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Schluß

Wir haben, soweit wir es vermochten, den mystischen Weg von Anfang bis zu Ende verfolgt. Wir haben gesehen, wie der immer sich wandelnde und immer wachsende menschliche Geist aus der Höhle der Täuschung emporsteigt zum Bewußtsein einer übersinnlichen Welt; wie der »Pilger, der Jerusalem zustrebt«, durch seine Tore eingeht und seine Heimat im Schoße der Wirklichkeit erreicht. Für ihn bedeutet, wie wir aus seinen Worten und Taten gesehen haben, diese Reise und dies Endziel alles; ihre überwältigende Wichtigkeit und Bedeutung läßt jede andere Seite des Lebens zurücktreten. Nun sehen wir uns am Ende unserer Untersuchung der Frage gegenüber: Was bedeuten diese Dinge für uns, für gewöhnliche, nichtmystische Menschen? Welche Verbindung haben sie mit der konkreten Welt des Scheins, in der wir festgehalten werden, mit dem geheimnisvollen, ewig wechselnden Leben, das zu führen wir gezwungen sind? Was sagen uns diese großen und seltsamen Abenteuer des Geistes über das Ziel dieses kleineren Lebensabenteuers, das wir zu bestehen haben; über unsere Bedeutung, unsere Freiheitsmöglichkeiten, unsere Beziehung zum Absoluten? Stellen sie nur die überspannten Leistungen eines seltenen Seelentypus dar? Sind die unvergleichlichen Zeugnisse der Kontemplativen nur die Frucht einer ungezügelten genialen Phantasie, die mit der Wirklichkeit ebensowenig zu tun hat wie die Musik mit den Schwankungen der Börse? Oder sind sie die höchsten Offenbarungen einer Kraft, die unserm Leben eingeboren ist; Zeugnisse von Beobachtungen auf einer wirklich vorhandenen Daseinsebene, welche unsere normale Welt der Sinne überragt und beherrscht? Diese Frage ist wesentlich; denn wenn die Geschichte der Mystiker es nicht vermag, einen Teil dieses normalen Erlebens aufzuhellen, wenn sie nicht ihren Platz in der allgemeinen Geschichte der Menschheit hat und etwas zu unserm Verständnis seiner Natur und Bestimmung beiträgt, so kann sie für uns immer nur ein entferntes, akademisches und unwesentliches Interesse haben.

Aber ich denke, daß diese Geschichte, weit entfernt, akademisch oder unwesentlich zu sein, vielmehr von vitaler Bedeutung für das tiefere Verständnis der Geschichte der Menschheit ist. Sie zeigt uns auf hoher Ebene die seelische Entwicklung, die jeder, der zur Wahrnehmung der Wirklichkeit aufsteigen will, durchmachen muß; das Gesetz, nach dem sich das religiöse Bewußtsein des Menschen, sei es nun stark oder schwach, notwendigerweise entfalten muß. Bei den großen Mystikern sehen wir die höchste und weiteste Entfaltung dieses Bewußtseins, die das Menschengeschlecht bis jetzt erreicht hat. Wir sehen diese Entfaltung im großen Maßstabe, allen Menschen wahrnehmbar dargestellt; sehen die Stufen seines langsamen Aufstiegs über die Sinnenwelt durch glanz- und schreckensvolle Ereignisse bezeichnet, die gewöhnliche Menschen schwer als Teil des organischen Lebensprozesses anerkennen oder begreifen können. Allein der Keim dieses selben übersinnlichen Lebens, die Quelle der erstaunlichen Energie, die den großen Mystiker befähigt, sich zur Freiheit zu erheben und seine Welt zu beherrschen, ist in uns allen verborgen, ist ein wesentlicher Teil unseres Menschentums. Während der Mystiker das Genie für das Absolute hat, haben wir nur ein kleines, verborgenes Talent, der eine mehr, der andere weniger, und die Entfaltung dieses Talents, dieses Seelenfunkens, wird, wenn wir es überhaupt an den Tag kommen lassen, im kleinen und je nach seinem Maße, denselben Gesetzen organischen Wachstums, denselben unerbittlichen Bedingungen des Aufstiegs entsprechen, die wir den mystischen Weg beherrschen sahen.

Jeder also, der zum Bewußtsein einer Wirklichkeit erwacht, die jenseits der normalen Sinnenwelt liegt, wie klein und schwach und unvollkommen dies Bewußtsein auch sein mag, wird mit Notwendigkeit auf eine Straße geführt, die auf niederer Ebene dieselbe Richtung hat, wie sie der Mystiker auf höherer Ebene nimmt. Der Erfolg, mit dem er diesen Weg zur Freiheit und zu vollem Leben verfolgt, hängt ab von der Stärke seiner Liebe und seines Willens, von seiner Fähigkeit zur Selbstzucht, seiner Standhaftigkeit und seinem Mute. Er hängt ab von der Reinheit und Vollkommenheit seiner Liebe zum absoluten Guten, Wahren und Schönen. Doch, wenn er überhaupt aufsteigt, so wird dies über eine Folge von Zuständen geschehen, die in ihrem kleinen Maßstabe genau denen des großen Kontemplativen entsprechen auf seinem Wege zu jener Vereinigung mit Gott, die das Ziel des Geistes bei seinem Aufstieg zur Heimat ist.

Wie der Embryo des physischen Menschen, sei er nun ein Heiliger oder ein Wilder, dieselben Entwicklungsstadien durchzumachen hat, so auch der geistliche Mensch. Wenn die »neue Geburt« in ihm stattfindet, der neue Lebensprozeß seines tieferen Selbst beginnt, so lernt der normale Mensch, ebenso gut wie der Mystiker, den spiralen Anstieg zu höheren Ebenen kennen, die heftigen Schwankungen zwischen Licht und Dunkel, die seltsamen geistigen Störungen, das plötzliche Hervorbrechen aus dem Unterbewußtsein und die verwirrenden flüchtigen Wahrheitsschimmer, die das Wachstum der übersinnlichen Kräfte begleiten, wenn er sie auch vielleicht in einem andern als im mystischen Sinne deutet. Auch er wird zu energischer Selbstzucht getrieben, zur bewußten Läuterung seines Blicks, auf daß er schaue; und dies neue Bild der Welt drängt ihn zur aktiven Hingabe seines ganzen Wesens an den Aspekt des Unendlichen, den er wahrgenommen hat. Auch er erleidet im kleinen die seelischen Störungen des geistlichen Wachstums, wird zu den Opfern gezwungen, die jede Form des Genies fordert. Er erfährt an sich bis zu einem gewissen Grade die furchtbaren Augenblicke der klaren Selbsterkenntnis, wie ihr Gegengewicht, die ekstatische Intuition des Wirklichen. Mehr und mehr drängt sich uns beim Studium alles zugänglichen Materials die Tatsache, das Gesetz auf, daß die Bewegungslinie des menschlichen Bewußtseins, wenn es seinem eingeborenen Trieb zum Übersinnlichen folgt, immer dieselbe ist. Es gibt nur eine Straße vom Schein zur Wirklichkeit. »Die Menschen gehen dahin, aber die Seelenzustände sind ewig die gleichen.«

Es gilt gleich, ob es sich nun um das Bewußtsein des bildenden Künstlers oder des Musikers handelt, der irgendeine Erscheinungsform des himmlischen Lichtes oder der himmlischen Musik aufzufangen und festzuhalten sucht und alle andern Erscheinungsformen der Welt verschmäht, um sich ganz an diese hinzugeben; oder um das Bewußtsein des bescheidenen Dieners der Wissenschaft, der seinen Geist reinigt, auf daß er ihre Geheimnisse mit reinem Auge schaue; ob die höhere Wirklichkeit in der Form von Religion, von Schönheit oder Leiden, von menschlicher Liebe, Güte oder Wahrheit wahrgenommen wird. Wie unterschiedlich diese Formen der Transzendenz auch scheinen mögen, die mystische Erfahrung ist der Schlüssel zu allen. Alle sind in ihrer Art Offenbarungen des Ewigen im Hier und Jetzt; Erweiterungen des menschlichen Bewußtseins, die zu heldenhaftem Wagen rufen, zur Neuordnung der Persönlichkeit um neue und höhere Lebenszentren antreiben. Durch jede von ihnen kann der Mensch zur Freiheit aufsteigen und seinen Platz im großen Reigen des Alls einnehmen, kann »tanzend das verstehen, was geschieht«. Jede führt den, der ihre Offenbarung in gutem Glauben hinnimmt, sie nicht durch eigensüchtige Zurückhaltung hemmt, zur demütigen Anerkennung des allgemeinen Gesetzes der Erkenntnis: des Gesetzes, daß »wir das schauen, was wir sind«, und daß daher »nur das Wirkliche die Wirklichkeit erkennen kann«. Erwachen, Selbstzucht, Erleuchtung, Selbsthingabe und Vereinigung sind die wesentlichen Stufen der Reaktion des Lebens auf diese Grundtatsache; sind die Bedingungen, daß wir zum Wahren Sein gelangen, die notwendigen Gesetze, nach denen allein unser Bewußtsein von irgendeinem dieser Grenzländer der Ewigkeit, von irgendeiner dieser Erscheinungsformen des Übersinnlichen sich entfalten und zur Freiheit und vollem Leben gelangen kann.

Wir sind also allesamt den Mystikern verwandt; und wir werden am besten lernen, sie zu verstehen, wenn wir uns an diese Verwandtschaft halten, wenn wir, soweit wir es vermögen, ihre großen Zeugnisse im Lichte unserer kleinen Erfahrung deuten. So fremd und fern sie uns auch erscheinen mögen, sie sind nicht durch einen unüberschreitbaren Abgrund von uns getrennt. Sie gehören zu uns. Sie sind unsere Brüder, die Riesen, die Helden unseres Geschlechts. Wie das Werk des Genies nicht nur ihm gehört, sondern auch der Gesellschaft, die es hervorgebracht; wie die Theologie erklärt, daß die Verdienste der Heiligen allen zugute kommen, so haben auch wir infolge der Solidarität der Menschheitsfamilie an dem teil, was die Mystiker auf höherer Daseinsebene vollbracht haben. Das von ihnen Erreichte ist uns ein Pfand für unser ewiges Leben.

Mystiker sein, heißt nichts anderes, als hier im Zeitlichen am wirklichen und ewigen Leben teilhaben, in einem so vollen, tiefen Sinne, wie es überhaupt für den Menschen möglich ist. Es heißt, als freier und bewußter Helfer – nicht als Knecht, sondern als Sohn – an den freudigen Geburtswehen des Universums teilnehmen, an seinem gewaltigen Aufschwunge durch Schmerz und Seligkeit zu seiner Heimat in Gott. Diese Gabe der »Sohnschaft«, diese Möglichkeit freien Mitwirkens an der Weltentwicklung ist das größte Vorrecht des Menschen. Die geordnete Folge von Zuständen, die organische Entwicklung, wodurch sein Bewußtsein sich von der Täuschung losmacht und zu mystischer Freiheit aufsteigt, die seine normale Welt bestimmt, statt von ihr bestimmt zu werden, ist der Weg, den er gehen muß, um jene Sohnschaft zu erlangen. Nur durch diese bewußte Pflege seines tieferen Selbst, durch diese Umordnung der Elemente seines Wesens kann er zu den Bewußtseinsebenen gelangen, wo er den Rhythmus hört und sich ihm einfügt, nach dem die Welten auf ihrer Pilgerschaft zum Vaterherzen sich bewegen. Der mystische Akt der Einigung, das freudige Sichverlieren des verklärten Selbst in Gott, das die Krönung seines bewußten Aufstiegs zum Absoluten ist, ist der Beitrag des Einzelnen zur Bestimmungserfüllung des Alls.

Der Mystiker kennt diese Bestimmung. Sie liegt klar da vor seinem hellsichtigen Auge, so klar, wie unsere verwirrende Welt der Form und Farbe vor unserm normalen Blick liegt. Er ist der »verborgene Sohn« der ewigen Ordnung, ein Eingeweihter in den geheimen Plan. Während daher »alle Kreatur sich sehnet und ängstet« [Röm. 8, 22], während sie langsam, von blindem Verlangen angetrieben, sich der Vollendung nähert, in der allein sie Ruhe finden kann, eilt er voll Sehnsucht den Pfad zur Wirklichkeit hinan. Er ist der Pionier des Lebens auf seiner unendlich langen Reise zu dem Einen, und indem er sein Ziel erreicht, zeigt er uns den Sinn und Wert dieses Lebens.

Dieser Sinn, dieser geheime Schöpfungsplan, leuchtet aus jedem Gebiet des Seins hervor, wenn wir nur Augen hätten, ihn zu sehen. Seine frohlockenden Verkündigungen ertönen uns aus aller großen Musik, sein wilder Zauber ist das Leben aller wahren Poesie. Sein Gesetz – das Gesetz der Liebe – ist das Wesen des Schönen, die Triebkraft des Heldentums. Er erhellt den Altar jedes Glaubens. Er durchströmt wie Götterblut die Adern des Weltalls. Alle Träume und Phantasien des Menschen von einer übersinnlichen transzendenten Vollkommenheit, die ihm nahe ist und doch unerreichbar, von einer übersinnlichen transzendenten Lebenskraft, die er erlangen kann – ob er den Gegenstand seiner Sehnsucht nun Gott nennt oder Gnade, Sein, Geist, Schönheit, »reine Idee« –, alle sind doch nur Umschreibungen dessen, was sein tieferes Selbst als seine Bestimmung erkennt, sind nur ungeschickte und unvollkommene Andeutungen des allumfassenden lebendigen Absoluten, das dieses tiefere Selbst als wirklich erkannt hat. Dies höchste Etwas, die anbetungswürdige Substanz alles dessen, was da ist – die Synthesis von Weisheit, Macht und Liebe –, und wie der Mensch sie aufnimmt, sich in ihrem Dienst umschafft und sich endlich mit ihr vereinigt, dies ist das Thema der Mystik. Die zwiefache Ausdehnung des Bewußtseins, die ihm eine Verbindung mit den transzendenten und immanenten Erscheinungsformen dieses Etwas gestattet, ist in ihrer allmählichen Stufenfolge der mystische Weg. Sie ist zugleich die Krone der menschlichen Entwicklung, die höchste Vollendung des Lebens, die Befreiung der Persönlichkeit von der Welt des Scheins, ihr Eintritt in das freie, schöpferische Leben des Wirklichen.

Weiterhin drängt sich uns Christen die Bemerkung auf, daß die Psychologie Christi, wie sie sich uns in den Evangelien darstellt, von gleicher Art ist wie die der Mystiker. Mit ihren Qualen und Seligkeiten, ihrem dualistischen Charakter von Handeln und Genießen, spiegelt sie ihre Erlebnisse auf höherer Ebene. Dank dieser Tatsache reicht die Leiter der Kontemplation – jene Leiter, die das mittelalterliche Denken zu den Werkzeugen der Passion rechnete, da es sie als wesentlich für die wahre Erlösung des Menschen erkannte – ohne Unterbrechung von der Erde hinauf bis in den höchsten Himmel. Sie steht gegen das Kreuz gelehnt, sie führt hinauf zu der verborgenen Rose. Auf ihr steigen die Priester des Guten, Wahren und Schönen auf und ab zwischen der Welt des Seins und der Welt des Scheins. Von welchem Standpunkte aus wir also das Abenteuer der großen Mystiker auch betrachten mögen – von dem der Psychologie, Philosophie oder Religion –, immer ist es für uns von höchster Bedeutung. Es ist ein Hauptschlüssel zum Rätsel Mensch; mit seiner Hilfe können wir vieles in unserer geistigen Beschaffenheit wie in unsern religiösen Vorstellungen und unserm Erleben erklären. Wir erkennen, daß wir auf allen diesen Gebieten langsam und schwerfällig aufwärtsklimmen, einem noch unsichtbaren Ziele zu. Die Mystiker schreiten als erfahrene Bergbesteiger voran und zeigen uns, wenn wir nur achtgeben wollen, den Weg zur Freiheit, zur Wirklichkeit und zum Frieden. Wir können in diesem unserm irdischen Dasein nicht bis zu der erhabenen und einsamen Höhe aufsteigen, die von der Wolke des Nichtwissens verhüllt ist, wo sie jenen »Tod des Gipfels« finden, den sie als das Tor des vollkommenen Lebens bezeichnen; aber wenn wir uns ihre Forschungen zunutze machen, so können wir unsere Ebene, unsern Platz in der ewigen Ordnung finden. Wir können zur Freiheit aufsteigen, das »selbständige Geistesleben« leben.

Betrachten wir noch einmal den mystischen Weg, so wie wir ihn von Anfang an verfolgt haben. Wohin führt er, wenn nicht zu diesem Ziel?

Er begann mit dem Erwachen eines neuen, keimhaften Bewußtseins im Menschen, einem Bewußtsein göttlicher Wirklichkeit, im Gegensatz zu der täuschenden Sinnenwelt, in welcher er befangen war. Von dem Gefühl der eigenen Kleinheit gegenüber diesen erhabenen Möglichkeiten, die ihr offenbar geworden, gedemütigt und erschreckt, zog die Seele sich in die »Zelle der Selbsterkenntnis« zurück und mühte sich dort, sich der ewigen Ordnung, die sie wahrgenommen, anzupassen; tat alles von sich ab, was sich dem widersetzte, schulte ihre Kräfte, reinigte die Sinnesorgane. Nachdem sie sich so in Übereinstimmung mit der geschauten Wirklichkeit umgeschaffen hatte, wurde ihr das »ewige Hören und Sehen« offenbart. Ihre Augen öffneten sich einer Welt, die zwar noch die natürliche Welt, aber keine Scheinwelt mehr war, da sie im Glanze des Unerschaffenen Lichtes geschaut wurde. Sie erkannte nun die Schönheit, die Majestät, die Göttlichkeit der lebendigen Welt des Werdens, die jedes lebende Wesen in ihrem Netz hält. Sie war über den engen Gesichtswinkel, unter dem die gewöhnlichen Menschen nur eine ihrer vielen Seiten wahrnehmen können, hinausgelangt, hatte das mechanische Universum, das der Kinematograph der Sinne ihr darbot, verlassen, um am großen Leben des Alls teilzunehmen. Die Wirklichkeit kam zu ihr, sobald ihre Augen geläutert genug waren, sie wahrzunehmen, nicht von einem fernen Wunderlande des Geistes, als plötzliche überirdische Erscheinung, sondern leise und sacht sich ihr enthüllend, aus dem Herzen der Dinge selbst. Nachdem sie so zu einer neuen Daseinsebene gehoben war, begann sie von neuem ihr endloses Werk des Wachstums; und da sie durch die Reinigung der Sinne die bisher von der Sinnenwelt schattenhaft widergespiegelte Wirklichkeit zu sehen gelernt hatte, strebte sie nun, durch Reinigung ihres Willens jenem ewigen Willen, jenem Sein näher zu kommen, dessen Offenbarung das Leben, die Welt des Werdens ist und dem sie dient. So gelangte sie durch vollständige Aufgabe ihrer ganzen Selbstheit, durch die Vervollkommnung ihrer Liebe vom Werden zum Sein und fand ihr wahres Leben in Gott.

Doch diese Aufwärtsentwicklung, diese wunderbare inwendige Reise war von Anfang bis zu Ende mit den Vorgängen des menschlichen Lebens aufs engste verbunden. Sie entwuchs diesem Leben wie der Mensch seiner Heimaterde. Wir konnten diesen Entwicklungsgang sogar unter jenen symbolischen Formeln beschreiben, die wir die »Gesetze« der natürlichen Welt zu nennen pflegen. Indem wir den Geltungsbereich dieser Formeln weiter ausdehnten, entdeckten wir einen Pfad, der uns ohne Bruch vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, vom Schein zum absoluten Leben führte. Es ist nichts Unnatürliches an dem Absoluten der Mystiker: Er gibt Seinem eigenen Universum den Rhythmus und fügt sich selbst diesem Rhythmus ein. Bei unserm eifrigen Suchen nach dem, was wir für geistlich halten, übersehen wir zu oft das, was allein wirklich ist. Die wahren Mysterien des Lebens spielen sich so leise ab, mit so leichter, sicherer Anmut, mit einer so freimütigen Bejahung unserer zeugenden, strebenden, sterbenden und nie ruhenden Welt, daß auf den phantasiearmen, wundergierigen Durchschnittsmenschen ihre tägliche leuchtende Offenbarung unendlicher Weisheit und Liebe kaum einen starken Eindruck macht. Doch diese Offenbarung drängt sich uns unaufhörlich auf. Nur die harte Rinde des Oberflächenbewußtseins verbirgt sie unserm normalen Auge. In einem Augenblick, wo wir es am wenigsten erwarten, mitten in den gewohnten Lebensvorgängen, gleitet jene Wirklichkeit, in der die Mystiker wohnen, durch unsere verschlossenen Türen, und wir sehen sie plötzlich an unserer Seite.

Es heißt von den Jüngern von Emmaus: »Und es geschah, da Er mit ihnen zu Tische saß, nahm Er das Brot, dankte, brach's und gab's ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten Ihn.« [Luk. 24, 30 f.] So offenbart sich auch uns das übersinnliche Leben, wonach wir uns sehnen, und unser Teilhaben daran nicht auf irgendeiner fernen und unfruchtbaren Daseinsebene in den scharfsinnigen Erklärungen der Philosophie, sondern in den normalen Geschehnissen unseres täglichen Lebens, die plötzlich für uns eine tiefere Bedeutung gewinnen. Nicht in den Seitenwassern des Daseins, nicht in spitzfindigen Argumenten und okkulten Lehren, sondern überall da, wo das unmittelbare und einfache Leben der Erde vor sich geht. Es findet sich in der Seele des Menschen, solange diese Seele lebendig und werdend ist, es findet sich nicht an irgendeinem unfruchtbaren Ort.

Diese Erfahrungstatsache ist das Band, das uns mit den Mystikern verbindet, unsere Gewähr für die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen, für die hohe Bedeutung ihres Erlebens, ihrer engeren Verbindung mit der Wirklichkeit. Die Mystiker ihrerseits sind unsere Gewähr für das Ziel, auf das die immanente Liebe, der verborgene Steuermann, der mitten unter uns weilt, zusteuert; sie sind unsere »lieblichen Vorläufer« auf dem Pfade zur Wirklichkeit. Sie kehren zu uns zurück von der Begegnung mit dem hehrsten Geheimnis des Lebens, wie Maria vom Grabe zurückgeeilt kam: von wunderbarer Botschaft erfüllt, die sie kaum zu künden imstande sind. Wir, die wir sehnsüchtig nach irgendeiner Bürgschaft ausschauen und ihre strahlenden Gesichter sehen, drängen sie, ihre Offenbarung weiterzugeben, wenn sie es können. Es ist die alte Bitte der Schwachsichtigen und Kleingläubigen:

» Dic nobis, Maria,
Quid vidisti in via?
«

Allein sie können es nicht sagen, können nur stammelnd und stückweis von dem berichten, was sie symbolisch geschaut:

» Angelicos testes, sudarium et vestes [Aus dem mittelalterlichen Osterspiel (bzw. der zugrunde liegenden Ostersequenz). Die Jünger fragen die vom Grabe zurückkehrende Marien: »Sag' uns, Maria, was hast du auf dem Wege gesehen?« »Die Engel als Zeugen, das Schweißtuch und die Linnen.«]«

nicht den inneren Gehalt, nicht die endgültige göttliche Gewißheit. Wenn wir die haben wollen, müssen wir selbst ihren Fußtapfen folgen.

Wie die Geschichte des Kreuzes, so endet auch die Geschichte des menschlichen Geistes in einem Garten, an einem Ort der Geburt und Fruchtbarkeit, voll von schönen und natürlichen Dingen. Göttliche Zeugungskraft ist sein Geheimnis; ein Dasein, das nicht um seiner selbst willen, sondern um eines volleren Lebens willen da ist. Diese Geschichte endet mit dem Erscheinen göttlicher Menschheit, die uns nie wieder verläßt, die in uns und mit uns lebt, als Pilger, als Arbeiter, als Gast an unserm Tische, als Teilhaber an allen Wechselfällen des Lebens. Die Mystiker legen Zeugnis ab für diese Geschichte; sie waren sehr früh wach und liefen uns voran, von ihrer großen Liebe getrieben. Wir, die wir einer so hehren Begegnung noch nicht fähig sind, können, wenn wir in ihren Zauberspiegel blicken und ihrer gestammelten Botschaft lauschen, in weiter Ferne die Vollendung des Menschengeschlechts schauen.

Je nach dem Maße ihrer Kraft und Leidenschaft haben diese wahren Liebhaber des Absoluten im Hier und Jetzt den äußersten Prüfungen göttlicher Sohnschaft, den letzten Forderungen des Lebens standgehalten und genügt. Sie sind nicht zurückgeschreckt vor den Leiden des Kreuzes. Sie haben dem Dunkel des Grabes ins Antlitz gesehen. Schönheit und Todespein, beide haben sie gerufen, beide haben ihre heldenhafte Antwort erhalten. Für sie ist der Winter vorüber, die Zeit des Vogelgesangs ist da. Aus der Tiefe des tauigen Gartens tritt ihnen das Leben – neu, unauslöschlich und ewig schön – mit dem jungen Tage entgegen.

Et hoc intellegere, quis hominum dabit homini?

Quis angelus angelo?
Quis angelus homini?
A te petatur,
In te quaeratur,
Ad te pulsetur:

Sic, sic accipietur, sic invenietur, sic aperietur Und dies zu verstehen, wer von den Menschen kann das einem Menschen geben? Welcher Engel einem Engel? Welcher Engel einem Menschen? Von dir muß man es erbitten, in dir suchen, bei dir anklopfen; so, so wird man es erhalten, wird man finden, wird aufgetan werden. (Schluß von Augustins Confessiones XIII, 38.).


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