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Drittes Kapitel
Die Reinigung des Selbst

Hier steht also das neu erwachte Selbst, das sich zum erstenmal der Wirklichkeit bewußt geworden und von tiefer Liebe und Ehrfurcht zu dieser Wirklichkeit ergriffen ist. Es sieht sich jedoch nicht nur in eine neue Welt gestoßen, sondern auch an den Anfang eines neu zu beginnenden Pfades gestellt. Rastlose Tätigkeit ist jetzt seine Losung, Pilgerschaft seine Lebensaufgabe. »Daß eine Suche und ein Ziel da ist, ist als einziges Geheimnis verkündet.« Die lange und langsam fortschreitende seelische Entwicklung, wodurch es zur Freiheit gelangen, fähig werden soll, auf höheren Ebenen der Wirklichkeit zu leben, ist unter irgendeinem Symbol seinem Bewußtsein gegenwärtig. Die, denen dies Geheimnis nicht offenbart wird, sind keine Mystiker in dem genauen Sinne, wie das Wort hier gebraucht wird, wie groß auch ihre zeitweilige Erleuchtung gewesen sein mag.

Was muß auf diesem Wege zur vollkommenen Vereinigung mit dem Absoluten der erste Schritt sein, den das Selbst tut? Offenbar der, sich von allen denjenigen Elementen des normalen Erlebens zu befreien, die nicht in Einklang mit der Wirklichkeit stehen: von Täuschung, Übel, Unvollkommenheit jeglicher Art. Aus falschen Begierden und falschen Gedanken hat der Mensch sich eine falsche Welt erbaut, wie ein Mollusk sich durch vorsätzliche und stete Absorbierung von Kalk und Verschmähung jeder andern Nahrungsaufnahme eine harte Schale bilden kann, die ihn von der Außenwelt abschließt und die den Ozean, dem sie entnommen, nur in einer verzerrten und unkenntlichen Gestalt darstellt. Diese harte und gänzlich unnahrhafte Schale, diese einseitige Absonderung des Oberflächenbewußtseins, bildet sozusagen eine kleine Höhle der Täuschung für jede Einzelseele. Ein wirkliches und bewußtes Hinaustreten aus dieser Höhle muß für jeden Mystiker, wie es bei Platons Gefangenen der Fall war, der erste Schritt sein, mit dem die Jagd des Selbst nach der Wirklichkeit beginnt.

Wie es in der schlichten Sprache der altmodischen Theologie heißt: »Die Welt des Menschen trägt den Stempel seiner Sünde.« Wir sehen eine Welt der Täuschung, weil wir ein Leben der Täuschung führen. Wir kennen uns nicht selbst, daher kennen wir auch nicht den wahren Charakter unserer Sinne; und so haben wir nicht den richtigen Maßstab für das, was sie uns über unsere Beziehung zur Außenwelt sagen. Diese Welt, von der wir ein verzerrtes Bild haben, weil wir sie so sehen, wie unsere Selbstbefangenheit sie uns widerspiegelt, muß von uns in ihrer Wirklichkeit und Göttlichkeit geschaut werden. Dem geläuterten Blick der großen Mystiker erschien sie in dieser Eigenschaft; ihre Schalen waren weit geöffnet, sie kannten die Fluten des Meeres der Ewigkeit. Dieses lichte Erfassen des Wahren ist es, was wir meinen, wenn wir von der Erleuchtung sprechen, die dem zuteil wird, der die Prüfungen des Weges der Reinigung getreulich auf sich nimmt.

Das normale Selbst, wie es in der normalen Welt existiert – der »alte Adam« des hl. Paulus – ist eines übersinnlichen Erlebens gänzlich unfähig. Alle seine Tätigkeiten ordnen sich um ein Bewußtseinszentrum, das nur zur materiellen Welt in Beziehung steht. Im Augenblick, wo es erwacht, fühlt es plötzlich diese Unfähigkeit. Es erkennt sich als endlich. Nun strebt es nach dem Unendlichen. Es ist eingeschlossen in die harte Schale seiner Individualität; es strebt nach Vereinigung mit einem größeren Selbst. Es ist gefesselt; es sehnt sich nach Freiheit. Jeder seiner Sinne ist auf Täuschung abgestimmt; es strebt nach Einklang mit der absoluten Wahrheit. »Gott ist die einzige Wirklichkeit,« sagt Patmore, »und wir sind nur insofern wirklich, als wir in Ihm sind, und Er in uns The Rod, the Root, and the Flower, Magna Moralia XXII..« Welche Form also das mystische Erleben auch annehmen mag, ihm muß eine Wandlung in der inneren Haltung des Subjekts vorangehen; eine Wandlung, die es ins Reich der Wirklichkeit einführt und es befähigt, sich in dauernde Beziehung zu einem Objekt zu setzen, das kein Teil seiner normalen Welt ist. Wenn daher das Ziel der Mystik auch nicht Gutsein ist, so bringt sie dies doch ohne weiteres mit sich. Die Tugenden sind die »Zierde der geistlichen Hochzeit«, weil diese Hochzeit ebensowohl Vereinigung mit dem Guten wie mit dem Schönen und Wahren ist.

Zuerst also muß das Selbst von allem gereinigt werden, was zwischen ihm und dem Guten steht, indem es den Charakter der Täuschung oder »Sünde« abtut und den Charakter der Wirklichkeit anlegt. Es hat das eifrige Verlangen, dies zu tun, vom ersten Augenblick an, wo es sich in dem alles offenbarenden Glanz des Unerschaffenen Lichtes sieht. »Wenn die Liebe einmal das innere Auge der Seele öffnet, damit sie diese Wahrheit sehe,« sagt Hilton, »dann beginnt die Seele wahrhaft demütig zu werden, denn dann fühlt und sieht sie durch den Anblick Gottes, wie sie ist, und hört auf, ihren Blick und ihr Vertrauen auf sich selbst zu richten The Scale of Perfection III, 7.

So dient, wie bei Dante, die erste Stufe des Läuterungsberges dazu, allen Stolz auszukehren und Demut an seine Stelle treten zu lassen. Dieser Vorgang ist die unvermeidliche, man könnte fast sagen: automatische Folge jeder noch so flüchtigen Vision der Wirklichkeit; sie zeigt das erdgebundene Selbst in seiner wahren Gestalt. Sein ganzes Leben lang hat es sein Kerzenlicht an andern Kerzen gemessen. Nun ist es zum erstenmal draußen im Freien und sieht die Sonne. »Dies ist der Weg,« sagt die Stimme Gottes zu der hl. Katharina von Siena in der Ekstase, »wenn du zu vollkommener Erkenntnis gelangen und mich, die ewige Wahrheit, kosten willst, daß du nie aus der Erkenntnis deiner selbst hinausgehst; und wenn du dich in das Tal der Niedrigkeit hinablassest, dann erkennst du mich in dir, und aus dieser Erkenntnis wirst du alles, was dir nötig ist, gewinnen … In der Selbsterkenntnis wirst du dich demütigen, indem du siehst, daß du nicht durch dich selbst existierst Dialogo Kap. IV.

Das erste, was das Selbst bemerkt, wenn es in jenem Augenblick der Hellsichtigkeit den Blick auf sich zurückwendet oder, wie die hl. Katharina sagt, »die Zelle der Selbsterkenntnis betritt«, ist der furchtbare Gegensatz zwischen seinem bewölkten Kontur und dem reinen, klaren Strahlenkranz der Wirklichkeit, zwischen seinem wirren, sündigen Leben, seinem verkehrten, selbstbefangenen Dahintreiben und dem klaren Auftriebe jenes Werdens, worin es eingeschlossen ist. In diesem Augenblick geschieht es, daß sich der Begeisterung und Ehrfurcht die Demut zugesellt. Der Vorbote des neuen Selbst, das geboren werden soll, erscheint in Gestalt eines Verlangens, einer leidenschaftlichen Begierde, der plötzlich wahrgenommenen hassenswerten Selbstigkeit zu entfliehen und sich der Wirklichkeit, der Vollkommenheit, die es als Güte, Schönheit oder Liebe geschaut, anzugleichen, ihrer würdig, kurz, wahrhaft wirklich zu werden. »Diese Offenbarung«, sagt Gerlac Petersen von jenem Erleben, »ist so gewaltig und so stark, daß der ganze innere Mensch, nicht nur das Herz, sondern auch der Leib, wunderbar bewegt und erschüttert wird und unfähig, es zu ertragen, in sich zusammenbricht. Und auf diese Weise wird sein Inneres klar und unbewölkt und, nach dem Maße seines Vermögens mit Ihm, den er sucht, in Einklang gebracht Ignitum cum Deo Soliloquium Kap. XI.

Die Lebensgeschichten der Mystiker sind reich an Beispielen von der »Gewalt dieser Offenbarung«, von dem tiefen Gefühl der Notwendigkeit, das das neu erwachte Selbst zu einem Leben voll Unruhe und Kampf, oft zu äußerster Armut und Pein drängt, als dem einzigen Mittel, wahres Erleben an Stelle des falschen zu setzen. Hier ergreift das transzendentale Bewußtsein die Zügel, das, durch klare Erkenntnis seines Zieles emporgehoben, nicht nur rechnet, sondern sieht, daß solch ein Preis wohl den Verlust der Welt wert ist. Es zwingt dem widerstrebenden Oberflächenbewußtsein ein klares Bild seiner eigenen Unfähigkeit, seines häßlichen und unvollkommenen Lebens auf.

Die Liebe zum Ideal der Schönheit, die der mystischen Natur eigen ist, gibt augenblicklich Antwort. »Fort von der Sünde!« war der erste Ruf der hl. Katharina von Genua in jener entscheidenden Stunde, wo sie beim Licht der Liebe die Häßlichkeit und Verzerrtheit ihres vergangenen Lebens sah. Sie betrat sofort den Weg der Reinigung, wo sie vier Jahre lang unter einem tiefen Gefühl der Unvollkommenheit litt, Fasten, Einsamkeit und Kasteiung ertrug und sich die widerwärtigsten Pflichten auferlegte in dem Bestreben, zu der Selbstüberwindung zu gelangen, die sie mit den Geboten der reinen Liebe, als welche sie die Wirklichkeit geschaut hatte, »nach dem Maße ihres Vermögens in Einklang bringen« sollte. Die innere Überzeugung, daß ein solcher Einklang, ein solches Hinausgelangen über das Unwirkliche, möglich, ja naturgemäß ist, ist es, was den Mystiker durch all die furchtbaren Jahre der Reinigung aufrecht erhält, so daß er »nicht nur ohne Widerstreben, sondern mit unermeßlicher Freude alles von sich wirft, was ihn hemmen kann Richard Rolle, The Mending of Life Kap. I.«.

Für den, der das Absolute mit wahrer Inbrunst liebt, ist die Reinigung so gut wie die Erleuchtung ein Vorrecht, eine bange Freude. Sie ist ihm eine Bürgschaft wachsenden Lebens. »Laß mich leiden oder sterben!« sagt die hl. Teresa, eine seltsame Alternative in den Augen des gesunden Menschenverstandes, aber ein notwendiges Entweder-Oder in der Sphäre des geistlichen Lebens. Wie hart auch die Form sein mag, in der dieser Abbruch seiner alten Welt sich vollzieht, und wie schmerzvoll die Tätigkeiten, zu denen er dadurch gedrängt wird, der Mystiker erkennt in ihm doch einen wesentlichen Teil des »großen Werkes«, und der Akt, mit dem er sich dafür entscheidet, ist von seiner Seite nicht weniger ein Liebes- als ein Willensakt. »Wenn die Seele von wahrer Liebe entbrennt, so wird sie von allen Lastern gereinigt … denn indem der wahre Liebende mit starkem und inbrünstigem Verlangen zu Gott emporgehoben wird, mißfällt ihm alles, was ihn von Gottes Anblick zurückhält Rolle, The Fire of Love I, 23..« Wenn seine Augen einmal geöffnet sind, harrt er sehnsüchtig, daß seine ungeordneten Triebe in Ordnung gebracht werden und er dadurch zum Einklang mit dem übersinnlichen Leben gelange. »Darum, meine einzige Freude,« ruft Seuse, »unterweise mich, wie ich deine Liebeszeichen an meinem ganzen Leibe trage.« »Nun, wohl auf, meine Seele, sammle dich gänzlich von aller Äußerlichkeit in ein stilles Schweigen rechter Innerlichkeit, daß du mit ganzer Kraft dich aufmachest, daß du dich verlaufest und verirrest in die wilde Wüste eines unergründlichen Herzeleides Seuse, Büchlein der Ewigen Weisheit Kap. 5. (Bihlmeyer S. 215, 12f.; 211, 4-7.)

In dieser Qual der Zerknirschung, diesem brennenden Gefühl der Unwürdigkeit, haben wir den ersten Rückschwung des Selbst vom anfänglichen Zustande mystischer Freude zu dem des Schmerzes. Es ist sozusagen die Reflexbewegung, die der ersten Berührung Gottes folgt. So lesen wir, daß Rulman Merswin, »hingerissen von der Verzückung göttlicher Liebe«, sich nicht dem passiven Genuß dieses ersten Kostens des absoluten Seins hingab, sondern dadurch zu eifriger und unablässiger Selbstkritik getrieben wurde. Er ward »von Haß gegen seinen Leib erfüllt und legte sich so harte Kasteiungen auf, daß sein Körper ganz geschwächt wurde Jundt, Rulman Merswin S. 19 (vgl. C. Schmidt 58).«.

Es hat keinen Sinn, wenn Freunde des gesunden Menschenverstandes an diesen und ähnlichen Beispielen von Selbsteinkehr und Buße Anstoß nehmen und sie als krankhaft oder mittelalterlich bezeichnen. Die Tatsache bleibt bestehen, daß nur eine solche bittere Erkenntnis der Verkehrtheit seiner Lebenseinstellung, wie sie ihm im Lichte inbrünstiger Liebe aufgeht, den Willen des Menschen zu der schweren Aufgabe einer ganz neuen Einstellung anspornen kann.

»Mir ward die Gewißheit,« sagt Juliane von Norwich, »daß es uns not tut, in Bangen und Büßen zu verharren bis zu der Zeit, wo wir so tief in Gott geleitet sind, daß wir unsere eigene Seele recht und wahrhaft erkennen Revelations of Divine Love Kap. 56.

Dantes ganze Pilgerung auf den Läuterungsberg ist die dramatische Darstellung dieser einen Wahrheit. Ebenso gründet sich auch die berühmte Schilderung des Fegefeuers, die man der hl. Katharina von Genua zuschreibt Ich will zu der Frage der Verfasserschaft nicht Stellung nehmen. Wer Interesse dafür hat, den verweise ich auf von Hügel, The Mystical Element of Religion I, Anhang. Auf wen der Traktat in seiner gegenwärtigen Form auch zurückzuführen sein mag, ohne Zweifel beruht er auf ursprünglicher mystischer Erfahrung, und dies ist alles, was wir für unsern gegenwärtigen Zweck zu wissen brauchen., augenscheinlich auf ein inneres Erleben dieses Läuterungsweges. Darin überträgt sie auf die Seelen der Toten ihr persönliches Bewußtsein von der Notwendigkeit der Reinigung als einer Phase in dem organischen Entwicklungsprozeß der Seele. Es ist, wie sie am Anfang bekennt, die Projektion ihrer eigenen seelischen Erlebnisse auf den Hintergrund der geistigen Welt: sie ist ihrem Wesen nach einfach die ins Jenseits verlegte Wiederholung jener eifrigen und heldenhaften Bereitschaft zum Leiden, jener gewaltsamen Büßungs- und Reinigungsakte, zu denen sie selbst gezwungen wurde durch die Peitsche derselben seelischen Notwendigkeit: den Spiegel der Seele von allem Rost der Täuschung zu reinigen, damit er das göttliche Licht aufnehmen kann. »Es ist damit«, sagt sie, »wie mit einem verhüllten Gegenstande. Dieser kann auf die Strahlen der Sonne nicht antworten, nicht, weil die Sonne aufhört zu scheinen – denn sie scheint ohne Unterlaß –, sondern weil die Hülle hindernd dazwischentritt. Wenn daher die Hülle vergeht, so wird sich der Gegenstand wieder der Sonne darbieten und die Strahlen, die ihn treffen, zurückwerfen in dem Maße, wie die Hülle schwindet. So sind auch die Seelen mit Rost – d. h. mit Sünde – bedeckt, der von dem Feuer der Läuterung allmählich aufgezehrt wird. Je mehr er aufgezehrt wird, um so mehr spiegeln sie Gott, ihre wahre Sonne, wieder. Ihr Glück nimmt zu in dem Maße, wie der Rost vergeht und sie dem göttlichen Strahl bloßlegt … der eingeborene Trieb, sein Glück in Gott zu suchen, entwickelt sich und wächst immer mehr durch das Feuer der Liebe, die ihn mit solchem Ungestüm und mit solcher Gewalt auf sein Ziel hintreibt, daß jedes Hindernis unerträglich scheint, und je klarer dies Ziel ihm leuchtet, um so heftiger ist seine Qual Trattato di Purgatorio Kap. 2 u. 3.

»Zeigt uns zum Berg die rechte Bahn!« rufen die Seelen der Jüngstverstorbenen in Dantes Vision Purg. II, 60., von jenem eingeborenen Triebe in die läuternden Flammen gedrängt. Einen solchen Trieb, ein so leidenschaftliches Verlangen muß das strebende Selbst haben. Keine kühle, wohlerwogene Erkenntnis der Notwendigkeit einer neuen Einstellung vermag es auf den Weg der Reinigung zu bringen. Dies ist ein heroischer Akt, der heroische Leidenschaften der Seele fordert.

»Um alle Begierden zu überwinden und die Lust an allen Dingen zu verleugnen,« sagt der hl. Johannes vom Kreuz, der auf diesem Gebiet mystischer Suche die klassische Autorität ist, »muß an Stelle unserer Liebe und Neigung zu ihnen, die bisher unsern Willen entzündete, um sie zu genießen, ein anderes, größeres Feuer einer andern, edleren Liebe treten, nämlich der zum Bräutigam, damit die Seele, indem sie all ihre Lust an Ihm und ihre Stärke in Ihm hat, eine solche Festigkeit und einen solchen Mut gewinne, daß es ihr leicht wird, alles andere zu lassen und zu verleugnen. Um die Kraft der sinnlichen Begierden zu überwinden, ist es nicht nur notwendig, Liebe zum Bräutigam zu haben, sondern auch davon entbrannt zu sein, und das in Sehnsucht und Bangen … wenn unsere geistliche Natur nicht von anderem und edlerem Verlangen – nach dem, was geistlich ist – entbrannt ist, so kann sie niemals ihre natürlichen, sinnlichen Triebe besiegen, noch in die Nacht der Sinne eintreten, noch findet sie die Kraft, sich von allen Dingen fernzuhalten Subida del Monte Carmelo I, 14.

»Man muß von Liebe entbrannt sein, und das in Sehnsucht und Bangen.« Nur diese tiefe, inbrünstige Leidenschaft zu einem geschauten Gegenstand der Liebe kann den Mystiker zu den widernatürlichen Handlungen der Selbstverleugnung treiben, durch die er seine niedere Liebe zur Sinnenwelt tötet, sich von den Hemmungen der Begierden befreit und alle seine Energien um den neuen, höheren Mittelpunkt seines Lebens sammelt. Seine Aufgabe ist, wie ich sagte, ein Hinaustreten aus den Schranken der Sinnenwelt, ein Aufsteigen zu einer höheren Ordnung der Wirklichkeit. Sind seine Augen einmal der Ewigkeit geöffnet, sein Trieb zum Absoluten aus seinem Schlafe geweckt, so sieht er in der Vereinigung mit jener Wirklichkeit nicht nur seine Aufgabe, sondern auch seine Freude und sieht zugleich, daß diese Vereinigung nur auf einer Ebene möglich ist, wo Täuschung und Selbstigkeit keinen Raum haben.

Die innere Stimme sagt beständig zu ihm in den ungelegensten Augenblicken: » Dimitte omnia transitoria, quaere aeterna De Imitatione Christi III, 1, 2 (Laß alles Vergängliche, suche das Ewige!). .« Daher steht die Läuterung der Sinne und des Charakters, den sie haben aufbauen helfen, in der mystischen Entwicklung immer an erster Stelle, wenn auch flüchtige Zustände der Erleuchtung und Ekstase schon vorher oder gleichzeitig sporadisch eintreten können und in der Tat häufig eintreten. Da das geistige ebenso wie das körperliche Dasein bekanntlich ein endloses Werden ist, so hat es auch gleichfalls kein Ende. In gewissem Sinne besteht das ganze mystische Erleben in diesem Leben in einer Reihe von Läuterungen, wodurch das Endliche sich langsam der Natur seines unendlichen Urquells annähert, indem es auf dem reinigenden Berge, wie die unermüdlichen Fische in Rulman Merswins Vision, einen Teich nach dem andern erklimmt, bis es seinen Ursprung erreicht. Die größten unter den kontemplativen Heiligen ließen nicht etwa bei ihrem Aufstiege die Reinigung hinter sich, im Gegenteil, je näher sie ihrem Ziel, dem Zustande der Einigung kamen, je mehr empfanden sie ihre Unzulänglichkeit; denn der wahre Liebende wird abwechselnd niedergedrückt und erhoben von der Pein über seine Unwürdigkeit und der Wonne über sein Glück. Er hat Augenblicke höchsten Entzückens, wo er nur weiß, daß das Banner, das über ihm weht, die Liebe ist; aber dann kommen andere, in denen er sich schmerzlich bewußt ist, daß trotz seiner gänzlichen Hingabe doch ein unausrottbarer Rest von Selbstigkeit bleibt, der »den weißen Glanz der Ewigkeit trübt«.

In diesem Sinne also ist die Reinigung ein unablässig dauernder Vorgang. Das jedoch, was die mystischen Schriftsteller meinen, wenn sie von dem Wege der Reinigung sprechen, ist vielmehr die langsame und mühselige Vollendung der Bekehrung. Es ist die energische Wendung vom unwirklichen zum wirklichen Leben, ein Neuordnen und Bestellen seines Hauses, eine Einstellung des Geistes auf die Wahrheit. Die Aufgabe dabei ist zunächst, alle Selbstliebe abzutun und danach alle jene törichten Interessen, in denen das Oberflächenbewußtsein befangen ist.

»Das Wesen der Reinigung«, sagt Richard von St. Victor, »ist Selbstvereinfachung.« Nichts kann geschehen, solange diese nicht bis zu einem gewissen Grade fortgeschritten ist, solange die verwickelten Interessen und verwirrten Beweggründe des Selbst nicht vereinfacht und die falschen Komplikationen des weltlichen Lebens nicht erkannt und abgetan sind.

»Niemand«, sagt eine andere Autorität auf diesem Gebiet, »kann erleuchtet werden, er sei denn zuvor gereinigt oder geläutert und entledigt Theologia Deutsch Kap. XIV..« Reinigung, die eine Erneuerung der Persönlichkeit in Übereinstimmung mit der geschauten Wirklichkeit bedeutet, besteht in diesen beiden wesentlichen Vorgängen: in dem Reinigen dessen, was bleiben soll; in dem Abtun dessen, was fort soll. Daher läßt es sich am besten in zwei Teilen erforschen, und ich glaube, es wird im Interesse des Lesers sein, wenn wir die Reihenfolge der »Theologia Deutsch« umkehren und zuerst die negative Reinigung oder das Abtun aller Selbstheit betrachten und sodann die positive Reinigung oder die Neuordnung der Persönlichkeit. Wir zerlegen also den Gegenstand in folgende beiden Abschnitte: 1. die negative Seite, das Abtun all der überflüssigen, unwirklichen und schädlichen Dinge, die die kostbaren Kräfte des Selbst zerstreuen. Dies geschieht durch Armut und Loslösung; 2. die positive Seite: das Erheben dessen, was bleibt, der dauernden Elemente der Persönlichkeit, zu ihrer höchsten Stufe, ihrer reinsten Form. Dies wird bewirkt durch Kasteiung, die Gymnastik der Seele: ein freiwilliges Aufsichnehmen von Pein und Mühsal.

1. Loslösung.

Was ist nun, abgesehen von der offenbaren Notwendigkeit, Sünde und Unvollkommenheit abzutun, die Eigenschaft, die dem Selbst bei seinem Aufstieg zur Vereinigung mit dem Absoluten am besten hilft?

Die Mystiker aller Zeiten und Religionen stimmen in ihrer Antwort überein. Die drei Tugenden, die der sichere Instinkt der katholischen Kirche als Notwendigkeiten des Klosterlebens festsetzte – die evangelischen Ratschläge der freiwilligen Armut mit ihren Dependenzen: Keuschheit als Armut der Sinne und Gehorsam als Armut des Willens – sind auch, zu ihrer höchsten Form erhoben und durch das Feuer der Liebe veredelt, die wesentlichen Tugenden des mystischen Strebens.

Unter Armut versteht der Mystiker eine völlige Selbstentäußerung, den Verzicht auf sowohl immateriellen wie materiellen Reichtum, eine vollständige Loslösung von allen endlichen Dingen. Unter Keuschheit versteht er die höchste Reinheit der Seele, die Jungfrau ist für alles außer Gott; unter Gehorsam die Verleugnung der Selbstheit, die Kasteiung des Willens, die in völlige Demut, »heilige Gleichgültigkeit« gegen alle Zufälle des Lebens einmündet. Diese drei Aspekte der Vollkommenheit sind in Wahrheit eins, gehören ebenso notwendig zusammen wie die drei Aspekte des Selbst. Ihre gemeinsame Eigentümlichkeit ist diese: sie wirken dahin, daß das Subjekt sich nicht als isoliertes und interessantes Einzelwesen mit persönlichen Wünschen und Rechten betrachtet, sondern als einen winzigen Teil des Kosmos, als ein ganz gewöhnliches Stückchen des All-Lebens, das nur als Teil des Alls, als Ausdruck des göttlichen Willens, seine Bedeutung hat. Losgelöstheit und Reinheit gehen Hand in Hand, denn Reinheit ist nichts anderes als Losgelöstheit des Herzens, und wo diese beiden vorhanden sind, da bringen sie den demütigen Geist des Gehorsams mit sich, der ein Ausdruck der Losgelöstheit des Willens ist. Wir können sie daher als drei Erscheinungsformen desselben Dinges ansehen, nämlich der inneren Armut. »Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer«, ist das Motto aller Pilger auf diesem Wege.

»Gott ist ein lauteres Gut an sich selbst,« sagt Eckehart, »daher will er nirgends wohnen als in einer lauteren Seele: in die kann er sich ergießen und gänzlich in sie fließen. Was ist Lauterkeit? Das bedeutet, daß sich der Mensch abgekehrt habe von allen Kreaturen und sein Herz so völlig hingerichtet habe nach dem lauteren Gute, daß ihm keine Kreatur zum Trost gereicht und er ihrer auch nicht begehrt, außer soweit er das lautere Gut, das Gott ist, darin erfassen kann. Und so wenig das helle Auge irgend etwas Fremdes in sich leiden kann, so wenig kann die lautere Seele irgendeine Befleckung an sich leiden oder etwas, das zwischen sie und Gott tritt. Ihr werden alle Kreaturen lauter und rein zu genießen, denn sie genießt alle Kreaturen in Gott und Gott in allen Kreaturen Eckehart S. 601, 37-602, 9 (Sprüche 16; auch bei Wackernagel, Altdeutsches Lesebuch2 891).

»Ihr werden alle Kreaturen rein zu genießen!« Dies entspricht wohl kaum der gewöhnlichen Vorstellung von einem Mystiker, die ihm trotz eines hl. Franziskus, einer hl. Mechthild von Magdeburg, eines Rolle, eines Seuse und zahlloser anderer, eine rechtschaffene Furcht vor natürlichen Dingen zuschreibt. Allzu viele irregeleitete Asketen vom Schlage des Curé von Ars, der nicht einmal an einer Rose riechen wollte, aus Furcht, Sünde zu tun, haben den vulgären Glauben in dieser Beziehung unterstützt; denn man vergißt im allgemeinen, daß, wenn auch die meisten Mystiker Askese als Mittel zu einem Zweck geübt haben, doch nicht alle Asketen Mystiker sind. Wie es auch um andere Verleugner der Sinne stehen mag, soviel ist gewiß, daß die reine Seele des Mystikers, der auf hohen Ebenen der Wirklichkeit weilt und den Blick auf die übersinnliche Welt gerichtet hat, imstande ist, mit der vollkommenen Losgelöstheit von allem Irdischen jene tiefe und unschuldige Freude an natürlichen Dingen als Hüllen und Gefäßen des Göttlichen zu verbinden, die dem zuteil wird, der »alle Geschöpfe in Gott und Gott in allen Geschöpfen sieht«. »Wer den Adel meiner Freiheit kennt und liebt,« sagte die Stimme Gottes zu Mechthild von Magdeburg, »kann nicht ertragen, mich allein um meiner selbst willen zu lieben, sondern er muß mich in den Kreaturen lieben Das fließende Licht der Gottheit VI, 4..« Eine solche Kraft ist charakteristisch für die Erleuchtung, die der erlangt, der alle Prüfungen des Weges der Reinigung getreulich auf sich genommen hat, denn der Folgesatz von »Selig sind, die reines Herzens sind«, ist keine bloße poetische Behauptung. Die Annalen der Mystik beweisen, daß er ein psychologisches Gesetz ist.

Wie ist denn dieser Widerspruch zu lösen, daß der Mystiker, der es für eine erste Notwendigkeit erklärt, »alle Kreaturen zu verlassen«, dennoch eine Freude an ihnen findet? Die Lösung des Rätsels liegt in dem alten Paradoxon der Armut, daß wir wahre Freiheit nur in Hinsicht auf die Dinge genießen, die wir weder besitzen noch begehren. »Auf daß du Freude an allen Dingen habest, suche Freude in keinem Dinge. Auf daß du alles wissest, suche nichts zu wissen. Auf daß du alles besitzest, suche nichts zu besitzen … In dieser Entblößung findet der Geist Ruhe und Frieden, denn da er nichts begehrt, so macht ihn kein ehrgeiziges Streben müde, noch wird er durch Fehlschläge niedergedrückt, weil er im Zentrum seiner eigenen Demut steht. Denn sobald er etwas begehrt, so wird er sogleich davon gehetzt und ermüdet St. Johannes vom Kreuz, Subida del Monte Carmelo I, 13.

Nicht die Liebe, sondern die Begierde – der casus possessivus, die rechte Speise der Selbstheit – ist es, was die Beziehung zwischen dem Selbst und der Außenwelt vergiftet und die Seele »sofort hetzt und ermüdet«. Sobald man die Welt in »mein« und »nicht mein« teilt, werden falsche Maßstäbe aufgestellt, und der Geist wird von Ansprüchen und Begierden beunruhigt und geplagt. Wir sind die Sklaven unseres eigenen Besitzes. Wir schleppen nicht einen Schatz, sondern eine Kette mit uns. »Siehe,« sagt die Theologia Deutsch, »also soll man aller Dinge los und ledig werden, das ist: des Anmaßens. Wenn man denn der Dinge los wird, so ist das die beste, vollkommenste, lauterste und edelste Erkenntnis, die im Menschen jemals sein kann, und auch das alleredelste und lauterste Lieben, Wollen und Begehren Theologia Deutsch Kap. V..« »Der wird das Licht nicht schauen,« sagt Plotin, »der da versucht, zum Schauen des Höchsten aufzusteigen, während er noch mit den Dingen, die diesem Schauen hinderlich sind, beschwert ist, denn er steigt nicht allein hinan, sondern ist noch behaftet mit dem Trennenden, mit einem Wort, ist noch nicht zur Einheit gelangt Sechste Enneade IX, 4 (Satzbau geändert)..« Wenn wir jedoch die Armut auf uns nehmen, alles Eigentumsrecht aufgeben, das Verbum »haben« in jeder Zeitform und jedem Modus bei uns ausrotten, so zieht uns nichts mehr herab, und sofort gehört der ganze Kosmos uns, und wir ihm. Wir entfliehen der Ketzerei der Abgesondertheit, »gelangen zur Einheit« und »gehen ein in das größere Leben des Alls«. Dann bewegt sich das Selbst, ein freier Geist in einer freien Welt, auf seiner rechten Bahn, unabgelenkt durch die zum größten Teil selbstauferlegten Verantwortlichkeiten seines gewöhnlichen irdischen Daseins.

Dies ist die Wahrheit, die der hl. Franz von Assisi erfaßt hatte, und die er mit der Tatkraft eines Reformators und der Feinfühligkeit eines Dichters auf jeden Umstand des inneren und äußeren Lebens anwandte. Diese edle Freiheit ist es, die sein Nachkomme im Geiste, Jacopone da Todi, in einer seiner herrlichsten Oden preist:

»Armut, o du hohes Wissen,
Die du jedes Ding kannst missen,
Achtest den Besitz geringe
Und besitzest alle Dinge …

Gott wohnt nicht in engem Herzen,
Liebe macht es weit in Schmerzen,
Armut wird die Brust dir dehnen,
Daß drin Gott kann Wohnung nehmen …

Armut nennet nichts ihr eigen,
Wird nach nichts Begehren zeigen,
Und doch über allem thronen,
In dem Geist der Freiheit wohnen Lauda 59. (Übertragen von H. Federmann S. 55, 56, 59.)

»Meine kleinen Brüder, die Vögel«, sagt der hl. Franziskus, der größte Adept dieser hohen Weisheit. »Sonne und Wasser, meine Geschwister, Erde, meine Mutter Fioretti Kap. 16 und Speculum Perfectionis Kap. 120..« Nicht meine Diener, sondern meine Verwandten und Mitbürger, die man ruhig lieben kann, solange man sie nicht begehrt. Fast ebenso singt auch der sterbende Hindu-Asket:

»O Mutter Erde, Vater Himmel,
Du, Bruder Wind, ihr Freunde, Licht und Wasser,
Zum letzten Gruß an euch falt' ich die Hände!
Denn heute darf ich mich dem Höchsten einen,
Weil alle Täuschung schwand
Und rein mein Herz geworden
Dadurch, daß ihr Gefährten mir gewesen [Gemeint ist augenscheinlich der berühmte Spruch des Bhartrhari 1,10, 10, den Herder übertragen hat:
Abschied des Einsiedlers.
Erde, du meine Mutter, und du, mein Vater, der Lufthauch,
Und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter der Strom,
Und mein Bruder, der Himmel, ich sag' euch allen mit Ehrfurcht
Freundlichen Dank. Mit euch hab' ich hienieden gelebt
Und geh' jetzt zur anderen Welt, euch gerne verlassend;
Lebt wohl, Bruder und Freund, Vater und Mutter, lebt wohl!
(Gedanken einiger Brahmanen 46; Werke 26, 416 Suphan.)]

Es ist die Aufgabe der Frau Armut, ihren Liebhabern diese Freiheit dem All gegenüber zu verleihen, alle Täuschung auszurotten, das Herz zu läutern und sie in »das große Leben des Alls« einzuweihen. Wohl mochte der hl. Franz begehren, sich dieser Zauberin zu vermählen, die das, was sie nimmt, zehnfach zurückgibt. »Die heilige Armut«, sagte er, »ist ein so kostbarer und göttlicher Schatz, daß wir nicht wert sind, ihn in unsern unwürdigen Gefäßen zu besitzen, und zwar darum, weil sie jene himmlische Kraft ist, durch die alles Irdische und Vergängliche unter die Füße getreten wird, und wodurch alle Hindernisse aus dem Wege geräumt werden, daß die menschliche Seele sich frei mit dem ewigen Gott vereinigen kann Fioretti Kap. 13.

Die Armut ist der Vermittler zwischen Gott und dem menschlichen Geiste. Die Vereinigung, nach der der Geist strebt, wird nie ohne ihre guten Dienste, ihre energische Scheidung des Unwirklichen vom Wirklichen stattfinden. Sie entkleidet den Menschen der Hülle, die er so oft fälschlich mit sich selbst verwechselt, wertet alle Werte um und zeigt ihm die Dinge, wie sie sind. So lesen wir in jenem schönen Kapitel des Sacrum Commercium, wie da die Mönche »die letzten steilen Höhen des Berges« erklimmen und auf dem Gipfel Frau Armut »in ihrer Nacktheit thronend« finden, sie ihnen mit holdem Segensgruß wehrt: »Warum eilt ihr so aus dem Tal der Tränen herauf zum Berg des Lichtes? Wenn ich es etwa bin, die ihr sucht, seht, ich bin nur ein kleines, armes, sturmzerzaustes Ding, bei dem kein Trost zu finden ist.« Worauf die Brüder antworten: »Nimm uns nur in deinen Frieden auf, dann werden wir Heil finden Sacrum Commercium Beati Francisci cum Domina Paupertate Cap. IV und V.

Diese selbe Wahrheit: der rettende Friede gänzlicher Losgelöstheit von allem außer der göttlichen Wirklichkeit – eine Losgelöstheit, die diejenigen, welche sie besitzen, zu Bürgern des Alls macht, so daß die Mönche zu Frau Armut sagen konnten, als sie ihr vom Berge von Assisi das ganze Land zu ihren Füßen zeigten: » Hoc est claustrum nostrum, Domina Ebenda Kap. XXII.« – lehrt uns Meister Eckehart in einem einfacheren Gleichnis.

»Er war nämlich ein gelehrter Mann, der wohl acht Jahr lang begehrte, daß ihm Gott einen Menschen zeigte, der ihn den Weg der Wahrheit unterrichtete. Und als er in einer großen Begierde war, da kam eine Stimme von Gott zu ihm und sprach: Gehe vor die Kirchen, da wirst du einen Menschen finden, der wird dir den Weg zur Seligkeit weisen.

Und er ging hin und fand einen armen Menschen, dem seine Füße zerrissen und voll Staubs und Unsauberkeit waren und alle seine Kleider waren kaum drei Heller wert. Er grüßet ihn und spricht: Gott gebe dir einen guten Morgen! Da antwortet er: Ich hatte noch nie einen bösen Morgen. – Daß dir Gott Glück gebe! – Ich hatte niemals Unglück! – Daß du selig seist, wie antwortest du mir also? – Ich war noch nie unselig! – Bedeute mir doch dieses, denn ich kann es nicht verstehen! – Er sprach: Gerne! du wünschest mir einen guten Morgen. Ich hatte niemals einen bösen Morgen, denn so mich hungert, so lobe ich Gott; frieret mich, hagelt es, schneiet es, regnet's, ist's gut oder bös Wetter, so lobe ich Gott; bin ich elend und verschmähet, so lobe ich Gott; und darum hatte ich noch nie einen bösen Morgen. Du wünschest mir, daß Gott mir Glück gebe. Ich hatte aber niemals Unglück, denn ich weiß mit Gott zu leben und weiß, was er tut, das ist das Beste; und was mir Gott gibt oder über mich verhänget, es sei Lieb oder Leid, das nehme ich fröhlich von Gott als das Allerbeste, und darum hatte ich niemals Unglück. Du wünschest mir, daß Gott mich selig mache. Ich war nie unselig, denn ich begehre allein in Gottes Willen zu sein, und ich habe meinen Willen in Gottes Willen ergeben also ganz, daß, was Gott will, ich auch will. – Wenn dich aber Gott in die Hölle werfen wollte, sagte der gelehrte Mann, was wolltest du dazu tun? – Mich werfen in die Hölle? das hält ihn seine Güte. Doch so er mich in die Hölle würfe, so hätte ich zween Arme, damit ich ihn umfinge. Der eine Arm ist wahrhafte Demut; denselben lege ich unter ihn, und damit bin ich mit seiner heiligen Menschheit vereiniget. Und mit dem rechten Arm der Liebe, so mit seiner heiligen Gottheit vereiniget ist, umfinge ich ihn, daß er mit mir in die Hölle müßte. Und also wollte ich lieber in der Hölle sein und Gott haben, als in dem Himmel und Gott nicht haben. Da verstund dieser Meister, daß wahre Gelassenheit mit gründlicher Demut der nächste Weg zu Gott wäre.

Weiter fragte dieser Meister: Von wannen bist du kommen? – Von Gott! – Wo hast du Gott gefunden? – Da ich alle Kreaturen verließ! – Wo hast du Gott gelassen? – In reinen Herzen und in gutwilligen Menschen! – Der Meister fragte: Was bist du für ein Mann? – Ich bin ein König! – Wo ist dein Königreich? – Das ist meine Seele, denn ich kann meine inwendigen und auswendigen Sinne also regieren, daß alle meine Begierden und Kräfte der Seele untertänig sein. Und dieses Reich ist größer, denn ein Königreich auf Erden So sagt Ruysbroeck: »Der freie Wille ist der König in der Seele. – – Dieser König, der freie Wille, soll in der obersten Stadt des Reiches wohnen, nämlich in der begehrenden Kraft der Seele.« (Die Zierde der geistlichen Hochzeit I, 24.). – Was hat dich zu dieser Vollkommenheit gebracht? – Mein Stillschweigen, meine hohen Gedanken und meine Vereinigung mit Gott! Denn ich konnte in keinen Dingen ruhen, die geringer waren als Gott. Nun hab' ich Gott gefunden und habe ewigliche Ruhe und Friede in Gott Meister Eckehart. Angeführt nach Martensens Monographie (Hamburg 1842) S. 107 f. [Martensen entnimmt die Legende der Frankfurter Taulerausgabe 1720. Sie findet sich, ohne den Schlußabsatz und mit kleinen Abweichungen des Wortlauts, in der Eckehartausgabe von Pfeiffer S. 623f.; Lehmann 309 f. Der zweite Absatz entspricht den folgenden Abschnitten.]

Die Armut bedeutet also, daß der Mensch die ihm eingewurzelte Gewohnheit, seine Ruhe in Dingen zu suchen, die geringer sind als Gott, d. h. die nicht den Charakter der Wirklichkeit haben, oder solche Dinge ernst zu nehmen, gänzlich in sich ausrottet. Eine solche Gewohnheit hat am sichersten »Weltmüdigkeit« und Enttäuschung zur Folge, Fehler oder vielmehr seelische Krankheiten, die sich bei den Mystikern nie zeigen, aber denen wenige, die ohne jedes mystische Gefühl sind, zu entrinnen hoffen können. Daher hat die verfeinerte Einsicht der Kontemplativen in der Armut stets ein Gebot der Klugheit, eine höhere Form des gesunden Menschenverstandes gesehen. Sie ist bei dem hl. Franziskus oder bei irgendeinem andern großen Mystiker nie ein erstes Prinzip, ein Zweck an sich. Sie ist vielmehr eine logische Folge des ersten Grundsatzes ihrer Weisheit: von der überragenden Wichtigkeit einer klaren Anschauung der Wirklichkeit für die Seele.

Hier stimmen Ost und West überein: »Das Resultat ihrer Wissenschaft«, sagt AI Ghazali von den Sufis, die, wie die ersten Franziskaner, einen vollständigen Verzicht auf alle irdischen Güter leisteten, »ist die Ausrottung aller heftigen Leidenschaften der Seele, ihre Reinigung von tadelnswerten Eigenschaften und von allem Unreinen, so daß das Herz sich von allem, was nicht Gott ist, entleert durch stetes Gedenken an Gott Schmölders p. 54; Meynard p. 54 f.

Alle diejenigen, die den Drang nach einer solchen übersinnlichen Vision gefühlt haben, haben erkannt, daß irdische Besitztümer dabei ein Hemmnis sind und beständig Zwiespalt im Herzen erwecken. Sie maßen sich eine ungebührliche Bedeutung an, drängen sich der Aufmerksamkeit auf und machen das Leben kompliziert. Daher müssen sie im Interesse der inneren Einheit weggeschafft werden, was für den wirklich Begeisterten kein größeres Opfer ist als die wöchentliche Auskehrung des Hausunrates. »Darauf, als ich meine Schwäche merkte«, sagt AI Ghazali von seiner persönlichen Erfahrung, »und mein freier Wille gänzlich dahinfiel, da nahm ich meine Zuflucht zu Gott wie ein Mensch, der in Not ist und keinen Ausweg sieht. Und er, ›der den Unglücklichen erhört, wenn er ihn anruft‹, erhörte mich und machte es meinem Herzen leicht, Ehren, Reichtum und Familie zu verlassen Ebenda p. 58.

Andere haben es fertig gebracht, Selbsthingabe mit nur teilweisem Verzicht auf äußere Güter zu vereinigen. Besitz hat für fast jede menschliche Seele eine andere Bedeutung, und die wahre Regel der Armut ist, daß man die Dinge aufgibt, die den Geist unfrei und zwiespältig machen und ihn von seinem Wege zum Absoluten abbringen, mögen diese Dinge nun Reichtümer, Gewohnheiten, religiöse Bräuche, Freunde, Interessen, Neigungen oder Abneigungen sein, – nicht die äußere Verzichtleistung um ihrer selbst willen. Auf die innere Einstellung, nicht auf die äußere Handlung kommt es in Wirklichkeit an, Selbstentblößung würde nicht nötig sein, hätten wir nicht die unausrottbare Neigung, den Dingen, sobald sie unser eigen werden, falschen Wert beizulegen. »Was ist Armut des Geistes anders als Demut des Herzens, durch die der Mensch seine eigene Schwäche erkennt,« sagt Rolle, »indem er sieht, daß er einzig und allein durch die Gnade Gottes zu vollkommener Standhaftigkeit kommen kann und alles aufgibt, was ihn an dieser Gnade hindert, und nichts begehrt, als seines Gottes froh zu sein. Und wie aus einer Wurzel viele Zweige entspringen, so entspringen aus freiwilliger Armut dieser Art ungeahnte Tugenden und Wunder. Nicht wie bei denen, die ihre Kleider wechseln, aber nicht ihre Seelen: diese scheinen Reichtümer aufzugeben und häufen doch unaufhörlich Laster an … Wenn du in Wahrheit alles um Gottes willen aufgibst, so sieh mehr darauf, daß du es verachtest, als daß du es aufgibst Richard Rolle, The Mending of Life Kap. III.

Aus Worten wie diesen geht hervor, daß die Armut der Mystiker mehr ein geistiger als ein materieller Zustand ist. Losgelöstheit ist die innere Wirklichkeit, und die franziskanische Armut ist eine sakramentale Darstellung derselben für die Welt. Die geistlich Armen, nicht die materiell Armen sind es, die selig gepriesen werden. »Laß mich alles aufgeben,« sagt Gerlac Petersen, »so daß ich in meiner Armut imstande sei, in innerer Freiheit und ohne Schmerz Mangel zu leiden an allem, was das Herz des Menschen begehren kann, außer an Gott selbst Ignitum cum Deo Soliloquium Kap. I.

»Ich spreche hier nicht von dem Verzicht auf Dinge,« sagt St. Johannes vom Kreuz, »denn Verzicht bedeutet nicht Loslösung, wenn die Begierde bleibt, – sondern von der Loslösung, die darin besteht, daß man das Verlangen unterdrückt und die Lust meidet. Dies ist es, was die Seele frei macht, wenn auch der Besitz noch behalten wird Subida del Monte Carmelo I.

Jeder, in dem der mystische Trieb erwacht, entdeckt bald in sich gewisse Neigungen oder Eigenschaften, die die Entwicklung dieses Triebes hemmen. Oft sind diese Neigungen und Eigenschaften auf ihrer eigenen Ebene durchaus berechtigt; allein sie schwächen die Tatkraft des Selbst und hindern es, das höhere Leben, für das es bestimmt ist und das seine ganze Kraft und Anteilnahme erfordert, zu erreichen. Sie lenken seine Aufmerksamkeit ab, sie breiten sich über den ganzen Raum seines Wahrnehmungsfeldes aus und setzen sein Oberflächenbewußtsein so sehr in Tätigkeit, daß es kaum zur Ruhe zu bringen ist. »Wo kann der jene reine und nackte Vision der unwandelbaren Wahrheit haben, die ihm das Wesen aller Dinge offenbart,« sagt Petersen wiederum, »der so mit andern Dingen beschäftigt ist, die, wenn sie auch an sich nicht böse sind, doch seine Gedanken und seine Phantasie in Anspruch nehmen und seinen Geist verwirren und fesseln, daß sein Blick für den einzig Einen, in dem alle Dinge sind, umwölkt wird Gerlac Petersen, a. a. O. Kap. XI.

Nun ist die Art dieser ablenkenden Faktoren, die »den Geist verwirren und fesseln«, bei fast jedem Individuum verschieden. Es ist unmöglich, in irgendeinem Falle im voraus zu sagen, welche Dinge das Selbst wird aufgeben müssen, damit sein übersinnliches Bewußtsein wachse. »Macht es einen Unterschied, ob ein Vogel an einem dünnen Faden oder an einem Seil festgehalten wird, solange der Vogel angebunden ist und nicht fliegen kann, bis das Band, das ihn hält, zerrissen wird? Zwar läßt ein dünner Faden sich leichter zerreißen, doch immerhin, wird er nicht zerrissen, so kann der Vogel nicht fliegen. Dies ist der Zustand einer Seele, die durch irgendwelche Neigungen gebunden ist; sie kann nie zur Freiheit der göttlichen Vereinigung gelangen, was für Tugenden sie auch besitzen möge. Begierden und Neigungen wirken auf die Seele wie der Sägefisch auf das Schiff; dies ist nur ein kleiner Fisch, aber wenn er sich an ein Schiff klammert, da hindert er tatsächlich seine Fahrt St. Johannes vom Kreuz, a. a. O. I, 11.

»Was dem einen Speise ist, ist dem andern Gift«, ist ein Wort, das besonders in solchen Dingen gilt. Hier kann und wird jeder nur für sich selbst entscheiden, indem er alle die Triebe bei sich ausrottet, die seine Selbstigkeit nähren, mögen sie den Augen der Welt auch noch so unschuldig oder gar nützlich erscheinen. Die einzige Regel ist, daß man rücksichtslos alles aufgibt, was hindernd im Wege ist. »Wenn jemand Gott vollkommen lieben will, so sucht er, alle Dinge, innere und äußere, die Gottes Liebe entgegen sind, oder ihn davon ablenken, von sich abzutun Richard Rolle, The Fire of Love I, 19..« Dies kann die gänzliche Selbstentblößung eines Franz von Assisi bedeuten, der in dem unerbittlichen Entschluß, nichts zu eigen zu haben, buchstäblich seine Kleider ablegte Thomas von Celano, Legenda Prima Cap. VI., oder das kaum weniger drastische Verhalten einer Antoinette Bourignon, die fand, daß ein Pfennig genügen konnte, um sie von Gott fernzuhalten.

»Als sie eines Nachts in tiefster Zerknirschung war,« erzählt der Biograph dieser außerordentlichen Frau, »rief sie aus der Tiefe ihres Herzens: ›O mein Gott, was muß ich tun, um dir zu gefallen? Denn ich habe niemanden, der mich weise. Sprich zu meiner Seele, und ich werde hören.‹ In dem Augenblick war ihr, als spräche jemand in ihr: ›Gib alle irdischen Dinge auf. Sage dich los von der Liebe zu den Geschöpfen. Verleugne dich.‹ Je mehr sie fortan in sich selbst einkehrte, je mehr war sie geneigt, alles aufzugeben. Allein sie hatte nicht den nötigen Mut zu dem vollständigen Verzicht, wozu ihr höheres Bewußtsein sie drängte. Sie mühte sich, ihr inneres und äußeres Leben in Einklang zu bringen, allein ohne Erfolg. Für eine Natur, wie sie war, gab es keinen Kompromiß. ›Wann werde ich ganz dein sein?‹ fragte sie immer wieder, und sie glaubte immer die Antwort zu hören: Wenn du nichts mehr dein eigen nennst und dir selber stirbst. Und wo soll ich dies tun, Herr? Er antwortete: In der Wüste. Endlich wurde der Zwiespalt zwischen dem Selbst der Tiefe und dem der Oberfläche unerträglich. Durch die Leiden in einem teilnahmslosen Heim und noch mehr durch eine drohende Heirat verstärkt, gewannen die innern Kräfte die Oberhand. Sie ergab sich, und nachdem sie sich als Einsiedler verkleidet hatte – sie war erst achtzehn Jahre alt und hatte niemanden, der ihr hätte helfen und raten können – verließ sie etwa um vier Uhr morgens ihr Zimmer und nahm nur einen einzigen Pfennig mit sich, um sich Brot für den Tag zu kaufen, und da sie beim Hinausgehen die innere Stimme sagen hörte: › Wo ist dein Glaube? Setzest du deinen Glauben auf einen Pfennig?‹ warf sie ihn fort … So ging sie fort, gänzlich befreit von der schweren Last der Sorgen und der Güter dieser Welt An Apology for Mrs. Antoinette Bourignon p. 269 f.

Ein wunderbares Beispiel für die Haltung des Mystikers in dem seelenzerstörenden Zwiespalt der Interessen, dem natürlichen, aber hoffnungslosen Bemühen des Menschen, aus beiden Welten Vorteil zu ziehen, wodurch seine höhere Lebenskraft geschwächt wird, begegnet in der Läuterungsperiode der hl. Teresa. Bei ihr erstreckte sich diese Periode des Kampfes zwischen dem Selbst der Tiefe und dem der Oberfläche über eine lange Reihe von Jahren. Gleichzeitig hatte sie Zustände der Erleuchtung und führte ein voll entwickeltes Leben der Kontemplation, und diese Periode wurde erst abgeschlossen durch jene »zweite Bekehrung«, die endlich ihre zerstreuten Interessen vereinigte und sie entschieden und endgültig auf den Weg der Einigung führte. Die fast männliche Stärke ihres Charakters, die sie später im Zustande der Einigung zu so großen Leistungen befähigte, widersetzte sich dem eindringenden übersinnlichen Bewußtsein, ließ sich das Gebiet erst Zoll für Zoll abringen, leistete jeder Forderung des wachsenden geistlichen Selbst Widerstand. Erst ganz allmählich wurde das Feld erobert, die Sphäre ihres tieferen Lebens erweitert, bis der Augenblick kam, wo sie sich ein für allemal ihrem wahren Schicksal ergab Die mystischen Zustände der hl. Teresa sind besonders schwer zu klassifizieren. In einer Hinsicht könnte man diese Kämpfe als Vorstufen einer Bekehrung ansehen. Sie war jedoch, als sie stattfanden, schon in der Kontemplation geübt, und daher glaube ich, daß meine Anordnung die richtige ist..

In den Jahren des inneren Kampfes, der Buße und der zunehmenden Erkenntnis des Unendlichen, die sie in dem Kloster der Inkarnation zubrachte und in denen diese langsame Erneuerung des Charakters stattfand, war das einzige, recht unschuldige Vergnügen, das Teresa sich gestattete, die Unterhaltung mit ihren Freundinnen, die von Avila ins Sprechzimmer des Klosters kamen, um durch das Gitter mit ihr zu sprechen. Ihre Beichtväter, die nicht vertraut waren mit der Natur des mystischen Genies und keine praktische Erfahrung in der Leitung eines solchen hatten, sahen darin nicht etwas mit dem Streben nach einem hohen kontemplativen Leben Unvereinbares. Aber in dem Maße, wie ihr transzendentales Bewußtsein, ihre Gebetszustände an Intensität zunahmen, fühlte Teresa mehr und mehr den störenden Einfluß dieser flüchtigen Blicke in die Außenwelt. Sie entzogen ihr einen Teil der Energie, die ganz und ungeteilt dem neuen, tieferen, wirklicheren Leben gewidmet werden sollte, das sich in ihr regte und das seine hohe Bestimmung nur erreichen konnte, wenn sie sich ganz auf diese Aufgabe konzentrierte. Kein Genie kann es sich leisten, seine Kräfte zu vergeuden, das mystische Genie am allerwenigsten. Teresa erkannte, daß, solange sie sich diese persönlichen Befriedigungen gönnte, ihr Leben mehr als Einen Brennpunkt hatte und sie sich nicht mit ganzem Herzen dem Unendlichen hingeben konnte. Doch obgleich ihre inneren Stimmen, ihre tiefsten Instinkte sie zum Verzicht drängten, fühlte sie sich Jahre lang zu solchem Opfer außerstande. Um die Frage, ob sie dies Opfer bringen sollte oder nicht, wurde die Entscheidungsschlacht ihres Lebens geschlagen.

»Der Teufel«, erzählt ihr großer Lobredner, der Augustinermönch Luis de Leon, in seinem lebendigen Bericht von diesen langen innern Kämpfen, »führte ihr diese sympathischen Menschen zu, und Gott kam und zeigte sich bei dieser Unterhaltung bekümmert und traurig. Der Teufel hatte seine Freude an dieser Kurzweil, allein als sie ihnen den Rücken wandte und sich an ihr Gebet begab, verdoppelte Gott seine Gnadengaben und ihre Wonne, als ob er ihr zeigen wollte, wie falsch die Lockung, die sie am Gitter reizte, und daß seine Freuden die wahren Freuden seien … So daß diese beiden Neigungen in der Brust dieser gesegneten Frau miteinander kämpften, und die, die sie ihr eingaben, taten jeder sein Äußerstes, sie am meisten zu entflammen, und das Betpult löschte das aus, was das Gitter schrieb, und bisweilen siegte das Gitter und verminderte die guten Früchte, die das Gebet getragen hatte, und verursachte Angst und Kummer, die ihre Seele bedrängten und verwirrten; denn obwohl sie entschlossen war, ganz Gott zu gehören, konnte sie doch die Welt nicht abschütteln, und bisweilen redete sie sich ein, sie könne beide genießen, wodurch sie meistens, wie sie sagt, zum Genuß von keinem von beiden kam. Denn die Freuden des Sprechzimmers wurden ihr verbittert und in Wermut verwandelt durch die Erinnerung an das stille, innige Zusammensein mit Gott, und ebenso nahmen, wenn sie zu Gott zurückkehrte, und mit ihm zu sprechen begann, die Neigungen und Gedanken, die sie vom Gitter mit fortnahm, von ihr Besitz Vgl. G. Cunninghame Graham, Santa Teresa I, p. 139.

Man vergleiche mit diesen heftigen Schwankungen zwischen dem mystischen Bewußtsein und dem der Oberfläche – so charakteristisch für die starke Willensnatur Teresas, die erst zur Ruhe kam, nachdem jede Falte ihres Wesens von seelischen Erschütterungen heimgesucht war – die symbolische Handlung der Selbstverleugnung, womit Antoinette Bourignons »inneres Selbst« das Selbst der Oberfläche besiegte und seine Oberhoheit behauptete. Teresa mußte ihre leidenschaftliche Teilnahme am menschlichen Leben aufgeben. Antoinette, die nach dieser Richtung nie sehr in Versuchung kam, mußte ihren letzten Pfennig hingeben. Was geselliger Umgang für Teresas großzügige, tatkräftige Natur bedeutete, das bedeutete die kluge Vorsicht für die von Natur berechnende und enge Antoinette: eine Ablenkung, ein Hemmnis für die Entwicklung des alles fordernden transzendentalen Genies, ein unüberwundener Rest des »niederen Lebens«.

Mancher Mystiker jedoch hat die vollkommene Loslösung mit einem weit weniger radikalen Verzicht auf äußere Dinge vereinbar gefunden, als diese beiden Frauen ihn zu ihrem Frieden brauchten. Es kommt, wie wir schon sagten, nicht auf die Dinge an, die man behält, sondern auf die Wirkung, die sie auf das Selbst üben. »Ein grundloses Elend (gänzliche Abkehr von der Welt) ist,« sagt Tauler, »daß dir vergeßlich sei, ob dir jemand je schuldig oder verbunden sei, gleich wie dir alle Dinge vergeßlich sein werden in dem letzten Hingange deines Todes Tauler, Pred. III, 80 (auf St. Paulus' Tag)..« Armut in diesem Sinne läßt sich vereinen mit einem gewohnheitsmäßigen und mechanischen Gebrauch von Luxus, den das abgelenkte Selbst nicht einmal bemerkt. So wird uns berichtet, daß dem hl. Bernhard von seinen Gegnern Inkonsequenz vorgeworfen wurde, da er evangelische Armut predigte, während er seine Reisen von Ort zu Ort auf einem prächtig ausstaffierten Maultier machte, das die Cluniacenser Mönche ihm geliehen hatten. Er äußerte große Zerknirschtheit, sagte aber, daß er nie darauf geachtet hätte, worauf er ritte Cotter Morison, Life and Times of St. Bernard p. 68..

Bisweilen wird gerade die Tätigkeit, die der eine als hemmend verworfen hat, dem andern ein Mittel geistlicher Erkenntnis. Ich erwähnte das Beispiel des Curé von Ars, der unter andern Verboten, die er sich auferlegte, sich nicht gestatten wollte, an einer Rose zu riechen. In scharfem Gegensatz dazu steht der hl. Franziskus, der den Blumen predigte Thomas von Celano, Legenda Prima Kap. XXIX, § 81. und bei Anlage des Klostergartens ein Plätzchen für Blumenzucht abteilen ließ, »damit alle, die sie sähen, der ewigen Huld und Güte gedenken möchten Legenda Secunda Kap. CXXIV.«. So wird uns auch von seiner geistlichen Tochter, der hl. Douceline, berichtet, daß sie, als sie eines Tages mit ihren Schwestern draußen war, die Stimme eines Vogels hörte. »Welch lieblicher Gesang!« sagte sie, und der Gesang trug sie geradewegs zu Gott empor. Brachte man ihr eine Blume, so hatte ihre Schönheit dieselbe Wirkung Anne Macdonell, St. Douceline p. 30.. Hier werden wir an Platon erinnert. »Die rechte Art zu gehen ist die, daß man die Schönheiten der Erde als Stufen benutzt, auf denen man zu jener andern Schönheit emporsteigt [Frei nach Gastmahl Kap. 29.].« Dies ist auch die wahre Art der Heiligen Armut: der selbstlose Gebrauch, nicht die selbstsüchtige Schmähung liebenswerter natürlicher Dinge.

Wenn man sagt, daß es auf einem so schwierigen Wege zur Vollkommenheit bisweilen Überschreitung der Grenzen gegeben hat, so sagt man damit nur, daß Askese eine menschliche, nicht eine übermenschliche Kunst ist. Solche Überschreitungen finden sich jedoch am häufigsten bei denjenigen Frommen, die es zur wahren mystischen Intuition nicht gebracht haben. Eine solche Intuition, die die Gemeinschaft mit dem tiefsten Leben in sich schließt, gibt denen, die sie besitzen, eine gesunde Klarheit des Geistes, ein seelisches Feingefühl, das sie in der Regel vor solchen Auffassungen der Keuschheit bewahrt, wie sie der jugendliche Heilige hatte, der sich in einem Schrank einschloß, um seine Mutter nicht vorbeigehen zu sehen; vor einer Art Gehorsam, der die Stimme des Beichtvaters mit der Stimme Gottes identifiziert; vor einer Loslösung, wie sie die selige Angela von Foligno zeigte, die, obwohl eine echte Mystikerin, mit mörderischer Freude den Tod der Ihren, die Hemmungen für sie waren, ansah »Zu jener Zeit starb nach Gottes Ratschluß meine Mutter, die mir ein großes Hindernis auf dem Wege zu Gott war. Desgleichen starb mein Mann, und in kurzer Zeit starben auch alle meine Kinder. Und da ich angefangen hatte, den besagten Weg zu gehen und Gott gebeten hatte, mich von ihnen zu befreien, war ihr Tod mir ein großer Trost, obwohl ich um sie trauerte.« (Beatae Angelae de Fulginio, Visionum et Instructionum Liber Cap. 9.). Die Loslösung des Mystikers ist nichts anderes als die Wiederherstellung der ursprünglichen Freiheit seiner Seele, sie ist ein Zustand freudiger Demut, in dem er ausruft: »Nichts bin ich, nichts habe ich, nichts bedarf ich!« Wenn man bis zu diesem Punkt gelangt ist, so ist man der äußeren Täuschung entkommen, ist man aufgenommen in die reinere Atmosphäre jener Welt, die nur Eine Regel des Tuns kennt – die, welche von St. Augustinus ein für allemal aufgestellt wurde, als er in dem denkwürdigsten und am meisten mißdeuteten aller Epigramme sagte: »Liebe und tu, was du willst.«

2. Kasteiung.

Die Kasteiung habe ich als die positive Seite der Reinigung bezeichnet: als die Erneuerung der dauernden Bestandteile der Persönlichkeit im Hinblick auf die Wirklichkeit. Diese Elemente haben bisher den Interessen des alten Selbst gedient, haben in der Sinnenwelt für es gewirkt. Nun müssen sie den Bedürfnissen des neuen Selbst und der übersinnlichen Welt, in der es sich bewegt, angepaßt werden. Ihr Brennpunkt ist das alte Selbst, das niedere Bewußtseinszentrum, und der Zweck der Kasteiung ist, das alte Selbst zu töten, jenes niedere Zentrum zu beseitigen, damit das höhere Zentrum, der »neue Mensch«, leben und atmen kann. Als die hl. Teresa versuchte, die Ansprüche der Freundschaft mit denen der Kontemplation in Einklang zu bringen, erkannte sie, daß eins oder das andere weichen muß: wenn ein Haus mit ihm selbst uneins wird, mag es nicht bestehen. [Mark. 2, 25.] »Was hindert und plagt dich mehr«, sagt Thomas a Kempis, »als die Neigung deines Herzens, die noch ihr volles, ungetötetes Leben hat? … wären wir uns selbst ganz abgestorben, wäre unser Innerstes nicht im geringsten in das geheime Spiel der Neigung verflochten, dann könnten auch wir göttliche Dinge schmecken und etwas von der himmlischen Kontemplation erfahren De Imitatione Christi I, 3,3 u. 11,3.

Psychologisch ausgedrückt bedeutet Kasteiung »neue Bahnen der Nervenentladung eröffnen«. Das will sagen, das mystische Leben muß sich im Handeln ausdrücken, und dazu müssen neue Wege gefunden und neue Gewohnheiten ausgebildet werden, die dem Menschen trotz aller Begeisterung des neuen Selbst »gegen den Strich gehen«. Die Energie, die in jedem lebenden Wesen beständig aufquillt, muß die alte Bahn des geringsten Widerstandes verlassen und sich auf einem neuen und schwierigeren Wege auswirken. Die alten verlassenen Pfade müssen allmählich verschwinden. Wenn sie fort sind und das neue Leben triumphiert hat, ist die Kasteiung zu Ende. Die Mystiker wissen immer, wann dieser Augenblick kommt. Eine innere Stimme mahnt sie dann, mit ihren Bußübungen aufzuhören.

Da nun, je größer und stärker der Mystiker ist, um so stärker und widerspenstiger auch sein Charakter zu sein pflegt, so ist diese Wandlung des Lebens und Überleitung der Kräfte von den alten bequemen Bahnen zu den neuen oft eine stürmische Sache. Es ist eine Periode wirklichen Kampfes zwischen den widerstrebenden Elementen des Selbst, seinen niedern und höhern Antrieben: eine Periode harten, mühseligen Ringens, bittern Leidens und reich an Enttäuschungen. Trotzdem ist der Zweck dieser Abtötungen nicht Tod, sondern Leben: die Erzeugung von Gesundheit und Kraft, die Gesundheit und Kraft des menschlichen Bewußtseins sub specie aeternitatis angesehen. »In dem wahrsten Tode aller geschaffenen Dinge liegt das lieblichste und das natürlichste Leben verborgen Tauler, Pred. III, 81 (auf St. Paulus' Tag).

»Dies Sterben«, sagt Tauler wiederum, »hat manchen Grad, wie auch das Leben. Der Mensch könnte in einem Tage tausend Tode sterben, und dieser Tode ist keiner, dem nicht sogleich ein wonnigliches Leben antwortete. Dies muß notwendig so sein; Gott kann dem Tode das nicht weigern noch widerstehen. Je stärker, kräftiger und gründlicher der Tod ist, um so stärker, kräftiger und gründlicher wird auch das Leben, das dem Tode antwortet; je eigener der Tod, je eigener das Leben. Jegliches Leben bringt dem Menschen Kraft und stärkt ihn zu einem viel stärkeren Sterben. Wenn ein Mensch eines schmählichen Wortes stürbe, indem er das um Gottes willen leidet, oder stürbe auch einer Zuneigung, inwendig oder auswendig zu tun oder zu lassen wider seinen eigenen Willen an sich selbst oder an einem andern, was das sei, in Lieb und Leid, in Worten, in Werken, im Gehen, im Stehen; oder eine Lust in Geschmack oder Gesicht zu lassen, oder sich nicht zu verantworten, wenn man ihm Unrecht erzeigt, oder anderes, was es auch sei, woran man noch ungestorben ist; so tut dies zuerst einem ungewohnten oder ungestorbenen Menschen weher als einem gestorbenen … Dieser Tode mag er einen noch so kleinen mit Ernst sterben, so antwortet ihm ein solches Leben, das ihn stärkt, sogleich einen größeren Tod zu sterben, so lange und so oft, daß es ihm nachmals viel wonniglicher, lustiger und fröhlicher ist zu sterben als zu leben; denn er findet das Leben in dem Tode, und das Licht leuchtet in der Finsternis Tauler, Pred. II, 13 f. (Zweite Predigt auf den Ostertag.)

Ebensowenig wie die Loslösung hat die Kasteiung ihren Zweck in sich selbst. Sie ist ein Mittel, eine bestimmte Art von Leistungsfähigkeit, eine bestimmte Art von Lebenskraft hervorzubringen, wie es auf körperlichem Gebiet die Turnübungen tun. Ist diese Leistungsfähigkeit, diese Lebenskraft einmal erzeugt, diese Ausbildung beendet, so endet die Kasteiung, oft mit überraschender Plötzlichkeit. Nach sechzehnjährigem Martyrium, sagt Seuse von seiner eigenen Erfahrung, indem er wie gewöhnlich in der dritten Person spricht, »da erschien ihm in einem Gesicht am Pfingsttage ein himmlisches Gesinde und verkündigte ihm, daß Gott es nicht länger von ihm haben wollte. Da ließ er davon ab und warf alles (Eisen, Nägel, härenes Hemd usw.) in ein fließendes Wasser Leben, Kap. XV (Bihlmeyer 40, 27-30)..« Von dieser Zeit ab hatten Kasteiungen dieser Art in Seuses Leben ein Ende.

Der unbekannte französische Ekstatiker, der den »Spiegel der einfältigen Seelen« schrieb, und der englische Mystiker, der ihn übersetzte, haben beide in kühner und präziser Sprache die Bedingungen dargelegt und erklärt, unter denen die Seele »den harten Dienst der Tugenden« aufgeben darf, der sie auf dem Wege der Reinigung ganz in Anspruch genommen hat. Die Sprache des französischen Buches ist geradezu und rücksichtslos, wohl danach angetan, ängstliche Frömmigkeit zu entsetzen. »Tugenden, ich sage euch auf immer Lebewohl!« ruft die Seele aus. »Nun wird mein Herz freier und mehr in Ruhe sein, als es bisher gewesen. Ich habe wohl erkannt, daß euer Dienst zu mühselig ist. Diese ganze Zeit habe ich euch ungeteilt mein Herz gegeben, das wißt ihr wohl. Ich war euch in allen Dingen gehorsam. Oh, damals war ich euer Knecht, aber nun bin ich aus eurer Knechtschaft befreit B. M. Add. 37 790.

Dieser höchst überraschenden Äußerung hat der englische Übersetzer eine eigenartige Erläuterung hinzugefügt. »Es drängt mich,« sagt er, »etwas mehr über diese Sache zu sagen: Wenn eine Seele sich auf den Weg zur Vollkommenheit begibt, so müht sie sich zuerst Tag und Nacht, Tugenden zu erlangen, nach der Anweisung der Vernunft, und so sie bemerkt, daß irgendein Gedanke, ein Wort oder eine Tat aus bösen Antrieben entspringt, kämpft sie mit diesen Trieben und spürt immer neue Laster in sich auf, um sie zu vernichten. So erhalten die Tugenden die Herrschaft, und eine jede Tugend ruft sie zum Kampf mit ihrem Gegner, d. h. mit einem Laster auf. Viel Bitternis und Qual des Gewissens fühlt die Seele in diesem Kampf … Aber wie man erst lange auf die bittere Schale der Nuß beißen muß, um zu ihrem süßen Kern zu gelangen, just so ergeht es diesen Seelen, bis sie zum Frieden gelangen. Sie haben so lange mit Lastern gekämpft und es mit Hilfe der Tugenden erreicht, bis zum Kern der Nuß vorzudringen, nämlich zur Liebe Gottes, die Süßigkeit ist. Und wenn die Seele diese Liebe recht gekostet hat … dann ist ihr wunderbar leicht und froh zumute. Dann ist sie Herrin und Gebieterin über die Tugenden, denn dann hat sie sie alle in sich selbst … Und dann nimmt die Seele Abschied von den Tugenden als ihren strengen Herren, in deren Knechtschaft sie sich so lange hat plagen müssen, und ist von nun ab die Herrin und Herrscherin, und sie sind die Untertanen.«

Jacopone da Todi sagt dasselbe:

»Die Schlacht ist nun geschlagen,
Der Tugend Streit beendet,
Des Geistes Kampf vollendet,
Voll Frieden ist die Stunde Lauda 91. (Federmann S. 104.)
»La guerra è terminata
de le virtù battaglia
de la mente travaglia
cosa nulla contende.«

So wurde auch bei der hl. Katharina von Genua nach vierjähriger Bußzeit, in der das Gefühl der Sünde sie beständig verfolgte und zu unaufhörlichen Kasteiungen drängte, »jeder Gedanke an solche Kasteiungen in Einem Augenblick von ihr genommen, dergestalt daß sie, selbst wenn sie mit diesen Kasteiungen hätte fortfahren wollen, gar nicht dazu imstande gewesen wäre … Der Anblick ihrer Sünden war nun von ihr genommen, so daß sie hinfort keine Spur mehr von ihnen sah; es war, als wären sie in die Tiefe des Meeres geworfen Vita Kap. V, 7..« Mit andern Worten, das neue und höhere Bewußtseinszentrum, das sich nunmehr endgültig fixiert hatte, behauptete sich und vernichtete das alte. » La guerra è terminata«, die ganze Kraft einer starken Natur strömt ungehemmt in den neuen Bahnen, und die Kasteiung wird für das zur Einheit gelangte oder »erneuerte« Selbst ohne weiteres unmöglich.

Die Kasteiung oder Abtötung verdankt ihren Namen der immer wiederkehrenden Feststellung asketischer Autoren, daß die Sinne oder der Leib der Begierde mit all den Lüsten, die durch verschiedene Formen der Erscheinungswelt erregt werden, kasteit oder getötet werden muß; was nichts anderes ist als die Feststellung einer psychologischen Notwendigkeit von einem andern Standpunkt aus. Alle selbstsüchtigen Triebe, die so tief eingewurzelt sind, daß sie ganz mechanisch wirken, und die das Selbst zwingen, das bequemere Teil zu wählen, werden von dem wach gewordenen Auge des angehenden Mystikers als grobe Übertretungen des Gesetzes der Liebe erkannt. »Dies also muß das Mühen und Ringen des Mystikers sein, daß er Herz und Sinn von der fleischlichen Liebe und Lust an allen irdischen Kreaturen, von eitlen Gedanken und fleischlichen Vorstellungen und von lasterhafter Selbstliebe abbringe, so daß die Seele keine Ruhe findet oder sucht in irgendwelchen fleischlichen Gedanken oder weltlichen Neigungen Walter Hilton, The Scale of Perfection I, 3..« Die Regel der Armut muß ebenso für alles andere, was zum normalen Bewußtsein gehört, gelten wie für seinen Besitz und seine Neigungen. Unter diesem stärkenden Einfluß wird das wirkliche Leben gedeihen und das unwirkliche verkümmern und sterben.

Dieser Abtötungsprozeß ist nicht darum nötig, weil der rechte Gebrauch der Sinne der göttlichen Wirklichkeit widerstrebt, sondern weil diese Sinne sich einen Platz angemaßt haben, der ihnen nicht zukommt, indem sie sich zum Brennpunkt der Energie gemacht und nach und nach der Lebenskraft des Selbst das Wasser abgegraben haben. »Die Hunde haben das Brot gefressen, das den Kindern bestimmt war [Vgl. Matth. 15, 26 f.]«. Die Sinne sind stärker geworden als ihre Herren, haben das Bewußtseinsfeld für sich allein mit Beschlag belegt, sich zu Herren eines Organismus gemacht, der zu größerem Tun bestimmt war, und jene Schranken des Ichs errichtet, die allesamt beseitigt werden müssen, bevor das Selbst seine Bestimmung erfüllen und in das unbegrenzte Leben des Einen eingehen kann. Wegen dieser falschen Verteilung der Kräfte, dieser emsigen Gefräßigkeit des Kuckucks im Neste, muß der Mystiker, »um dem Absoluten näherzukommen, alles, auch sich selbst, aufgeben Récéjac, Fondements de la Connaissance Mystique p. 78.«. »Es zeugt daher von äußerster Unwissenheit, wenn irgend jemand glaubt, je zu dem hohen Zustande der Vereinigung mit Gott gelangen zu können, ehe er das Verlangen nach natürlichen Dingen ausgetrieben hat«, sagt Johannes vom Kreuz Subida del Monte Carmelo I, 5., »und auch das Verlangen nach übernatürlichen Dingen, insofern es sich um Selbstliebe handelt, weil sie von dem, was im Zustande reiner Vergottung vor sich geht, so weit wie nur möglich entfernt sind.« Und wiederum: »Bis nicht die Begierden durch die Kasteiung der Sinnlichkeit in Schlaf gelullt sind und die Sinnlichkeit selbst in ihnen abgetötet ist, so daß sie dem Geiste nicht mehr widerstrebt, gelangt die Seele nicht zur wahren Freiheit, um die Vereinigung mit dem Geliebten zu genießen Ebenda I, 15.

Der Tod der Selbstheit im engen Sinne ist also der Hauptzweck der Kasteiung. Die vielfachen Auswüchse des Charakters, die dem Dasein dieses unwirklichen, aber komplizierten Gebildes dienen, müssen weggeschnitten werden. Dann werden, wie bei den Bäumen des Waldes, so auch am Menschengeiste neue kräftige Zweige hervorschießen und sich der Luft und dem Licht entgegenstrecken. »Ich lebe, doch nun nicht ich« [sondern Christus lebet in mir. Gal. 2, 20], soll das Bekenntnis des Mystikers sein, der diesen »leiblichen Tod« erlitten hat. Das künftige Selbst wird auf einer Ebene leben, wo seine Vorurteile und Neigungen so uninteressant sind, daß es sie nicht mehr bemerkt. Es muß dieses Kinderspielzeugs entwöhnt werden, und jedes Entwöhnen ist unangenehm. Der Mystiker aber unterwirft sich ihm in der Regel ohne Widerstreben, getrieben von dem lebhaften Bewußtsein seiner Unvollkommenheit und von der intuitiven Erkenntnis, daß er größere Vollkommenheit erreichen muß, um zur Erfüllung seiner Liebe zu gelangen. Oft gleicht der Eifer, mit dem er den Weg der Reinigung betritt und die geistigen und materiellen Werkzeuge der Kasteiung ergreift, »dem heldenhaften Sprung« der soeben Gestorbenen, »ins Fegefeuer«, wenn sie sich im Licht der göttlichen Liebe erblicken, wie es die hl. Katharina von Genua in ihrem Traktat schildert. »So wie sie, in den göttlichen Schmelzofen läuternder Liebe geworfen und mit dem Gegenstand ihrer Liebe vereinigt, zufrieden war mit allem, was er in ihr wirkte, so, erkannte sie, mußte es mit den Seelen im Fegefeuer sein S. Caterina di Genova, Trattato di Purgatorio Kap. I.

Dieser göttliche Schmelzofen läuternder Liebe fordert von der eifrigen Seele nicht nur völlige Selbsthingabe, freiwillige Abkehr von aller Unreinheit und äußerste Demut, sondern auch freiwilliges und aktives Leiden, Selbsterziehung durch furchtbare Übungen. Wie das Läuterungsfeuer das Gold von allen Schlacken reinigt, so »reinigt das Feuer der Liebe die Seele, die ganz von ihren Flammen erfaßt ist, von allen Lastern«. Wo die Loslösung vielleicht ein Entschluß der Klugheit, eine praktische Folge der Erkenntnis des wahren Wertes der Dinge ist, wird die Pein der Kasteiung ergriffen als eine herrliche Gelegenheit, als ein Liebeszeichen, das die erwachte Seele schüchtern dem alles fordernden Geliebten darbietet, von dem die hl. Katharina von Siena die gewaltigen Worte hörte: »Ich, das Feuer, der Opferempfänger, entriß ihnen das Dunkel und gab das Licht Dialogo Kap. 85.«. »Zur Minne gehört nach altem Recht Leiden«, sagt die Ewige Weisheit zu Seuse. »Nun ist kein Werber, der nicht ein Leider sei, und kein Minner, der nicht ein Märtyrer sei. Darum ist es nicht unbillig, wenn dem, der so hohe Minne pflegt, zuweilen Widerwärtiges begegnet Leben Kap. III (Bihlmeyer 13, 15-18).

Diese Mystiker haben die tiefe Überzeugung, daß Schöpfung, Werden, Transzendenz, im besten Falle ein schmerzvoller Vorgang ist. Diejenigen unter ihnen, welche Christen sind, weisen auf das Leiden Christi hin als auf einen Beweis, daß der kosmische Aufstieg zur Vollkommenheit, der Pfad der ewigen Weisheit, mit Notwendigkeit den Weg des Kreuzes geht. Jenes alte furchtbare Gesetz des innern Lebens, das so phantastisch klingt und doch so bitter wahr ist: »kein Fortschritt ohne Schmerz« bewahrheitet sich hier. Es erklärt, daß in der geistigen so gut wie in der materiellen Welt Geburtswehen ertragen werden müssen, daß zweckgemäße Schulung dem Athleten immer Schmerz bereitet. Daher treibt das Streben nach dem Absoluten die Mystiker ebensosehr zu einer eifrigen, heldenhaften Vereinigung mit der Wirklichkeit des Leidens wie mit der Wirklichkeit der Freude »Diese Wahrheit, von der sie ein lebendiges Beispiel war«, sagt Huysmans von der hl. Lydwine, »hat immer gegolten und wird für jede Zeit gelten. Seit dem Tode Lydwinens hat es keinen Heiligen gegeben, der sie nicht bestätigt hätte. Man höre, wie sie ihr Verlangen ausdrücken. »Immer leiden und dann sterben!« ruft die hl. Teresa. »Immer leiden, ohne doch zu sterben!« verbessert die hl. Magdalena dei Pazzi. »Mehr, o Herr, noch mehr!« ruft der hl. Franz Xavier in der Angst des Sterbens an der chinesischen Küste aus. »Ich möchte vom Leiden zerbrochen werden, um Gott meine Liebe zu beweisen«, erklärt eine Karmeliternonne des 17. Jahrhunderts, die ehrwürdige Maria von der Trinität. »Das Verlangen nach Leiden ist an sich selbst schon eine Marter«, fügt eine große Dienerin Gottes in unserer Zeit, Mutter Maria du Bourg, hinzu, und sie bekannte ihren geistlichen Töchtern, daß sie, »wenn Schmerz auf dem Markte zu kaufen wäre, hineilen würde, um ihn dort zu kaufen« (J. K. Huysmans, Sainte Lydwine de Schiedam [3. Aufl.] p. 225)..

Diese göttliche Notwendigkeit des Schmerzes, dies notwendige Teilhaben an den Wehen einer Welt des Werdens wird von Tauler wunderbar geschildert in einer seiner »innern Zwiesprachen« zwischen der kontemplativen Seele und ihrem Gott, die in den Werken der Mystiker so häufig vorkommen und allen Lesern der »Nachfolge Christi« vertraut sind. »Einst saß ein Mann in tiefen Gedanken und betrachtete, wie Gott einen Menschen auf so freundliche und holdselige Weise, den andern aber nicht anders als durch schwere Strafen und Pein zu sich ziehe. Dem antwortete der Herr: ›Was dünket dich edler und lieblicher zu sein als das, was mir am ähnlichsten ist? Nun ist mir aber nichts ähnlicher als allerlei Kreuz, Leiden und Trübsal. Denn wer hat doch jemals größeres Kreuz ausgestanden, denn eben ich? Und wo sollte ich wohl herrlicher und eigentlicher wirken können als in denen, die mir am ähnlichsten sind? Solche sind aber diejenigen, welche in Kümmernis und Trübseligkeit leben. Es hat auch meine göttliche Natur nichts so herrlich in der menschlichen Natur gewirket als Kreuz und Leiden. Je schwerer aber das Kreuz, desto größer ist die Liebe. Ich kann aber doch, durch Liebe und Gerechtigkeit bewogen, keinem Menschen mehr auflegen, als er ertragen kann, dessen Vermögen mir am besten bekannt ist. Wer deswegen mit der unverwelklichen Krone vor meinem himmlischen Vater dereinst grünen und prangen will, der muß zuvor ritterlich und mannhaft unter dem Kreuze darum kämpfen, und wer in das grundlose Meer meiner ewigen Gottheit versenkt zu werden begehrt, der muß auch zuvor in das tiefe Meer der herben und bitteren Anfechtungen tief genug eingetaucht werden. Ich schwimme vor allen andern empor und tue wunderbare und übernatürliche Werke in mir selbst: je übernatürlicher und tiefer sich aber ein Mensch unter alles herablassen wird, desto übernatürlicher wird er über alles gezogen und erhoben werden.‹« Tauler, Pred. III, 81 (auf St. Paulus' Tag).

Daher werben die Mystiker oft um den Schmerz, bisweilen in der grobphysischen Form, die Seuse im fünfzehnten Kapitel seiner Lebensgeschichte so lebendig und grauenvoll beschreibt, häufiger noch in der verfeinerten Form der Marter, zu der einer sensitiven Seele Einsamkeit, Ungerechtigkeit, Verständnislosigkeit, und vor allem die freiwillige Berührung mit den Widerwärtigkeiten des Lebens werden kann.

Wenn man die verschiedenen Zeugnisse zusammenstellt, bemerkt man, daß der Mystiker von Natur äußerst sensibel ist. Sein leidenschaftliches Gefühl für geistige Schönheit, seine intuitive Wahrnehmung der göttlichen Harmonie hat als Kehrseite eine instinktive Abneigung gegen alles Häßliche, ein Zurückscheuen vor Schmutz und Krankheit. Oft geht sein Ideal von Verfeinerung weit über den bei seinen Zeitgenossen üblichen Maßstab des Schicklichen hinaus, ein Umstand, der allein genügt, um ihn oft genug sich recht unglücklich fühlen zu lassen. Diese außerordentliche Empfindlichkeit, die ebenso zur normalen psycho-physischen Ausrüstung des Mystikers zu gehören scheint wie zu dem gleich hoch gespannten Naturell des Künstlers, ist eins der ersten Werkzeuge der Selbstdisziplin, nach dem das erwachte Selbst greifen muß. Dann muß zu dem Grundsatz der Demut: »Nichts ist der Liebe zu gering« die weniger schmackhafte Ergänzung kommen: »Nichts sei ihr zu ekelhaft«.

Dafür zeigen sich sofort zwei Gründe. Der eine ist die angeborene Verachtung für die Dinge der Erscheinungswelt, sowohl für die angenehmen als für die unangenehmen, die Sehnsucht, von allen Fesseln der Sinne frei zu sein, die mit der Leidenschaft für unsichtbare Dinge zusammengeht. Wer in den Reizen der Erde nur Täuschungen sieht, ist inkonsequent, wenn er den abstoßenden und schmutzigen Dingen des Lebens größere Wirklichkeit zuschreibt. Franz von Assisi führt seine eigenen Grundsätze nur folgerichtig zu Ende durch, wenn er behauptet, daß der geringste Wurm so gut sein Bruder sei wie der Vogel. Wirkliche Loslösung bedeutet die Aufgabe jeglicher Art von Vorliebe, selbst solcher, die andern ein Zeugnis von Tugend und Geschmack ist.

Der zweite Grund ist noch edlerer Art. Er hängt zusammen mit dem Grundsatz der Selbsthingabe, der die Haupttriebfeder des mystischen Lebens ist. Für den kontemplativen Geist, der sich der Einheit in der Mannigfaltigkeit – Gottes in der Welt – tief bewußt ist, ist jedes selbstlose Dienen ein Dienst des Absoluten, den er liebt, und je schwerer dies Dienen ist, je mehr es seinen selbstischen und ästhetischen Instinkten widerstrebt, je mehr nähert er sich seinem Ideal. Das Ziel, wonach er strebt – obwohl nicht immer bewußt –, ist da, wo alle Disharmonie, alle scheinbare Häßlichkeit, in die konkrete Wirklichkeit, die er die Liebe Gottes nennt, aufgelöst ist. Dann – so empfindet er dunkel – wird alles in Gestalt einer kosmischen, gnadenvollen Schönheit sich zeigen, und unter der Hülle der Verderbnis wird die Wahrheit ewigen Lebens hervorleuchten.

Es wird von dem hl. Franz von Assisi, bei dem die Liebe zum Schönen ein Hauptwesenszug war, berichtet, wie er sich dazu zwang, die Aussätzigen, vor deren Anblick und Geruch ihm ekelte, zu besuchen, wie er ihnen diente und sie sogar küßte Thomas von Celano, Legenda Prima Kap. VII, § 17; 3 Soc. Kap. IV.. Nun wandelte sich das, was ihm vorher bitter gewesen war, nämlich der Anblick und die Berührung der Aussätzigen, in wahre Süßigkeit für ihn. Denn der Anblick von Aussätzigen war, wie er selbst bekannte, ihm vorher so zuwider gewesen, daß er sich nicht einmal in die Nähe des Ortes gewagt hatte, wo sie sich aufhielten. Und wenn er einmal zufällig da vorbeikam oder sie erblickte, so wandte er sein Antlitz zur Seite und hielt sich die Nase zu, obschon er großes Mitleid mit ihnen empfand und ihnen durch einen andern Almosen geben ließ. Aber durch Gottes Gnade wurde er den Aussätzigen ein so vertrauter Freund, daß er, wie er in seinem Testament erwähnt, oft bei ihnen weilte und ihnen demütig diente.

Ebenso gewöhnte er, der einst als ein vom Glück begünstigter Jüngling in seines Vaters Hause ein verwöhnter Feinschmecker gewesen war, nachdem er allen irdischen Gütern entsagt hatte, sich daran, mit dem Bettelnapf von Tür zu Tür zu gehen, und auch hier wurde ihm das, wovor ihn früher geekelt hatte, süß. »Und wenn er das Gemisch von Speiseresten essen wollte,« erzählt die Legende, »da scheute er zuerst davor zurück, denn er hatte sonst nie dergleichen Abfälle ansehen, geschweige denn essen mögen. Doch endlich überwand er sich und begann zu essen, und da schien es ihm, als hätte der feinste Honig ihm nie so köstlich geschmeckt 3 Soc. Kap. VII.

Das Ziel dieser Selbstzucht ist also wie das Ziel jeder Läuterung Freiheit: Freiheit von den Fesseln der Sinne, den »Hemmungen der Begierde«, von den Folgen der Umgebung und der weltlichen Erziehung, von Stolz und Vorurteilen, Neigungen und Abneigungen, von Selbstigkeit in jeder Form. Ihre Wirkung ist ein starker Rückschlag nach Seite der Freude der Selbsteroberung, der Gewinnung des wahren Selbst. Ebendieselbe Handlung, die in dem gefesselten Selbst sonst eine Regung von Widerwillen hervorrief, wird ihm jetzt nicht nur gleichgültig, sondern eine Quelle des Glücks. So war Margery Kempe »sehr betrübt und traurig, wenn sie einen Aussätzigen, den sie auf dem Wege traf, nicht aus Liebe zu Gott küssen konnte, was ihr in den Jahren der Jugend und des Glücks gegen die Natur ging, denn damals hatte sie großen Abscheu vor ihnen A Short Treatise of Contemplation taken out of the boke of Margery Kempe ancresse of Lynne. London 1521. Neu herausgegeben von E. Gardner in The Cell of Self-Knowledge, 1910, S. 49.«.

Ich will den empfindlichen Leser mit einer ausführlichen Schilderung der ekelhaften Proben verschonen, wodurch die hl. Katharina von Genua und Madame Guyon sich von allem Ekel zu heilen Die Neugierigen verweise ich auf die authentischen Quellen. Für die hl. Katharina Vita e Dottrina Kap. VIII, für Madame Guyon Vie I, 10. und diese Freiheit des Geistes zu erlangen suchten. Sie suchten, wie der hl. Franziskus, die hl. Elisabeth von Ungarn und zahllose andere Wirklichkeitssucher, die Kranken und Unreinen auf und dienten ihnen mit Demut und Liebe, scheuten nichts, um sich dem Leben in seiner niedrigsten Form zuzugesellen, zwangen sich zur Berührung der ekelhaftesten Dinge und versuchten, das Oberflächenbewußtsein zu unterdrücken durch das herkömmliche asketische Mittel: allen, selbst den natürlichsten und harmlosesten Neigungen konsequent entgegenzuhandeln. »In den ersten vier Jahren, nachdem sie die süße Wunde von ihrem Herrn erhalten hatte,« heißt es im Leben der hl. Katharina von Genua, »legte sie sich schwere Kasteiungen auf, so daß alle ihre Sinne abgetötet wurden. Sobald sie bemerkte, daß ihre Natur nach irgend etwas verlangte, versagte sie es ihr und gab ihr alles das, was sie verabscheute. Sie trug ein rauhes, härenes Gewand, aß kein Fleisch noch irgend etwas, was sie gern mochte, aß keine Früchte, weder frische noch getrocknete … und suchte immer das zu tun, was ihrem Willen entgegen war, so daß sie immer geneigt war, eher dem Willen anderer zu folgen als ihrem eigenen.« … Während sie so alle ihre Sinne auf jede Weise kasteite, wurde sie mehrmals gefragt: »Warum tust du dies?« Und sie antwortete: »Ich weiß nicht, aber ich fühle einen inneren Drang dazu … und ich glaube, daß es Gottes Wille ist Vita Kap. V, 1, 5, 7.

Ignaz von Loyola, der in seinem weltlichen Leben einst ein vornehmer spanischer Edelmann mit verfeinerten Gewohnheiten gewesen war, fand in diesen Gewohnheiten eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Kasteiung. »Da er früher viel Sorgfalt darauf verwandt hatte, sein Haar nach der Sitte der Zeit zu pflegen – und er hatte einen schönen Haarwuchs –, so entschloß er sich, es nunmehr so wachsen zu lassen, wie es von selbst wuchs, ohne es zu kämmen oder zu schneiden, und trug Tag und Nacht keine Kopfbedeckung. Aus demselben Grunde ließ er auch die Nägel an Händen und Füßen wachsen; denn auch in dieser Hinsicht war er früher zu sorgfältig gewesen Lebenserinnerungen 19 (Feder S. 37).

Madame Guyon, die als verwöhnte Tochter der wohlhabenden Klasse im Luxus ihres Standes erzogen war, fühlte sich in ihrem Streben nach »Gleichmut« zu den primitivsten und krassesten Formen der Kasteiung getrieben. Aber zweifellos infolge ihrer besondern seelischen Veranlagung, die sich später in der Form von Automatismus und Hellseherei äußerte, erzeugte diese intensive Konzentration auf das übersinnliche Leben bei ihr eine teilweise Gefühllosigkeit. »Obwohl ich einen sehr zarten Körper hatte, zerrissen die Marterwerkzeuge mir das Fleisch, ohne daß ich irgendwelchen Schmerz spürte. Ich trug Gürtel von Haar und scharfem Eisen, oft hielt ich Wermut im Munde. Beim Gehen tat ich Steine in meine Schuhe. Diese Dinge gabst du, mein Gott, mir zuerst ein, damit ich auch der unschuldigsten Freuden beraubt würde Vie I, 10.

Ihr wachsendes mystisches Bewußtsein bekämpfte ihr zartes und verwöhntes Oberflächen-Selbst immer energischer. Die Impulse aus der Tiefe, die ihren Neigungen so ganz entgegen waren, drängten sich ihr mit einer Macht auf, daß sie in ihnen göttliche Befehle zu vernehmen glaubte. »Du warst beständig bei mir, o mein Gott! und du warst ein so strenger Zuchtmeister, daß du mich nicht über die kleinsten Dinge hinweggehen ließest. Wenn ich irgend etwas tun wollte, so hindertest du mich plötzlich und zwangst mich, daß ich, ohne zu denken, alles tat, was du begehrtest, und alles, was meinen Sinnen am meisten zuwider war, bis sie so gefügig geworden waren, daß sie kein Verlangen und keinen Abscheu mehr kannten … Ich tat nichts aus mir selber, sondern ich ließ mich von meinem Könige führen, der in allen Dingen unumschränkt über mich herrscht Ebenda.

Dieses Übergewicht des »innern Menschen«, des transzendentalen Bewußtseins über das zerfahrene normale Ich, das sich mit den vielfachen Täuschungen des täglichen Lebens abgibt, zu gewinnen, ist, wie wir gesehen haben, der Hauptzweck der Reinigung. Es ist daher fast unmöglich, daß irgendein Mystiker, welcher Religion, welchem Volk oder Typ er auch angehöre, von diesen Kämpfen verschont bliebe, denn keiner ist am Anfang der Bahn in einer solchen Lage, daß er ihrer Hilfe nicht bedürfte. Neuplatoniker und Mohammedaner kennen den Weg der Reinigung ebensogut wie die christlichen Asketen. Sie alle wissen um das erste Geheimnis der geistlichen Alchimisten, daß man den grünen Leuen zähmen muß, bevor man ihm Flügel gibt. So kommt auch in Attars Allegorie von den Tälern zuerst das Tal der Selbstentäußerung und Entsagung. So berichtet auch der persische Mystiker Al Ghazali, den ich schon erwähnte, über die Zeit, die seinem Bekenntnis zu den Grundsätzen der Sufis und dem daraus sich ergebenden Verzicht auf Eigentum unmittelbar folgte: »Dann reiste ich nach Syrien und blieb dort ungefähr zwei Jahre, indem ich ganz in Zurückgezogenheit und Einsamkeit und asketischen Übungen lebte und auf Läuterung meiner Seele, Vervollkommnung meines Charakters und Reinigung des Herzens bedacht war, um nur an Gott zu denken.« Am Ende dieser Zeit, die ganz seiner Läuterung gewidmet war, wurde er durch die Umstände gezwungen, in die Welt zurückzukehren, zu seinem großen Kummer, da er »noch nicht den vollkommenen ekstatischen Zustand erreicht hatte, außer in wenigen Augenblicken Schmölders p. 59; Meynard p. 60.«.

Solche sporadischen flüchtigen Schimmer ekstatischer Vision in den vorgeschrittenen Stadien der Reinigung scheinen zu den normalen Erscheinungen der mystischen Entwicklung zu gehören. Die zunehmende Einschränkung der niederen Bewußtseinszentren, der Oberflächen-Intelligenz und ihrer mannigfachen Begierden, schafft Raum für das Auftreten übersinnlicher Wahrnehmungen. Wir haben gesehen, daß sich bei Fox in seinen ersten Stadien eben solch ein Wechsel von Licht und Schatten auf dem mystischen Wege zeigte S. oben S. 234 f.. Auch bei dem am wenigsten asketischen aller Seher, Jakob Boehme, war es so. »Nachdem ich aber in mir einen gewaltigen Gegensatz befinde, als den Trieb in Fleisch und Blut … so hab' ich mich dermaleins also hart im Streit wider … meine eigene verderbte Natur gesetzet, wiewohl durch Gottes Beistand, daß ich vermeinte, denselben angebornen bösen Willen und Neiglichkeit zu überwinden und zu brechen, und mich der Liebe Gottes in Christo einzueignen. – – – Auch nahm ich mir für, nichts zu wollen, ohne was ich in seinem Licht und Willen erkennete: Er sollte mein Wille und Tun sein. Welches zwar mir nicht möglich war, und dennoch in einem ernsten Fürsatze stund und im gar ernsten Streit und Kampf wider mich selber. – – – Rang also in Gottes Beistand eine ziemliche Weile und Zeit ums Ritterkränzlein, welches ich hernach … mit sehr großen Freuden erlangete, da meiner Seele ein wunderlich Licht aufging, das der wilden Natur fremd war. Darin erkannte ich erst, was Gott und Mensch wären, und was Gott mit dem Menschen zu tun hätte, welches ich zuvor nie verstund, und auf solche Weise nie suchte Erste Schutz-Schrift wider Balthasar Tilken 21, 23, 25 f. (Werke VII, 6).

Mit diesen Worten überbrückt Boehme die Kluft zwischen Reinigung und Erleuchtung, indem er zeigt, wie diese beiden Zustände oder Wege nebeneinander hergehen und sich gegenseitig ergänzen, und wie sie gleichsam die helle und die dunkle Seite des sich entwickelnden mystischen Bewußtseins sind. Tatsächlich gehen sie im Erleben des einzelnen häufig zusammen Man vergleiche das schon angeführte Beispiel von der hl. Teresa (oben S. 281)., und wenn man sie als vollständig und scharf von einander getrennt darstellt, so mag dies Verfahren für Forschungszwecke wohl bequem sein, aber als Darstellung des mystischen Lebens hat es höchstens den Wert eines Diagramms. Das mystische Temperament gehört, wie wir gesehen haben, vom psychologischen Standpunkte aus zu dem leicht beweglichen oder labilen Typus, zu dem auch das Künstlertemperament gehört. Es schwankt in seinem tastenden Suchen nach übersinnlicher Wirklichkeit leicht zwischen den Extremen von Freude und Schmerz. Oft erreicht es für einen Augenblick Höhen, auf denen es sich nicht halten kann, oft wird es von einer solchen ekstatischen Schau des Vollkommenen in die Tiefe der Zerknirschung und Verzweiflung herabgeschleudert.

Die Mystiker haben ein anschauliches Bild für diesen wechselnden Zustand, der sozusagen der charakteristische Übergang von den bittern Kämpfen der Reinigung zum Frieden und Glanz der Erleuchtung ist. Sie nennen ihn Ludus Amoris, das »Liebesspiel«, das Gott mit der verlangenden Seele spielt. Es ist »das Schachspiel«, sagt die hl. Teresa, »worin die Demut die Königin ist, ohne die niemand den göttlichen König matt setzen kann Camino de Perfeccion Kap. 17..« »Hier spielt Gott mit der Seele ein beglückendes Spiel«, sagt Martensen Martensen, Meister Eckhart S. 75..« Das »Liebesspiel« gehört entschieden zu dem Zustande der Unvollkommenheit, des Kämpfens und Schwankens und der Unrast, der der ersten Einswerdung des Selbst vorhergeht. Hat diese einmal stattgefunden und ist die neue Ebene der Wirklichkeit erreicht, so ist jenes Spiel zu Ende. So ward der hl. Katharina von Siena, der gottbegnadeten Psychologin, in der Ekstase gesagt: »Mit den Seelen, die zur Vollkommenheit gelangt sind, spiele ich das Liebesspiel des Gehens und Wiederkehrens nicht mehr; welches das Spiel der Liebe heißt, denn aus Liebe trenne ich mich, und aus Liebe kehre ich zurück, doch nicht eigentlich Ich, der unwandelbare Gott, der sich nicht bewegt, sondern das Gefühl, das meine barmherzige Liebe in der Seele erweckt, ist es, das geht und wiederkehrt Dialogo Kap. 78..« Mit andern Worten, es ist diese unvollkommen entwickelte geistige Wahrnehmung, die ermüdet und versagt und das Selbst in das Dunkel und die Leere zurückwirft, von wo es aufgestiegen ist.

So hatte Madame Guyon während der ganzen Zeit der Erleuchtung wiederholt Perioden der »Trockenheit« – dies ist der Fachausdruck für solche seelische Müdigkeit. So hören wir von Rulman Merswin Jundt, Rulman Merswin p. 19 f. [Vgl. Carl Schmidt S. 62.], daß nach der Periode harter körperlicher Kasteiung, die auf seine Bekehrung folgte, ein Jahr kam, wo »rasende Freude mit bittersten physischen und seelischen Leiden abwechselten«. »Es ist das Liebesspiel,« sagt er, »das der Herr mit seinem armen, unwürdigen Geschöpf spielte.« Erinnerungen an alle seine alten Sünden trieben ihn immer wieder zu übertriebenen Büßungen, »krankhafte Versuchungen brachten mich so herunter, daß ich fürchtete, den Verstand zu verlieren«. Diese seelischen Stürme wirkten auf seinen physischen Organismus. Er hatte einen Schlaganfall, verlor den Gebrauch seiner unteren Gliedmaßen und glaubte sich dem Tode nahe. Als es jedoch am schlimmsten mit ihm stand, und alle Hoffnung zu Ende schien, gebot ihm eine innere Stimme, sich vom Bett zu erheben. Er gehorchte und fand sich geheilt. In dieser ganzen Zeit traten häufig Ekstasen ein. In solchen Augenblicken der Verzücktheit fühlte er seinen Geist von einem neuen Lichte durchstrahlt, so daß er intuitiv die Richtung wußte, die sein Leben nehmen mußte, und die Notwendigkeit und Heilsamkeit seiner Prüfungen erkannte. »Gott zeigte sich abwechselnd strenge und milde; auf jeden Anfall von Verzweiflung folgte die Verzückung der übernatürlichen Gnade.« In dieser wechselnden Art, von diesen beständigen Schwankungen hin- und hergerissen, machte Merswin, dem die seelische Labilität des künstlerischen und des mystischen Typus in höchstem Maße eigen war, die Zustände der Reinigung und der Erleuchtung durch. Sie scheinen in seinem Bewußtsein gleichzeitig nebeneinander hergegangen zu sein, indem erst der eine und dann der andere hervortrat und zur Herrschaft kam. Daher gelangte er nicht zu dem Zustande völliger Seelenruhe, der für die vollständige Erleuchtung charakteristisch ist und normalerweise »das erste mystische Leben« abschließt. Er gelangte von diesen heftigen Schwankungen zwischen mystischer Freude und mystischem Schmerz unmittelbar zu dem Zustande, den er »die Schule der leidenden Liebe« nennt. Diese entspricht, wie wir sehen werden, wenn wir zu ihrer näheren Betrachtung kommen, genau dem, was andere Mystiker »die dunkle Nacht der Seele« nennen, und mit ihr beginnt »das zweite mystische Leben« oder die Via Unitiva.

Ein solch lange andauerndes Nebeneinander von schmerzvollen und freudevollen Zuständen in der sich entwickelnden Seele, bis sie endlich ihr Gleichgewicht findet, ist durchaus nicht selten und darf bei keinem Versuch, den mystischen Typus zu analysieren, außer acht gelassen werden. Obgleich es für die Forschung zweckmäßig ist, eine gewisse Scheidung vorzunehmen und das, was im Leben unentwirrbar verschlungen ist, als getrennte Dinge zu behandeln, so dürfen wir doch keinen Augenblick vergessen, daß solch ein Verfahren künstlich ist. Der Kampf des Selbst, um sich von der Täuschung loszumachen und das Absolute zu erreichen, ist ein Kampf des Lebens. Daher wird und muß er immer etwas von der Freiheit und Ursprünglichkeit des Lebens haben und wird vielmehr künstlerischen als wirtschaftlichen Gesetzen folgen. Er wird bald nach der Licht-, bald nach der Schattenseite des Erlebens hinneigen, und diese Schwankungen werden bisweilen groß, bisweilen klein sein. Temperament und Umgebung, Inspiration und Belehrung, alles wird dabei mitwirken.

Es gibt in diesem Kampf drei Faktoren.

1. Das unwandelbare Licht der ewigen Wirklichkeit, das reine Sein, »das ewig leuchtet und das nichts trüben kann«.

2. Das mehr oder weniger dichte Gewebe von Täuschung, das das sinnliche Selbst umstrickt, verwirrt und verlockt.

3. Das Selbst, das, sich beständig wandelnd, bewegend, mühend, – kurz, beständig werdend, – in allen Fasern lebendig, zugleich der Unwirklichkeit und der Wirklichkeit angehört.

In dem sich stets verschiebenden Verhältnis zwischen diesen drei Faktoren, der dadurch erzeugten Energie und der geleisteten Arbeit, finden wir vielleicht die Ursache der unzähligen Arten von Anspannung und Qual, die man in ihrer objektiven Form den Weg der Reinigung nennt. Nur einer von den drei Faktoren bleibt sich immer gleich: das Absolute, nach dem die Seele strebt. Wenn auch alles andere im Flusse ist, dies Ziel steht fest. Diese alte und doch ewig neue Schönheit, »an der keine Wandelbarkeit, nicht der Schatten eines Wechsels ist«, das einzig Eine Plotins, das All Eckeharts und St. Johanns vom Kreuz, die ewige Weisheit Seuses, der Ungelotete Abgrund Ruysbroecks, die reine Liebe der hl. Katharina von Genua – wartet gestern, heute und immerdar, daß sein Geschöpf die Augen öffne.

Im Augenblick der Bekehrung öffneten sich diese Augen für einen kurzen Moment, erhielten gleichsam einen blendenden unvergeßlichen Schimmer des Unerschaffenen Lichtes. Sie müssen lernen, offen zu bleiben, der Liebe fest ins Auge zu sehen, so daß, wie es in der schönen Bildersprache der Mystiker heißt, der »treue Diener« zum »heimlichen Freund« wird Vgl. De Contemplatione III von Dionysius dem Kartäuser. Das Bild ist alt und kommt bei vielen Kirchenvätern und mittelalterlichen Schriftstellern vor.. Dann geschieht es, sagt Boehme, daß »allda dann der göttliche Freudenanblick in der Seele aufgehet, als ein neues Auge, darinnen die feurige Seele des göttlichen Lichtes Ens und Wesen in sich empfähet Der 46. Sendbrief § 36 (Werke VII, 505).«. Eine so schwere Kunst läßt sich nicht mit einem Schlage erwerben. Im Gegenteil, es stimmt mehr zu allem, was wir über die Bedingungen des Wachstums wissen, daß der vollkommenen Entwicklung eine teilweise vorangeht, verwirrende Augenblicke von Helligkeit, flüchtige Schimmer, weil das neue, noch ungeübte »Auge, das in die Ewigkeit sieht«, noch schwach und die Kraft des »Auges, das in die Zeit sieht«, noch ungebrochen ist. Daher das Spiel von Licht und Dunkel, Verzücktheit und Zerknirschung, das die Kluft zwischen dem Zustande der Reinigung und dem der Erleuchtung überbrückt. Beide Zustände behaupten abwechselnd das Feld und verdrängen einander; denn »die beiden Augen der Seele können nicht zugleich miteinander ihre Arbeit tun Theologia Deutsch Kap. VII.«.

Um ein anderes, vertrauteres Bild zu gebrauchen: das göttliche Kind, das in der Stunde der mystischen Bekehrung im Seelenfunken geboren wurde, muß, wie andere Kinder, lernen, allein zu gehen. Jede Bemühung, aufrecht zu stehen, hat zuerst ein herrliches Gefühl zunehmender Kraft und dann einen Fall zur Folge; jeder Fall ist nur der Anlaß zu einem neuen Versuch, das schwierige Gleichgewicht zu erlangen, das erst kommt, wenn das erste Stadium der Kindheit vorüber ist. Es gibt erst viele eifrige Versuche, viele Hoffnungen, viele Enttäuschungen. Endlich und, wie es scheint, ganz plötzlich, kommt der Augenblick: das Schwanken ist vorbei, die Muskeln haben ihre Aufgabe gelernt, sie stellen sich automatisch auf ihren Dienst ein, und das neue Selbst bemerkt plötzlich, daß es aufrecht und sicher steht, es weiß nicht wie. Dies ist der Augenblick, der die wirkliche Grenze bildet zwischen dem Zustande der Reinigung und dem der Erleuchtung.

Diese Entwicklung des »neuen« oder geistlichen Menschen, von seinem ersten Erwachen bis zu seiner Erleuchtung, wird von Jakob Boehme auf sehr poetische und zugleich klare Weise geschildert. »Wann sich der Eckstein Christus (d. h. das göttliche Prinzip, das im Menschen verborgen ist) in dem verblichenen Bilde des Menschen, in seiner herzlichen Bekehrung und Buße, beweget, so erscheint Jungfrau Sophia in der Bewegung des Geistes Christi in dem verblichenen Bilde vor der Seele in ihrem jungfräulichen Schmucke, vor welcher sich die Seele in ihrer Unreinigkeit entsetzet, daß alle ihre Sünden erst in ihr aufwachen und vor ihr erschrecken und zittern. Denn allda geht das Gericht über die Sünde der Seele an, daß sie auch wohl in ihrer Unwürdigkeit zurückweicht und sich vor ihrem schönen Buhlen schämt, in sich gehet und sich vernichtet, als ganz unwürdig, ein solches Kleinod zu empfahen. Den Unsern verstanden, so dieses Kleinod geschmeckt haben, und sonst niemand wissend.

Aber die edle Sophia naht sich in der Seelenessenz und küsset sie freundlich und tingieret mit ihren Liebesstrahlen das finstre Feuer der Seele und durchscheinet die Seele mit ihrem Liebeskusse. So springet die Seele in ihrem Leibe vor großen Freuden in Kraft der jungfräulichen Liebe auf, triumphieret und lobet den großen Gott, kraft der edeln Sophia.

Dessen ich allhie eine kurze Andeutung stellen will, wie es zugehe, wann die Braut den Bräutigam herzet. Dem Leser, der vielleicht noch nicht an dem Orte gewesen sein möchte, da die Braut den Bräutigam herzet, zum Nachdenken, ob er lüsterte, uns nachzufahren und auch an den Reigen zu treten, da man mit Sophia spielet Jakob Boehme, Von wahrer Buße 45 (Werke I, 25).


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