher, und als der Bruder in Geschäften ausging, teilte er der Schwester sein Verlangen mit, den Ort kennenzulernen, wohin man den Leichnam gebracht. Sie machte sich mit ihm auf den Weg. Ehe die Dunkelheit eintrat, mußte die Stelle gefunden sein, später konnte nichts in dem an sich schon finstern Versteck entdeckt werden. In dem unteren Teile des Schlosses war die Einteilung noch völlig erhalten, wie sie zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges bestanden; auch noch früher hinauf reichten die Einzelheiten der Einteilung der weitläufigen Kellerräume und unterirdischen Hallen. Mit einer Laterne ausgerüstet, die Elsbeth trug, machte sich das schweigende Paar auf die Wanderung. Eine Welt voll Schutt und Graus tat sich vor ihnen auf; viele der unterirdischen Gemächer waren noch mit einer Art Malerei geziert und hatten zum Aufenthalt geflüchteter Familien gedient, die hier verweilten, während ihre Verfolger sie an entfernten Orten suchten. Wäre nicht der Gegenstand, den man suchte, so wichtig gewesen, Georg hätte gerne verweilt, denn des eigentümlich Interessanten gab es hier viel. Aber Elsbeth drängte weiter, und sie schritten durch eine dunkle, schweigende Halle, die ihr Licht aus einem kleinen Fenster erhielt, das an der Decke angebracht war. Dieser Kellerraum war gerade unter dem oberen Saal, wo die Tat geschehen. Eine Türe, mit Eisen beschlagen, stand noch halb offen, sie zeigte eine schmale Treppe, über deren halbzerfallenen Stufen die Mörder den Körper hinabgetragen. Die kleine, zusammengebückte Gestalt der Führerin, ihr altes, verschrumpftes Antlitz, über das ein schweres Tuch seine Falten schlug, gaben dem Ganzen etwas besonders Unheimliches. Sie blieb stehen, winkte ihren Begleiter an sich heran und gab durch Zeichen zu verstehen, daß sie hier am Orte der wichtigsten Entdeckung angelangt seien. Nochmals lauschte sie den Gang hinab, den sie gekommen, ob niemand nachkomme. Als sie sich hierüber genügende Sicherheit verschafft, eilte sie auf eine Tür zu, die klein und schmal in der dicken Mauer angebracht war. Es war schwer, sie zu öffnen, doch die vereinten Kräfte Georgs und der Alten brachten endlich das Werk zustande. Als die Öffnung aufgeschlossen war, starrte Georg in ein dunkles Wasser, das in der Breite von mehreren Fuß hier durchfloß und einen üblen Geruch verbreitete. Elsbeth blieb stehen und zeigte mit dem vorgestreckten Finger hier hinein. Georg bebte zurück. »Also hier haben sie ihn versenkt!« rief er. Elsbeth schüttelte mit dem Kopfe; sie deutete an, daß die dunkle Flut irgendwohin abfließe, und daß da die Entdeckung würde herbeigeführt werden können. Nochmals zeigte sie mit der Hand auf eine Stelle in dem schwammigen Wasser, die eine Einbucht in die schwarze, mit grünem Moos bedeckte Mauer bildete, und forderte Georg auf, den mit wenigen, morschen Brettern belegten Verschlag zu öffnen, der sich hier zeigte. Er tat es und sogleich fuhr er mit einem Schrei zurück. Das Haupt eines Menschen wurde sichtbar, aber es war weiß und kaum kenntlich. Der Leib steckte in der Grube; das faule Wasser reichte fast bis zu dem Kinn des hier Versenkten. Die seltsame weiße Farbe des Haares rührte von ungelöschtem Kalk her, den man darüber geschüttet. Ein Teil des Schädels und die tief eingesunkenen Augen waren unter dem wild durcheinandergewühlten Haar sichtbar. Schweigen und Dunkelheit herrschte um dieses schauervolle Grab!
Georg mußte sich an der Mauer halten, so übermannte ihn das Gefühl des Entsetzens. Das war der einst so gefeierte Held, der Liebling und Abgott der Frauen! In diesem abscheulichen Gefängnisse verweste sein Gebein! Hier war er verborgen, den man suchte, dessen Tod und Verschwinden allgemeines Aufsehen erregt hatten. Hier! Hier in diesem Loche! O Gott, was waren menschliche Größe, menschliche Schönheit und Anmut! Georg bewegte seine Hand wie segnend über dem grausen Haupte des Hingemordeten, und schloß dann die Bretter wieder über dem Eingang. Die Alte legte die Hand auf den Mund, zum Zeichen, daß er schweigen sollte; er winkte ihr zu, und beide verließen den finstern Aufenthalt der Schrecken.
Noch am selben Tage verließ Georg Hannover.