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31
Sauerkraut und Würste

Die Prinzessin saß in ihrem Arbeitsgemache, und ließ den Arzt kommen, den ihr geliebter Georg ihr ausgesucht. Herr Lafiat Gervais trat ein.

»Mein lieber Herr, Gott grüße Sie, ich bin nicht krank.«

»Das ist mir lieb zu hören,« erwiderte Herr Gervais.

»Deshalb sollen Sie aber dennoch bei mir bleiben; wahrhaftig Sie gefallen mir. Geben Sie mir die Hand.«

»Zu viel Ehre, Madame. Diese Hand ist nur gewohnt, mit Lanzette und Spritze umzugehen; ich wage sie Ihnen nicht anzubieten.« Dabei küßte der Arzt die Hand der Dame.

»Sie haben Heidelberg gesehen?«

»Freilich, Madame, den dicken Turm, in welchem das große Heidelberger Faß steckt!«

»Ach, das ist ein Faß! Nicht wahr, einem rechten Weintrinker läuft der Mund voll Wasser. Mein Vetter, der Markgraf von Baden-Durlach, hat sich einmal vermessen, er wollte das Faß leertrinken. Aber er kam nur bis zu dreißig Kannen, da mußte er innehalten.«

»Ich hätte nicht die Hälfte zu bewältigen vermocht.«

»Das glaube ich! Die Franzosen und die Französinnen sind überhaupt keine Trinker. Es ist hier alles schlecht! Kein ordentliches Gericht, das man essen mag. Immer die verteufelte Bouillon, wobei einem ganz übel wird. Mein Koch, denk' Er sich, Herr Gervais, versteht kein Sauerkraut zu machen; er macht statt dessen einen elenden Brei aus grünen Fasern, die er für Kraut ausgibt.«

»Sauerkraut!« rief Gervais. »O, dürfte ich mir erlauben, Eure königliche Hoheit an meine bescheidene Mittagstafel zu führen, da würden Sie Sauerkraut finden, so gut wie ich es immer nur in Deutschland gegessen.«

»Ach, was Er sagt, Herr Gervais!« rief die Prinzessin. – »Ja, zu Ihm gehen! Das kann ich nicht! Aber weiß Er was: schicke Er mir einmal heimlich ein Schüsselchen! Ja? Es kann ja für Medikament gelten.«

»Versteht sich, gnädigste Frau; es ist ja auch für viele ein Medikament.«

»Aber nur Würste dazu!« bemerkte die Prinzessin. »Versteht Er mich, Würste! So echte derbe Schweinswürste.«

»Die lasse ich von meinem Schlächter holen.«

»Macht er welche?« –

»Wenn ich's ihm befehle, so tut er's,« erwiderte der erfreute Doktor, der stolz war, einmal keine Pillen und Latwergen, sondern Wurst und Sauerkraut zu verschreiben.

»Ach Gott, welche Freude!« rief die gute Prinzessin, indem sie sich von ihrem Stuhle erhob und laut nach der Rätin rief. Diese kam.

»Liebstes Mamachen!« rief sie dieser zu. »Denke dir doch, hier ist ein Mann, der will mir mein Leibgericht besorgen! Sauerkraut und Würste! Dieser goldene Mann heißt Herr Lafiat Gervais, ist der Vater eines der Pagen meines Mannes und will mein Arzt werden.«

Die Rätin begrüßte Herrn Gervais mit großer Freundlichkeit. Es wurde verabredet, wann die Speise überschickt werden sollte. Der Tag wurde festgesetzt. »Ich weiß nur nicht,« sagte der Arzt nach einer kleinen Pause, »ob ich alsdann noch werde das Glück haben, Madames Leibarzt zu sein.«

»Weshalb nicht, Herr Gervais?«

»Ihro Hoheit kennen hier nicht die Sitten und Gewohnheiten. Die gnädigen Herrschaften haben nicht viel zu sagen bei der Besetzung der Stellen ihres dienenden Personals. Das Geld entscheidet, und Herr Artiveaux bietet eine größere Summe, als ich geben kann.«

»Herr Artiveaux?« rief die Prinzessin, »das ist der lange, dürre Mann, der mir gestern einen Besuch machte, und mir sogleich etwas verschreiben wollte! O, den mag ich nicht.«

»Wenn er mehr bezahlt als ich, so werden ihn Eure Hoheit schon nehmen müssen,« erwiderte Herr Gervais achselzuckend. »Hier sind alle Stellen käuflich, von dem Range Ihres Oberhofmarschalls bis zu dem Posten, den Ihr Ofenheizer an der Kamintür einnimmt.«

»Aber wenn ich es will!« rief Charlotte. »Ist denn der Wille einer Schwester des Königs nichts?«

Herr Gervais zuckte nochmals die Achseln. »Versuchen es Eure Hoheit, aber ich zweifle, daß Sie es werden durchführen können. Doch sollte ich auch nicht zu dem Glück gelangen, daß mir die Gesundheit der besten, edelsten Frau hierzulande anvertraut wird, ich werde doch Ihr ergebenster Diener, Ihr treuester Ratgeber bleiben. Dies schwöre ich.«

»Guter, lieber Gervais, ich danke Ihm herzlich!« rief die Prinzessin. »Weiß Gott, ich habe treue Freunde nötig! Ja wahrlich, niemand hat sie nötiger als ich.« Sie barg ihr Antlitz in den Armen der mütterlichen Freundin, und ihre Tränen flossen.

Der Arzt stand auf seinen Stock gelehnt und sah voll Mitleid und Rührung die junge Fürstin an, die ihm in diesem Augenblick so einsam und verlassen vorkam. –

»Eure Hoheit erlauben, daß ich Ihnen meine Tochter senden kann?« fragte er nach einer Pause. »Sie wird das Glück haben, Ihnen die bestellten Speisen zu bringen.«

»Sie soll kommen!« rief Elisabeth Charlotte. »Als die Tochter eines so braven Mannes wird es mich freuen, das gute Mädchen zu empfangen. Und nun, Herr Gervais, leb' Er wohl! Es ist die Zeit, wo ich mich ankleiden lassen muß, um in die Messe zu gehen.« Sie stand auf, und nachdem sie den Arzt bereits zum Abschiede gegrüßt hatte, blieb sie auf der Schwelle ihres Gemaches stehen, winkte ihn heran, drückte ihm ein kleines Päckchen in die Hand und sagte dabei: »Aber niemand es wiedersagen! Hör' Er, Gervais, niemand! Die Ärzte taugen alle nichts, sind lauter Charlatane! Ich will mein Lebtag keinen Arzt haben. Hat Er mich verstanden?«

Herr Gervais empfahl sich. Er nahm ein kostbares Geschenk, das aus einem Ring mit edlen Steinen bestand, mit sich.

Es kam, wie der Arzt es vorausgesehen. Herr Artiveaux bekam die Stelle. Von dem Augenblick an sah ihn die Prinzessin niemals. Wenn er im Vorzimmer erschien, ließ sie stets heraussagen, sie befände sich vortrefflich. Einmal gebot sie ihrem Leibarzte, Artemise, ihre Lieblingshündin, zu kurieren, die sich eine Indigestion zugezogen. Er ließ ihr entgegnen, er sei kein Hundearzt. »Da haben wir's,« rief sie, »nicht einmal das können diese Leute, und ich würde augenblicklich seinen Hund kurieren, wenn er ihn mir anvertraute. In dieser Hinsicht kenne ich keinen Stolz!« –

Herrn Lafiat Gervais' Tafelgast wurde sie jedoch, und manches gute Gericht Sauerkraut kam aus der Küche des Arztes in ihre Gemächer, und zwar jedesmal mußte die schöne Madeleine es ihr bringen. »Ich werde ihm doch einmal von Diensten sein!« rief sie bei sich. »Herr Gervais soll an mich denken! Es wird sich schon etwas für ihn finden.«

Kaum fand sie etwas Zeit, Ordnung in ihre Geschäfte zu bringen, so war der Tag auch schon festgesetzt, wo sie nach Monbouisson ins Kloster zu ihrer Tante ging. Die alte Äbtissin, die eine lustige, etwas zerstreute Weltdame war, empfing ihre Nichte mit großem Vergnügen.

»Wie halten Sie es nur aus, ma tante,« rief die Prinzessin, »Nonne zu sein und in den Klostermauern zu leben?« –

»Liebes Kind!« rief die Äbtissin. »Alles hat seine leidliche Seite, so auch das Klosterleben. Ich habe nur eine Nonne um mich, die taub ist. So brauche ich nicht mit ihr zu sprechen.«

»Aber das Nachtgebet,« rief Charlotte, »das Licht beim frühen Morgen in den dunkeln Kreuzgewölben! Wie ist das unangenehm!«

»Das nutzt einer Malerin, liebes Kind! Ich beurteile die Lichteffekte, die der Schein in die schwarzen Gewölbe wirft. Jetzt, da Sie in Frankreich sind, liebe Nichte, müssen Sie recht oft kommen und mich besuchen.«

»Gewiß, ma tante! Man läßt mich nur nicht so gar oft hinaus. Ich lebe in einem goldenen Käfig; die Türe wird nicht aufgemacht.«

»Man sagt, daß der König nächstens nach Holland geht,« rief die fromme Dame, »da müssen Sie mit. Nichts Angenehmeres als eine Reise mit dem Hofe, überall Feste, überall Vergnügungen. Und die Holländer sind ein lustiges Völkchen. In meiner Jugend habe ich dort gelebt. Ich weiß, daß einst eine große Maskerade war und ich eine Maske suchte. Ich fand sie nicht; sie war Gott weiß wohin verlegt. Statt der Maske ergreife ich in der Zerstreuung einen silbernen Kammertopf und will ihn vors Gesicht binden. ›Aber Luischen!‹ rufe ich meinem Kammermädchen zu, ›was ist das für eine Maske! Sie hat keine Löcher für die Augen, und dazu stinkt sie abscheulich.‹ Seit dieser Zeit hat man's aufgebracht, daß ich zerstreut sei.«

Charlotte lachte herzlich. »Und man hatte nicht ganz unrecht!« erwiderte sie.

»Und doch, was bin ich in diesem Punkte gegen den Duc von Sully? Er zog sich an, um in die Kirche zu gehen, vergaß aber nichts als nur die Hosen. Es war im Winter und kalt. ›Ich weiß nicht,‹ sagt der Herzog, ›mich fröstelt recht sehr, ich sollte meinen, ich hätte das Fieber.‹ Einer sagt ihm: ›Vielleicht ist's auch nur, weil Sie sich nicht warm genug angekleidet.‹ Mit diesen Worten hob er den Rock des Herzogs auf, und jedermann sah, was ihm fehlte.«

»Das ist noch besser!« rief Charlotte und lachte mit ihrer Tante um die Wette über diese Späßchen. »Ich weiß nicht, was es heißt, zerstreut sein,« sagte sie. »Es muß sein, daß mein Kopf so wenig Gedanken hat, daß er imstande ist, sie immerdar geordnet bei sich zu behalten.«

Beide Damen trennten sich, indem sie sich tausend gute Wünsche eine der andern gaben. Die Prinzessin mußte versprechen, bald wiederzukommen.

Madeleine Lafiat Gervais war mit ihrer Freundin, der kleinen Susanne, im Palais Royal gewesen und hatte an den Küchenmeister von Madame ihre kleine Sendung abgegeben. Beide jungen Mädchen standen auf den letzten Stufen der Treppe und sahen sich nach ihrem Mietswagen um, der unterdessen fortgefahren war. In ihren Sonntagskleidern zu Fuß zu gehen, besonders da die Straßen vom letzten Regen schmutzig waren, konnte für keine sehr angenehme Aufgabe gelten, und die beiden Freundinnen standen deshalb lange beratend und zweifelnd da, als sie Georg daherkommen sahen, der Papiere in der Hand hielt und eilig zu sein schien. Kaum bemerkte er die Mädchen, als er freundlich auf sie zukam.

»Die Frau Herzogin ist nicht zu Hause!« sagte Susanne. »Wir haben hier etwas Bestelltes abgegeben und können nun nicht nach Hause, weil unser Wagen fort ist.«

»So werde ich Ihnen einen verschaffen!« entgegnete der junge Mann bereitwillig.

»Wir danken bestens!« rief Madeleine, ihre Freundin anblickend. »So besinne dich doch, Susanne, hast du denn niemand, bei dem du auf ein halbes Stündchen absteigen kannst? Ich denke, die Frau des zweiten Portiers unten am Flügel -es Hauses?« –

»Das ist wahr!« rief das Mädchen erfreut. »An Madame Gallache habe ich nicht gedacht. Dort wollen wir einsprechen, komm!«

»Aber, meine Damen,« rief Georg artig, »wollen Sie denn mich ganz allein abfahren lassen, da ich Ihnen einen Platz in dem Wagen der Frau Herzogin anbieten kann? Sie sehen, dort kommt er eben, Ich führe Sie zu Ihrem Herrn Vater, mein liebes Fräulein, und von dort setze ich meine Fahrt weiter fort.«

Der Wagen kam und hielt. Nach einigen Überredungen und Artigkeiten, die von beiden Seiten gewechselt wurden, gelang es Georg, die beiden Mädchen in den Wagen zu bringen. Er selbst nahm den Vordersitz ein, und die Kutsche rollte fort.

»Nun können wir uns denken, daß wir vornehme Damen sind!« hub Susanne an. »Wie schön ist's, in einem solchen Wagen zu fahren! Wie ganz anders sieht man die Welt an aus so hellen, schönen Fenstern! Ach, Madeleine, sieh mal, dort geht Herr Pierre, der Freund des Herrn Gervais, der fast alle Abend zu ihm kommt, um mit ihm Schach zu spielen! Er sieht uns nicht. Wie er ängstlich und sorgenvoll dahingeht! Ja, wenn man zu Fuß geht, hat man Sorgen.«

»Man hat sie auch in dem Wagen!« sagte Madeleine, indem sie ihre Blicke senkte, um den hellen, freundlichen Augen ihres Gegenübers nicht zu begegnen, die mit gespannter Aufmerksamkeit auf sie gerichtet waren.

Susanne, die etwas von dem Einverständnis der beiden bemerkt hatte, bemühte sich, sie nicht zu stören, sondern zeigte sich auf das angelegenste mit den Außendingen beschäftigt. Sie sah aus dem Fenster und berichtete laut und vergnügt, was sich ihr zeigte. »Ach,« rief sie, »da ist eben einer in den Schmutz gefallen! Er erhebt sich wieder, aber das schöne Kleid ist dahin. Und er hat Strümpfe mit Zwickeln an! Zu wem er nur will? Vielleicht hat der arme Mann eine Braut. Ja, man soll im schmutzigen Wetter nicht zu Fuß ausgehen, wenn man sich elegant und vornehm will irgendwo sehen lassen. Das sollte als Gesetz überall angeschlagen werden.«

Madeleine machte einen Versuch, ihre kleine Hand aus Georgs Rechter langsam und unbemerkt loszumachen.

»Übrigens«, plauderte die Kleine wieder, »wenn ich so glücklich wäre, einen Bräutigam zu haben, würde ich ihn nie im Schmutze ausgehen lassen. Er müßte, wenigstens solange er nicht Ehemann wäre, sich stets einen Wagen oder eine Portechaise halten. Es ist nichts unangenehmer, als wenn man von einer Freundin hört: ›Dein Liebster ist gestern in den Schmutz gefallen!‹ Dafür klingt es hübsch, wenn man hört: ›Ich habe gestern Ihren Allerschönsten gesehen; er saß stattlich in einer Kutsche und ließ sich an mir vorüberfahren.‹ Gar hübsch ist's, wenn man noch hinzusetzt: ›Er hielt einen hübschen Blumenstrauß in der Hand.‹«

»Sie haben neulich meine Schwester gesehen?« fragte Madeleine. »Wie gefiel sie Ihnen?«

»Ihre Schwester, mein Fräulein, nein!« erwiderte der junge Mann zerstreut.

»So hat mir mein Bruder etwas vorgeschwatzt!« sagte das Mädchen.

»Doch, ja! Allerdings, in der Versammlung der Müller! O, wo habe ich nur meine Gedanken! Ach, mein Fräulein, was ist diese Schwester für eine gezierte Person; und die, mit der sie sich Arm in Arm gefaßt hatte, war ein wahres Äffchen! Ich könnte mit solchen Geschöpfen nicht einen Tag, was sage ich, nicht eine Stunde zusammen leben!« sagte Georg.

»Es ist jetzt der Modeton!« bemerkte Madeleine.

»Ein sehr häßlicher Ton,« rief Georg, »ich habe ihn bei wirklich vornehmen Damen noch nicht bemerkt! Sie sind auch schon mit ihren superfeinen Sitten aufs Theater gekommen. Die Prinzessin hat mir von einem Stücke gesprochen, wo diese Sorte von Weibern lächerlich gemacht wird. Sie sowohl als die Männer, die womöglich noch gezierter und alberner sind.«

»Gehen Sie viel in das Theater?« fragte Susanne.

»Ich bin bis jetzt nur einmal darin gewesen!« erwiderte Georg. »Das ist nicht meine Sache. In meiner Jugend habe ich zuweilen selbst etwas gesungen, gespielt und dazu agiert. Es mußte aber gerade sein, wenn ich Laune hatte, oder wenn es den Kameraden Spaß machte.«

»Wir beide lieben das Theater sehr!« rief Susanne. »Und wenn Herr Gervais es irgend möglich machen kann, so gibt er uns ein Billett in die Oper, das er ohne Geld von einem Schauspieler erhält, den er in der Kur hat. Dann kommen wir beide auf das eine Billett hinein. Eine sitzt immer abwechselnd auf dem Schoß der anderen.«

»Ach, wie gern möchte ich da an Ihrer Stelle sein, Fräulein Susanne!« rief Georg und sah mit glühenden Blicken die stille, sittsame Tochter des Arztes an. »Aber so gut wird es einem nicht hier in der abscheulichen Stadt. Die Prinzessin sagt oft: ›Wenn ich nur eine Stunde könnte in einem großen deutschen Walde einsam auf einem Baumstamme sitzen und mir in der Stille etwas träumen.‹ Und so ist's auch! Ich habe ganz ihre Ansicht! Aber freilich möchte ich nicht allein im Walde sitzen, ich wüßte schon, wer mit mir säße.«

Beide Mädchen schwiegen, und der Wagen rollte in den gepflasterten Hof der altertümlichen Wohnung des Arztes. Georg faßte sich ein Herz und sagte mutvoll: »Jetzt fordere ich meinen Lohn! Beide Mädchen müssen mir einen Kuß geben.«

Susanne reichte zuerst ihre Wange hin, dann kam Madeleine an die Reihe. Nicht einen Kuß, nein, ein halbes Dutzend wurden ihr, halb mit Gewalt, geraubt, und wenn der Wagenschlag nicht von einem Diener aufgerissen worden wäre, wer weiß, was das arme Mädchen noch hätte erdulden müssen. So hob Georg seine beiden Pflegebefohlenen heraus.

Als er aus dem Hofe heraus war, ließ er den Wagen nach Hause fahren, und setzte zu Fuß seinen Weg fort. »Ich kann diese engen, schwülen Kasten nicht leiden!« rief er vor sich hin. »Es geht sich weit besser in der freien Straße.«

Noch ganz voll von Liebesträumen, und ganz erhitzt von dem schönen Platz neben dem geliebten Mädchen, rannte er fast einen Mann an, der, von mehreren Dienern begleitet, die Straße heraufkam. Es war der Polizeiminister, Herr d'Argenson, dem Georg eine Gefälligkeit zu erzeigen die Gelegenheit gehabt hatte, die ihm der Herr Minister mit besonderem Wohlwollen vergalt.

»Ach, Herr Graf,« rief der stolze, groß und schlank gebaute Mann, indem ein vornehmes Lächeln seinen Mund umspielte, »sieht man Sie endlich auch einmal?«

Georg verbeugte sich und stotterte in der Schnelligkeit ein paar artige Phrasen hervor.

Der Polizeichef schien nicht besonders auf seine Worte zu achten; er zog ihn in die Ecke eines Hauses, und hier fragte er: »Sind Ihnen zwei Damen bekannt, die – hier nannte er das Haus und die Straße – wohnen, eine kostbare Einrichtung halten und Leute bei sich sehen?«

Georg hörte mit Erstaunen die Namen der zwei Betrügerinnen, die er vor ein paar Tagen nach Hause geleitet und mit denen er das Abenteuer gehabt.

»Meine Leute geben sie mir als Beutelschneiderinnen an,« nahm der Chef wieder das Wort. »Ich kann es nicht recht glauben, daß sie Namen aus der guten Gesellschaft tragen und man sie auch in sehr anständigen Häusern sieht. Nun hat man mir versichert, daß Sie sie vor kurzer Zeit nach Hause begleitet haben. Ist Ihnen nichts mit ihnen passiert? Sprechen Sie offen, ich muß es wissen. Neulich ist dem Grafen von Noailles eine große Summe abhanden gekommen; er behauptet, daß der Raub dort begangen sei. Es fehlen aber alle Beweise, um gegen die Frauen einzuschreiten. Ist mein Verdacht begründet, so gehören diese Weiber zu einer weit verbreiteten Gesellschaft, der ich bereits auf der Spur bin, und der ich den Garaus zu machen willens bin.«

Georg, dem nichts mehr zuwider war, als den Angeber zu machen, und der sich entschlossen hatte, von dem Spitzbubenstück, obgleich er es entdeckt, nicht weiter zu sprechen, sah sich hier genötigt, die Wahrheit zu bekennen. Er tat es mit einfachen Worten und konnte bemerken, wie willkommen dem vornehmen Manne diese Eröffnung sei. Er wandte sich, indem er einen seiner Begleiter zu sich heranwinkte, mit freundlichem Gruße von Georg ab, der seinen Weg weiter fortsetzte. »So ist's mir gelungen,« rief er bei sich, »den armen, verlassenen Knaben zu rächen, der damals in ihre Netze fiel.«

Dieses Ereignis hatte ihm die vergangenen Tage wieder ins Gedächtnis gerufen. Er sah sich selbst: frierend, obdachlos, durch Gassen irren, nicht wissend, wo er den Hunger stillen, bei welchem seiner elenden Genossen er sich ein augenblickliches Obdach erbetteln solle. Er zog ein Büchelchen hervor, das er stets bei sich hatte, und sah nach der Wohnung des ehemaligen Speisewirtes. Sie war nahe, und er beschloß hinzugehen.

Ein kleiner Laden nahm sich am Schlusse der Straße, eben von der Sonne beleuchtet, ganz angenehm und behaglich aus, auch wenn das freundliche, runde Gesicht nicht in demselben geleuchtet hätte, das jetzt gerade heraussah. Es war Jacques Bertholet! Kein Zweifel, obgleich mit einer oder zwei Fettfalten mehr geschmückt, als er früher gehabt hatte. Georg blieb stehen und besah sich den alten Gauner mit Wohlgefallen. Es war nicht seine Absicht, sich ihm zu nähern oder gar sich ihm zu erkennen zu geben, nur der Zeit wollte er sich mit Muße erinnern, wo dieses Fettgesicht als eine Art Macht über ihn und sein Geschick geherrscht, wo er ihn als König der Gesellschaft in seiner Schenke, in der halbrunden Einfassung der Nische, wo die Getränke ausgeschenkt wurden, hatte stehen sehen. Bertholet, der den vornehmen jungen Mann an der anderen Seite der Straße scheinbar müßig hin- und herschreiten sah, bemühte sich, dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zuletzt sah Georg ihn das Käppchen abnehmen und hinaus auf die Straße grüßen. Als auch dies nichts half, ließ er seine Stimme ertönen, die da rief: »Es ist wohl erlaubt, Eure Gnaden zu bitten, etwas näherzutreten! Wollen Eure Gnaden nicht einige kostbare Bücherexemplare in Augenschein nehmen für Dero künftige Büchersammlung? Hier ist der Thomasius – fast ganz neu und wohl erhalten! Hier der Hortus juventutis mit guten Holzschnitten, ebenfalls wie aus den Händen des Buchdruckers kommend! Alles vortreffliche Werke! Wenn Eure Gnaden nur die Güte haben wollen, in Person in meinen schlechten Laden zu treten!«

»Du Gauner und Erzschelm!« fluchte Georg leise vor sich hin. »Prahlst mit den abgepfändeten Büchern der Studenten.« Dem Verkäufer, der eben die Halbtür seines Ladens öffnete, und sich anschickte, mit zwei Büchern unter dem Arm auf ihn loszukommen, machte er eine flüchtige Verbeugung und entfernte sich.

Die Uhr schlug und zeigte ihm an, daß es Zeit sei, an dem Orte seiner Bestimmung einzutreffen. Er eilte daher fort. Bertholet ging in seinen Laden zurück, indem er vor sich hinmurmelte: »Strafe mich Gott, aber dieser junge Mann sah dem blonden Knäbchen ähnlich, das ehemals, als ich noch Besitzer der Schenke ›zu den drei brennenden Herzen‹ war, Tänze aufführte und zur Gitarre sang. Wo das Jüngelchen nur hingekommen sein mag!«


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